Die Idee der Les
singtage – Zwischenb
ilanz nach fünf Jahren

Der Titel „Lessingtage“ klingt zunächst old-fashioned, schul- und studienratsverseucht. Hippness geht anders. Auch stellt sich die Frage, ob sich Festival und Stadttheater nicht völlig widersprechen. Die Stadttheater erhalten ihre Zuwendungen  für den Repertoirebetrieb und nicht fürs Festivalmachen.  So ist nicht weiter verwunderlich, daß es - jenseits der vielerorts beliebten Autorentheatertage oder Werkstattreihen -  kein einziges Stadt- oder Staatstheater gibt, das sich zusätzlich zum alltäglichen Betrieb noch ein Festival, ja sogar ein Themenfestival, leistet. Das ist, wie die Politik zu sagen pflegt, ein „Alleinstellungsmerkmal“ des Thalia.

Das Stadttheater in der Gesellschaft der Zukunft

Um zu erläutern, wie und warum ich auf die Idee der Lessingtage verfiel, muß ich ein wenig ausholen, und einige Sätze über das Prinzip „Stadttheater“ und über notwendige Veränderungen des Theaters in der Zukunft verlieren. Als ich im Jahr 2007 in Wien meine Hamburger Zukunft als Intendant des Thalia Theaters vorbereitet habe, hatte ich einige Bauch- und Hirnschmerzen. Es ging um den Wechsel von einer bildungsbürgerlichen, katholisch-durchtränkten Gesellschaft, für die das Theater immer noch ein repräsentativer Resonanzraum ist,  wo man mit dem sprichwörtlichen Taxifahrer über Schnitzler oder Nestroy reden kann, in eine protestantisch geprägte Gesellschaft, die sich weniger um Kunst und Kultur als  wirtschaftlichen Nutzen und Effizienz sorgt. Überdies nehmen das Bewußtsein und die Wertschätzung für die jeweiligen Kultur-Traditionen bekanntermaßen nicht nur geographisch von Süden nach Norden stetig ab, sondern  auch im zeitlichen Verlauf der letzten Jahrzehnte. Andererseits, dachte ich, kann der Wechsel in eine moderne, dynamische norddeutsche Gesellschaft für das Theater auch Chancen beinhalten...
Am Anfang stand also die Frage, wie man in Hamburg Stadt-Theater machen könnte, und nicht die nach einem Festival. Wie könnte das in der achtgrößten Hafenstadt der Erde gehen, die in gelegentlich nervtötend hoher Frequenz für sich beansprucht, das „Tor zur Welt“ zu sein? Solch vor sich her getragener Stolz führt stante pede zu Retourkutschen und Häme. Zu solcher Häme war angesichts einer damals desaströsen Kulturpolitik erheblicher Anlaß, sodaß ein Journalist in der FAZ 2010 pointensicher schrieb: „Hamburg ist nicht das Tor zur Welt, sondern eine klapprige Pforte zum Nichts.“ Das war für mich nicht besonders ermutigend in Hinblick auf Hamburg und seine Kultur...

Drei zentrale Koordinaten haben mich beschäftigt:
1. Theater ist seit Jahrtausenden zuallererst eine lokale Angelegenheit.  Es entsteht an dem Ort und für den Ort, für und in der jeweiligen Stadtgesellschaft mit ihren lokalen Traditionen und Gegebenheiten. Das Theater als Agora, als lokalen Versammlungsort zu begreifen, ist seit den Griechen der Kern, alles andere – seien es Wandertruppen, Tourneetheater oder herumreisende Avantgardekünstler – ist höchstwillkommene Ergänzung, aber eben doch „nur“ Ergänzung, Blutzufuhr von außen. Diesen Bezug auf das Lokale oder Regionale meint – für eine dann erweiterte Societät – auch der weitaus später erfundene Begriff des Nationaltheaters. Stets geht es darum, die kulturelle Identität zu beschreiben, zu befördern, zu kritisieren – egal, ob man sie lokal oder national definiert. Entscheidend ist der konkrete Ort, die Architektur des Gebäudes und die Künstler, die es bewohnen - nicht wie ein Hotel für ein oder zwei Nächte, sondern dauerhaft. So ist das Theater das spielerische Gedächtnis der jeweiligen Lokalgesellschaften, und ab und an in der Lage, aus dem Lokalen das Exemplarische, das sogenannte Welthaltige zu gewinnen, mithin die eigene Begrenzung zu durchstoßen. In der Vergangenheit gelang dies meist mit Hilfe von Autoren, sofern deren dichterische Sprache das Lokale traf und dennoch eine gewisse Universalität erreichte. Von diesem Erbe leben wir.

2. Unsere Gesellschaften haben sich internationalisiert, insbesondere die deutsche
- so rapide und dynamisch, wie wir es noch vor wenigen Jahren kaum für möglich gehalten hätten. Ich bin zwar kein Anhänger von Helmut Kohls Spruch von der„Gnade der späten Geburt“, richtig ist aber, daß sich Deutschland erst mit dem Ende der Ost-West-Blöcke aus seiner teilweise narzißtischen Selbstbezüglichkeit hinsichtlich der Bewältigung der eigenen Vergangenheit lösen konnte. Das zwanzigste Jahrhundert liegt gefühlt schon viele Jahrzehnte zurück,  Themen wie Weltkrieg, Nationalsozialismus und  Kalter Krieg sind längst verblasst. Und anderes ist an die Stelle der alten  Konflikte getreten.
Jedes Jahrhundert hat offenbar seine eigene epochale Aufgabe. Die des 18. Jahrhunderts war der Kampf um die bürgerlichen Freiheitsrechte, die des 19. Jahrhunderts die Entwicklung von Nationalstaaten und die des 20. Jahrhundert die vernichtende Auseinandersetzung um die totalitär-ideologischen Blöcke. „Wenn nicht alles täuscht,“ so habe ich zur Eröffnung der ersten Lessingtage 2010 gesagt, „könnte die Aufgabe unseres 21. Jahrhunderts die Arbeit an einer kosmopolitischen Kultur sein.“ Diese Aufgabe ist der Spiegel der ökonomischen Globalisierung und der zunehmenden Interkulturalität unserer Städte sowie der Europäisierung unserer Gesellschaften. Viele Phänomene auf allen Ebenen verdeutlichen diese Entwicklung, die wir früher für undenkbar gehalten hätten: Hätten wir je gedacht, daß ein Schwarzamerikaner Präsident der USA werden kann? Daß er muslimische Wurzeln haben könnte? Daß er in der Universität von Kairo „Salamaleikum“ rufen könnte (2009). Daß er bei der Beerdigung von Nelson Mandela Fidel Castro die Hand schütteln würde (2013)? Daß Sinologie – anders als in meiner Jugend - kein Orchideenfach mehr ist, sondern für Menschen, die sich mit der Bedeutung der Weltmacht China auseinandersetzen? Daß sich die Xenophobie in Xenophilie wandeln würde, und wir uns für die Lampedusa-Flüchtlinge engagieren würden? Daß Afrika zur nächsten ernst zu nehmenden Grenze für die Europäer wird? Daß wir in Europa Moscheen bauen? All das wäre vor einigen Jahrzehnten völlig undenkbar gewesen. Begonnen hat dieser Paradigmenwechsel von historischen Dimensionen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Entwicklungen vielfältigster Art: Neben den postindustriellen Innovationen des Silicon Valley, die die Welt heute vernetzen, war dies vor allem der Zusammenbruch der ideologischen Blöcke und in der Folge der globale Siegeszug des Kapitalismus samt dem Aufstieg der BRIC-Staaten. Aber auch an den Auftakt des Jahrtausends mit Nine Eleven ist hier zu erinnern, ein Auftakt mit vielen tausend Toten - und zugleich eine gigantische symbolische Geste. Sie hat über den Islamismus hinausweisend der ganzen Welt signalisiert, daß nichts mehr so ist wie zuvor.
Diese globalen Veränderungen wirken natürlich auch zurück in die jeweiligen Stadtgemeinschaften, die mehr und mehr interkulturell geprägt sind. Da reicht es nicht mehr, im Theater den üblichen Stücke-Kanon für das deutsche, bildungsbürgerliche Klientel abzuspulen. Die Fragen an unsere Gesellschaft haben sich verändert, und das Publikum ebenfalls.

3. Kultureller Warenaustausch.
Die Herausforderung, sich mit dem kulturell Anderen zu beschäftigen, es als Anregung,  Bereicherung oder Infragestellung des Eigenen zu betrachten ist historisch nicht neu, aber doch neu in den Blick zu nehmen, und Anlaß, die Interferenz der nationalen Kulturen in der Geschichte neu zu entdecken: Man stößt  dann schnell darauf, daß die nationalstaatliche Verengung nur eine kurze historische Periode war. Gerade in Hamburg, der Stadt, die von der Hanse und vom Hafen lebte, konnte man damit ohnehin nie viel anfangen. Der Hafen war in der Vergangenheit Ausgangs- und Zielort vieler kolonialer (und also auch ausbeuterischer) Geschäfte und begründete den Wohlstand der Stadt entscheidend mit. Heute sucht die Stadt ihren Platz als global player im Kontext internationaler Wirtschaftsströme. Vor vielen Jahrhunderten schon beteiligte sich die Stadt an einer frühen Vorform des europäischen Wirtschaftsverkehrs: die Hanse sorgte schon im Hochmittelalter für den internationalen Austausch von Menschen und Kulturen im nordeuropäischen Raum. Das bemerkt jeder, der zum Beispiel in der Hansestadt Tallinn spazieren geht und zugleich Lübeck kennt. Aber auch jenseits der Hanse und jenseits von Hamburg stößt man in Europa beinahe zu allen Zeiten auf intensiven Kulturtransfer, nationale bzw. nationalistische Abgeschlossenheit ist eine Spezialität des 20. Jahrhunderts. In der Renaissance kopiert man den Marcus-Platz von Venedig im polnischen Krakau, im Absolutismus werden Schloßanlagen zwischen Paris, Wien und St. Petersburg ausgetauscht, im Klassizismus wird der antike griechische Stil von Deutschland aus nach Athen reimportiert, in der Aufklärung, will als erster Lessing (und nicht etwa Goethe) die ehemals deutsche, dann aber besonders in England populäre Faust-Figur wieder nach Deutschland zurückbringen. Und schließlich vertrieben die deutschen Intellektuellen den französischen Klassizismus und ersetzten ihn durch ein angelsächsisches Shakespearefieber. Das schönste Beispiel aber ist ausgerechnet Lessings Ringparabel - zentrales, deutsches Kulturgut, aber in Wahrheit aus Boccaccios „Dekamarone“ geklaut. Boccaccio wiederum hatte die Geschichte aus Spanien, nach Spanien kam  sie über Arabien und von dort aus dem indischen Kulturraum – ein besonders eindrucksvoller, früher und komplexer Kulturtransfer und ein treffender Kommentar zur absurden Idee einer abendländischen oder gar deutschen „Leitkultur“. Ilija Trojanow, ein deutscher Intellektueller mit bulgarischen Wurzeln, hat die Genese der Ringparabel bei der Eröffnung der Lessingtage 2010 in seiner Rede „Weltbürgertum heute“ detailliert erläutert.
Derlei geistigen Warenverkehr hat es also schon immer gegeben. Das ist allgemein bekannt, aber es ist in der gegenwärtigen Lage hilfreich, sich wieder einmal daran zu erinnern. Und daran anzuknüpfen.

4. Herausforderung fürs Theater: Wir leben mehr und mehr in einer transnationalen, internationalen, interkulturellen Welt, in der das kulturell Andere, das Fremde, zu Anreiz, Provokation, Infragestellung oder Bereicherung der eigenen nationalen Identität wird. Wenn also unsere Gesellschaften in einem radikalen Wandel sind, müssen sich auch die Theaterkonventionen verwandeln und ändern. Das ist schwer, aber auch eine riesige Chance! Schwer ist es , weil das Theater als Kulturgattung, anders als Musik oder Tanz, eine lokale, um nicht zu sagen provinzielle Angelegenheit ist. Das fängt mit den Stoffen, von denen wir erzählen, an, geht bei der Bühnensprache, die die des eigenen Landes ist, weiter und endet bei einem deutsch-mittelständischen Publikum, das dem Status des „Einwanderungsland“ Deutschland nicht entspricht. Dennoch ist das die Herausforderung und Chance des Theaters der Gegenwart und der Zukunft, an der wir arbeiten müssen, wenn wir einen wesentlichen gesellschaftlichen Platz besetzen und die vielbeschworene gesellschaftliche Agora für die Stadt sein wollen, für eine „europäische Stadt“, für eine sich internationalisierende Stadt.
Die Herausforderung ist – in Hamburg und auch anderswo – also die, das Stadttheater als Ort nationaler Traditionspflege u n d interkultureller Innovation, als gesellschaftspolitischen Ort der Stadt in ihrer Vielfalt, als Ort, an dem es gelingt, das berühmte „Lagerfeuer“ für die Gesellschaft als Ganzes zu sein, zu behaupten und durchzusetzen. Das ist uns in den vergangenen Jahren am Thalia in zahlreichen Bereichen geglückt: Wir haben viele von Presse und Publikum geschätzte Aufführungen, ein herausragendes Ensemble, junge Regisseure für die große Bühne entwickelt und entschiedene künstlerische Handschriften versammelt, die für das Publikum identitätsstiftende Attraktionspunkte sind. Außerdem haben wir uns als lebendiger, gesellschaftspolitischer Ort der hiesigen Stadtgesellschaft positioniert. Wir mischen uns mit politischen Veranstaltungen immer wieder in Debatten ein, sei es bei der Gentrifizierung, sei es bei Lampedusa. Auch in Richtung Internationalität tun wir Einiges: Wir laden Regisseure aus dem internationalen Raum ein, begleiten den Spielplan mit interkulturellen Aktivitäten und realisieren in der Spielzeit 2013/2014 erstmals eine europäische, multilinguale Produktion zum Ersten Weltkrieg, die anschließend in ganz Europa gezeigt werden wird. Darüberhinaus feiert das Thalia Theater als „Kulturbotschafter“ Hamburgs große Erfolge mit Gastspielen in aller Welt: wir reisen mit den Aufführungen nach Japan, China, Kolumbien oder Rußland, nach Athen, Wien, Paris, Avignon, Edinburg oder Amsterdam. Und auch die Bilanz an der homebase stimmt: zuletzt hatten wir mit 315.000 Besuchen die meisten Zuschauer aller deutschen Schauspielbühnen, so viele Besucher wie vor über 30 Jahren.
Trotzdem fehlen zwei entscheidende Punkte immer noch: ein interkulturelles Publikum von quantifizierbaren Dimensionen und interkulturelle Darsteller auf der Bühne....

Lessing als Anker
Doch zurück, zu meinen Überlegungen, als ich im Jahr 2007 im 9. Wiener Gemeindebezirk saß, und damit auch zu Lessing. Ich wollte für die Programmierung eines Stadttheaters das Lokale und das Globale zusammendenken – nun ... dazu braucht es eigentlich kein erweitertes Instrumentarium. Dafür reicht der Begriff des Nationaltheaters, der ja nicht nur den nationalen Kanon meint, sondern das Exemplarische, und also durchaus auch das Internationale, völlig aus. Dennoch war ich unzufrieden, suchte einen historischen und nach Möglichkeit lokalen Referenzraum, um das Stadttheater im Kontext der sich wandelnden, und das heißt vor allem sich internationalisierenden, Gesellschaft neu zu interpretieren. Eine anstehende Hamburgreise brachte mich weiter. Das Wetter war trüb, als ich am Gänsemarkt auf das stets etwas traurige, und von Tauben zugeschissene Lessingdenkmal stieß. Könnte das vielleicht ein zentraler Bezugspunkt für Hamburg sein? Der steinerne Mann da oben, den ich zu meiner Lichtgestalt machen wollte, und ich da unten guckten uns ein wenig in die Augen... So wurde Lessing zur Initialzündung für die konzeptionelle Ausrichtung des Thalia-Theaters in den kommenden Jahren. Lessing sollte in dieser an künstlerisch-kulturellen Traditionen armen Stadt – selbst den kenntnisreicheren Hamburgern fallen an dieser Stelle nur Brahms oder Philipp Otto Runge ein – zum kulturellen Identifikationspunkt für die hiesige Stadtgesellschaft werden. Er hatte hier wenigstens zeitweise gelebt, seine geistigen Parameter (und die der europäischen Aufklärung) aber sind bis heute wirksam. Sie alle kennen den Satz: „Wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen.“ Er stammt von dem beliebtesten Hamburger: von Helmut Schmidt. Ilija Trojanow, einer der Protagonisten einer neuen kosmopolitischen Gesellschaft, hat bissig geantwortet: „Wer keine Visionen hat, soll zum TÜV gehen.“ Hier der Poppersche Pragmatismus, der grundsätzlich Ideologieverdacht hegt, und dort der Utopismus, der sich das Denken und Träumen nicht verbieten lassen will. Und dazwischen Lessing: ein visionärer Pragmatiker, ganz im Sinne der Aufklärung des 18. Jahrhunderts.
Bei ihm kam viel von dem zusammen, was ich suchte. Und seitdem streichle ich ab und zu seinen mittlerweile auf meinem Schreibtisch stehenden Gipskopf.

1. Der kosmopolitische Anspruch:
Lessing (1729-1788) hat in einer Zeit, als die Welt noch sehr überschaubar war und Deutschland kleinstaatlich zersplittert, als Reaktion auf das Berufs- und Publikationsverbot, das den 38jährigen am Ende seiner nur drei Hamburger Jahre (1767-1770) ereilte, weltumspannend groß geträumt und seine Vision einer kosmopolitischen Gesellschaft entworfen. Er träumte in seinem „Nathan“ von der friedlichen Koexistenz der drei zentralen religiösen Kulturtechniken und hat damit die Fragestellungen des 21. Jahrhunderts vorweggenommen. Dieses Denken entstand als Teil der historischen Epoche der Aufklärung, die vom Umbruch des Religiösen ins Säkulare geprägt war. Das ist heute aktueller denn je. Manche glauben, Lessing sei ein halbesoterischer Ethno-Kitschier und sein „Nathan“ ein Ammenmärchen für Stricklieseln und schlichte Gemüter. Aber das ist falsch. Man muß sich vergegenwärtigen, daß er gerade aus Hamburg vertrieben worden war, und daß Antisemitismus und Islamophobie auch zu seiner Zeit durchaus verbreitet waren. Schließlich entfaltete er seine humanitäre Vision im Kontext von Vernichtung, Mord und Totschlag während der Kreuzzüge. Nur so ist zu erklären, daß Lessings humanitärer Anspruch absolut auf der Höhe heutiger Schwierigkeiten und Herausforderungen ist. Ich zitiere immer wieder gern einen einzigen Satz aus dem „Nathan“: „Wir müssen, müssen Freunde sein.“ Mit dem doppelten „müssen“ markiert er Notwendigkeit und Unmöglichkeit zugleich. Denn Freund sein kann man nur wollen, und nicht „müssen“, und schon gar nicht doppelt: „müssen, müssen“. Wie könnten wir aber vielleicht tatsächlich wollen, was wir nur müssen – und zwar heute, im 21. Jahrhundert? Wie geht das ausgerechnet in Hamburg, das nicht nur die Stadt Lessings ist, nicht nur Hafenmetropole, sondern auch die Stadt, in der das Trauma des beginnenden 21. Jahrhunderts seinen Anfang nahm: Nine Eleven nämlich? Dem Anspruch eines friedlichen Zusammenlebens in einer internationalisierten Gesellschaft ist nicht mit Naivität beizukommen und auch nicht mit dem Schillerschen hochtönenden Freundschaftsideal, nicht mit einem Kuß für die Welt, nicht mit Weltumarmung – nein: Lessing, dieser Kosmopolit im Postkutschenzeitalter, bleibt am Boden. Und so wird er zum jüngeren Bruder eines griechischen Ahnen. Diogenes hat auf die Frage, woher er komme, geantwortet: „Ich bin ein Kosmopolit“ – also ein Weltbürger. Die ganze Wahrheit aber wäre gewesen: Ich wäre gern ein Kosmopolit, obwohl ich aus dem Provinzkaff Sinope stamme und erst seit einiger Zeit in Athen lebe, das gern Weltstadt wäre...
Lessing ist für Hamburg und darüber hinaus eine zentrale Figur. Sie steht für Toleranz und Weltläufigkeit und hat, ganz in der Tradition der Aufklärung, die Idee des Weltbürgertums programmatisch nach vorne gebracht. Seine Vision war, die drei Religionen – ins Heute übersetzt: verschiedene Weltkulturen – in ein Miteinander zu bringen, das die Differenz respektiert. Dahinter liegt bei Lessings Ringparabel die Vermutung, daß sich jenseits der Phänomenologie des Verschiedenen meist eine der anthropologischen Ähnlichkeiten verbergen könnte. Interkulturalität, kosmopolitische Ansprüche und Notwendigkeiten – für all das ist die lokale Figur Lessing ein geistig konziser Transmissionsriemen, insbesondere in Hamburg mit seinem gelegentlich penetrant vorgetragenen Gestus der Weltläufigkeit. Damit war die Idee für unser Festival geboren: „Lessingtage – Um alles in der Welt“ heißt es nun bereits zum fünften Mal. Der Zusatz „Um alles in der Welt“ ist ein leicht ironisches Spiel mit dem hehren Anspruch, Phrase und ernst gemeinter Inhalt zugleich. Von Lessing ausgehend führen alle Wege in die oft mühseligen Debatten unserer Tage um Multikulturalismus, Interkultur und Leitkultur, Integration und neuerdings auch Dekolonisation.
Bei all diesen Debatten hilft eine neue künstlerisch-intellektuelle Elite – ich nenne beispielhaft Ilija Trojanow, Feridun Zaimoglu, Narvid Kermani, Kwame Anthoy Appiah  oder Mark Terkessidis – eine Elite, die interessanterweise aus einer neuen interkulturell geprägten Schicht stammt. Es ist eine Elite, die tatsächlich anders denkt, als wir es kennen. Kermani beispielsweise sagt: „Identität darf alles sein, nur nicht eindeutig, dann wird es gefährlich.“ Wird dem „Ich“ dadurch nicht der Boden unter den Füßen weggezogen? Diese Autoren beschenken uns mit einer anderen und umfassenderen Weltschau: Trojanow erzählt in seinem „Weltensammler“ von einer Hybrid-Identität, die in der Identitätsvielfalt ihr Ich findet. Und Kermani erzählt in „Dein Name“ vom Siegerland bis Kashmir, verbindet Jean Paul und Sufi... Andere wie der einflußreiche Soziologe Ulrick Beck diskutieren die Fragen des Kosmopolitismus wie ein Herkules von allen Seiten: vom „Kosmopolitismus von unten“seitens legaler oder illegaler Einwanderer bis hin zu einem „Kosmopolitismus von oben“, wo Organtransplantationen zugunsten der Nordhalbkugel von der Bevölkerung der Südhalbkugel aufgebracht werden...
All diese Fragestellungen sind neu und versetzen natürlich auch die Künste in Bewegung. Christoph Schlingensief etwa wollte uns Europäer schon vor Jahren in seinem Burkina Faso – Projekt „mit dem afrikanischen Virus“ infizieren. Solche heutige Provokationen denken Lessing weiter.
Aber Lessing blieb hier nicht stehen und hat – Provokation und Sprengstoff auch für das heutige Theater  - ästhetisch den Zusammenhang zwischen den „dramatis personae“, der Zusammensetzung des Publikums und dem auf der Bühne verhandelten Kanon an Stoffen sehr genau gesehen:

2. Lessing revolutioniert die „dramatis personae“ – eine neue soziale Schicht kommt auf die Bühne: Lessing hat die Bühne für eine neue und aufstrebende soziale Schicht geöffnet: für das Bürgertum. Es wird plötzlich Figur und Protagonist auf der Bühne und raubt der bisherigen Herrschaftsschicht die Deutungshoheit. Das ist ein entscheidender Punkt - ein Punkt, an dem das Stadttheater von heute, und auch das Thalia-Theater, in aller Regel versagt: die interkulturelle Gesellschaft betritt nach wie vor nur im Ausnahmefall die Bühne. Den Auftrag, Schauspieler mit Migrationshintergrund zu engagieren und mit ihnen Geschichten über unsere interkulturelle Gesellschaft auf die Bühne zu bringen,  hat sich mittlerweile das kleine Berliner Gorki-Theater selbst gestellt. Man wird sehen, was daraus wird. Für ein großes Theater wie das Thalia ist das ungleich schwieriger. Wenn uns das überhaupt gelingt, dann bisher nur unter den besonderen Bedingungen der „Lessingtage“. Dabei ist das Fernziel ist völlig klar: Die Theater müssen, wie alle anderen Institutionen auch, interkultureller werden: Spiegel der realen gesellschaftlichen Zusammenhänge, und das sind die Verhältnisse der sich entwickelnden „europäischen Stadt“. Solange aber die auf der Bühne handelnden Personen („dramatis personae“) nicht der realen Vielfalt der Stadtgesellschaft entsprechen, ist es schwer, das interkulturell durchmischte Publikums der Stadtgesellschaft fürs Theater zu gewinnen. Schon Lessing sah diesen Zusammenhang.

3. Ein neues Forum der Öffentlichkeit für eine neue Schicht: Lessing schuf in Hamburg mit seiner Nationaltheateridee eine neue Form der Öffentlichkeit, ein Medium, das es vorher so nicht gab, einen Ort für das Bürgertum. Er ist damit zwar in Hamburg gescheitert – sein Nationaltheater war schnell pleite, aber der Gedanke hat sich historisch durchgesetzt. Lessing ist insofern Mitbegründer der bürgerlichen Öffentlichkeit, die gleichzeitig den Anspruch hatte, über die Bourgeoisie hinaus den Citoyen zu erreichen.
Die Provokation, die in dem damals neuen Medium für heute liegt, ist unverkennbar: Schaffen wir es, unser Publikum  um neue aufstrebende gesellschaftliche Kräfte zu erweitern? Schaffen wir es, statt für die Bourgeoisie, ein Theater für den Citoyen zu machen, wie Lessing es anstrebte? Während der Lessingtage mit ihren internationalen und interkulturellen Gastspielen haben wir durchaus Erfolg, im Repertoirebetrieb trotz vielfältiger Bemühungen eher (noch) nicht. Auch das ein Lessing-Auftrag.

4. Der Kanon der Bühnenstoffe – „welthaltige“ Stoffe: Der literarische Kanon ändert sich, entsprechend den gesellschaftlichen Veränderungen, seit jeher. Das ist heute nicht anders als bei Lessing, der die sozialen Konflikte zwischen Adel und Bürgertum neu auf die Bühne brachte. Die derzeitigen gesellschaftlichen Veränderungen beeinflussen den Kanon vermutlich in drei Richtungen: 1. Welttheater, 2. Theater der Welt, 3. Interkulturelles Theater. Das heißt nicht unbedingt, daß die Nationalkulturen auserzählt sind, wohl aber, daß sie zu relativieren sind, weil sich die Interessen verlagert haben.
1. Welttheater: Weltlust, Weltreisen, Weltreligionen, Weltmythen, Weltweh und Weltzerstörung, globale Perspektiven und Erzählungen statt Nabelschau – das ist vermutlich die Richtung, in die es geht. Vielleicht tritt die kleine deutsche Gretchen-Tragödie von „Faust I“ zugunsten von Fausts ebenso großer wie schwer zu durchdringender Weltfahrt und Welterforschung im zweiten Teil in den Hintergrund. Aus ähnlichen Gründen ist ein Text wie Ibsens „Peer Gynt“ möglicherweise interessanter als seine „Nora“, ein Stoff wie „Moby Dick“ repertoirefähiger als beispielsweise „Leonce und Lena“. Gleichzeitig kommen historisch tiefer liegende Stoffe der europäischen Zivilisation wieder nach vorn: Archetypen von allgemeiner Gültigkeit. Ich denke hier an Renaissancestoffe wie den bereits erwähnten „Faust“, „Jedermann“,  „Don Quijote“, „Hamlet“ oder „Don Juan“ – alles Stoffe, die das Thalia im Spielplan hat. Wenn man tiefer in die Historie steigt, kommen andere universelle Stoffe in den Blick, seien es die der Antike oder der mythologisch-religiösen Grundtexte.
Schließlich bildet sich auch eine neue zeitgenössische „Klassizität“ heraus: die Popkultur als weltweiter mainstream ist im Theater mittlerweile „anschlußfähiger“ als manches hochgeschätzte Werk der tradierten Nationalkulturen. Die berühmt-berüchtigte „Welthaltigkeit“ von Stoffen meint deutlich anderes und mehr als früher.
2. Theater der Welt: Hier darf man optimistisch sein. So wie es gelingt, z.B. die Geschichte eines Bauern, der sich in China von der Kulturrevolution bis heute durchgeschlagen hat, so zu erzählen, daß es ein Hamburger Publikum interessiert, gelingt es umgekehrt auch, das Publikum anderer Kontinente für Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ oder für Falladas „Jeder stirbt für sich allein“ zu interessieren. Ob dies gelingt, entscheidet sich – vorausgesetzt der Stoff hat eine gewisse Gültigkeit – vor allem an der jeweiligen Theatersprache.
3. interkulturelles Theater: Hier gibt es immer mehr Projekte, die über die sozialpädagogischen Ansätze hinaus das Polyperspektivische des eigenen Ichs  Theater werden lassen - für Migranten wie Deutsche gleichermaßen. „Die Welt im Ich – das Ich in der Welt“ haben wir im Zusammenhang mit Navid Kermanis Roman „Dein Name“ getextet...

5. Diskurs statt Norm, Dialog statt Frontalunterricht: Man sieht sehr deutlich, daß  das Theater als Genre (und nicht nur im Thalia-Theater) angesichts neuer Herausforderungen auf der Suche nach neuen Ästhetiken, neuen Inhalten, neuen Publica, neuen Kommunikationsformen ist. Diese neuen Formen kann man nicht normativ verordnen, sondern nur entwickeln. Und auch hier ist Lessing mit seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ Vorbild . Denn sie entwirft kein aristotelisches, abgeschlossenes Ganzes, sondern ist eine offene Sammlung von Kritiken und Positionen zu Aufführungen. Deswegen haben wir – Stichwort Partizipation - auf unserer Website eine eigene „Hamburgische Dramaturgie“ geschaffen,  für die Autoren Kritiken zu unseren Aufführungen schreiben können.

Zum Festivalformat: „Lessingtage – Um alles in der Welt“

Für die „Lessingtage“ wurden eine Reihe von Strukturen und Programmmodulen entwickelt:
1. Zeitpunkt: Das Festival findet alljährlich als Referenz an den Namensgeber Lessing zwei Wochen lang zwischen Lessings Geburtstag (22. Januar) und seinem Todestag am 15. Februar statt und ist seither mit  ungefähr 45 bis 60 Veranstaltungen und um die 16.000 Besuchern erfolgreich.
 
2. Festival und Stadttheater – ein kreatives Hybrid:  Normalerweise machen Stadttheater mit Repertoire und festem Ensemble keine Festivals, und Festivals kein Stadttheater. Das Besondere der Lessingtage besteht unter anderem darin, dass Eigenkreationen aus der Jahresarbeit hier noch einmal thematisch gebündelt werden. So beeinflusst die Jahresarbeit des Stadttheaters das Festival. Aber auch das Umgekehrte gilt: durch Gastspiel-Einladungen zu den Lessingtagen schaffen wir Kontakte zu Regisseuren, die dann umgekehrt die Jahresarbeit mit eigenen Inszenierungen prägen. So entsteht ein System kommunizierender Röhren und es vermischen sich Internationalität und Nationales, aber auch Ästhetiken des Stadttheaters mit neuen Formen, die dann wieder fruchtbar werden für das Repertoire. Der estnische Regisseur Tiit Ojasoo, der französische Autor und Regisseur Pascal Rambert oder die Brasilianerin Christiane Jathay sind Beispiele dafür.

3. Die Lessingtage sind ein Themenfestival:
Es gibt unendlich viele Festivals – aber kaum mehr Themenfestivals. Die Lessingtage wollen sich mit all den Fragen befassen, die ich zuvor erläutert habe: mit Internationalisierung, Interkulturalität, dem Anspruch eines Kosmopolitismus, Fragen der Globalisierung, der heutigen Kakophonie und Vielgestaltigkeit der Welt jenseits von Nationalkulturen. Der Titel „Lessingtage – Um alles in der Welt“ spielt mit diesem Anspruch und hält sich zugleich an einen Rat Lessings: „Ein Titel muß kein Küchenzettel sein. Je weniger er vom Inhalt verrät, desto besser.“

4. Das Festival als soziales Gebilde für Hamburg: Es gibt unendlich viele Festivals – aber die allermeisten kommen über eine Ansammlung von eingekauften Gastspielen kaum hinaus. Das aber wollte ich nie, und es macht in einem Stadttheater auch wenig Sinn. Deswegen gibt es bei den Lessingtagen neben nationalen und internationalen Gastspielen eine weitgefächerte Begleitmusik: Symposien und programmatische Reden, Publikumsgespräche, Konzerte, ein Festivalzentrum, szenische Interventionen, Arbeiten aus den Soziotopen interkultureller Arbeit, sozial- und theaterpädagogische Initiativen und Partizipationsangebote, mit denen wir in die Stadt gehen, Kooperationen mit Hamburger Institutionen wie der Akademie der Weltreligionen und vieles mehr. Durch diese Vielfalt von Beiprogrammen ist das Festival nicht nur eines für, sondern auch eines von Hamburg und seinen Bewohnern. Es verankert sich durch Kooperationen tief in der Stadt, erkundet den Lessingtunnel in Altona, macht Exkursionen zu den Bewohnern der Lessingstraße oder okkupiert das Lessingdenkmal am Gänsemarkt.
Besonders hervorzuheben ist hier die Zusammenarbeit mit den Schulen: Tausende von Schülern haben plötzlich Lessingzäune mit ihren Freiheitsidealen gestaltet, oder sind, von der Polizei eskortiert, vom Thalia laut skandierend zum Lessingdenkmal am Gänsemarkt gezogen oder haben künstlerische Arbeiten zu Lampedusa angefertigt, die wir im Theaterfoyer ausstellen. Städte brauchen identitätsstiftende Traditionen, die man mit Leben füllt, anstelle von Events. In diesem Sinne sollen die „Lessingtage“ das Gefäß für ein lebendiges soziales Gebilde sein, ein melting pot vielfältigster soziokultureller Initiativen. Davon versprechen wir uns – auch über das Festival hinaus –eine verstärkte Bindung des Publikums an unsere Inhalte und Ausdrucksformen. Es ist uns wichtig, das Soziale und das Kulturelle zusammen zu denken.

5. Die Gastspiele: Eingeladen werden internationale Gastspiele aus der ganzen Welt. Es ist unmöglich, all die eingeladenen Länder und Städte aufzuzählen. Auch thematisch ist das Spektrum riesengroß: Es geht um Favelas und megacities, um afrikanische, indische oder brasilianische Kultur, um Fragen der eigenen kulturellen Identität, um interkulturelle Kontexte etc. Ein besonderer Schwerpunkt liegt hier - nicht ohne Bedacht - auf China. Nicht nur Altkanzler Helmut Schmidt ist der Auffassung, daß wir uns Desinteresse gegenüber der größten Population der Erde gar nicht leisten können. Hier geben wir uns besonders viel Mühe und  laden nicht nur ein, sondern sind selbst auch in Peking, Shanghai und anderswo präsent.
Dennoch ist das alles nicht ganz risikolos. Denn das Interesse des Publikums für fremdsprachiges Theater ist trotz allem durchaus überschaubar. Das Interesse für das Andere, das Fremde, für die Welt außerhalb unserer eigenen, ist immer noch nicht selbstverständlich. Trotzdem sind diese Gastspiele gut besucht, sowohl von den Hamburgern als auch vom internationalen Teil unserer Gesellschaft, sodaß die Publikumsgespräche plötzlich auf türkisch, chinesisch oder russisch stattfinden.
Ein zweiter Gastspieltypus sind Gastspiele von deutschsprachigen Bühnen, die in ihren Aufführungen diese Konfliktlinien thematisieren, von Karin Beiers „Goldenem Vlies“ bis zu Frank Castorf „Reise ans Ende der Nacht“.

6. Spartenübergreifende Erweiterung der Kunstformen: Schauspiel, Musik, Tanz
Von Anfang an war klar, daß wir die engen Grenzen des reinen und damit sprachgebundenen Schauspiels sprengen möchten. Internationalität und Interkulturalität sind in Musik und Tanz viel leichter zu realisieren als im Schauspiel.

7. Feststehende Formate: Programmatische Eröffnungsrede: Alljährlich laden wir zu hochkarätigen programmatischen Eröffnungsreden ein. Bisher waren hier stets internationale bzw. interkulturell geprägte Persönlichkeiten zu Gast: Ilija Trojanow mit einer Rede über „Weltbürgertum heute“ (2010), Navid Kermani mit dem provokativen Titel „Vergesst Deutschland“ (2012) , der aus China ausgebürgerte Chinese Liao Yiwu mit „Auf die Weltbühne geschneit“ (2013) und zuletzt Auma Obama mit „You are your future“ (2014), eine Rede, die das Verhältnis der Europäer zu Afrika thematisierte.

8. Feststehende Formate:
„Lange Nacht der Weltreligionen“: Die Lange Nacht der Weltreligionen wäre einen eigenen Vortrag wert. Sie ist ein Juwel des Festivals und geht unmittelbar von Lessings Ringparabel aus. Es ist ein erstaunliches Format, erstaunlich, weil hier tatsächlich die Vertreter der verschiedenen Religionen ihre Schwierigkeiten untereinander überwinden und gemeinsam einen Abend gestalten. Erstaunlich auch, weil es offenbar für das Publikum von hohem Interesse ist, die religiösen Grundtexte verschiedenster Religionen in einem säkularen Rahmen als Literatur zu rezipieren. Wir ziehen damit ein Interesse beim Publikum auf uns, das den Kirchen verwehrt bleibt. Hier erklingen Texte auf deutsch, aber auch auf arabisch, hebräisch, griechisch, deutsch, latein, chinesisch etc. Und das Publikum macht die Erfahrung, daß, je weiter man in die historische Tiefe der Menschheitsgeschichte zurückgeht, die verbindende Kraft der kulturtechnologischen Grundtexte wächst ...
Hier gelingt uns im Übrigen alljährlich, wovon wir sonst meist nur träumen: Im ausverkauften Großen Haus mit 1000 Plätzen trifft sich die Stadtgesellschaft in ihrer realen ethnischen, religiösen und sozialen Vielfalt, hier kommen das Soziale und das Kulturelle zusammen, die nationale Kultur und die internationale Vielfalt unserer Stadtgesellschaft. Hier wird der citoyen erreicht und nicht nur der bourgeois. Damit bin ich wieder am Anfang...
                    ***
Zum Schluß: Ich glaube, auf diese Weise kann das Stadttheater ein Modell für die Zukunft sein. Es ist nicht in der Krise. Es gibt eine Krise der Kommunalpolitik, es gibt ärgerliche Fehlleistungen von Theaterleitern, es gibt ärgerliche und gefährliche Angriffe von Verfechtern neoliberaler Kulturkonzepte, die sich für avantgardistisch und innovativ halten und die föderale Kulturförderung in Deutschland im Verteilungskampf um Kulturgelder aushöhlen wollen. All das gibt es.
Es gibt aber auch das sich stets selbst erneuernde Stadttheater. Nicht nur in Hamburg, aber auch in Hamburg.
Lessing sagte, bevor er nach Hamburg ging: „Fragen Sie mich nicht, auf was ich nach Hamburg gehe. Eigentlich auf nichts.“ Nun, in Wien sitzend, ging es mir ähnlich, bis ich Lessing am Gänsemarkt traf, auch wenn er hier gescheitert ist und nur drei Jahre blieb. Er hat mir geholfen und Spuren hinterlassen, an die das Thalia heute anknüpft. Der Aufklärer, Träumer und Halbhamburger Lessing ist für uns die symbolische Figur, in der sich all das vereint, auf das wir uns beziehen.
Heute steht das Thalia gut in Hamburg da. Und die alljährlich aus ihm entstehenden Lessingtage ebenfalls. Sie sind neben dem Kampnagel-Sommerfestival das wichtigste Theaterfestival der Stadt, ein Festival, das den Wandel unserer Lebensformen in eine kosmopolitisch-interkulturelle und internationale Bürgergesellschaft begleiten will.

Die Idee des Festivals ist, ausgehend von der mit Hamburg verbundenen Figur Lessing, das Lokale und das Kosmopolitische zusammen zu denken. Die kulturelle Identität  Hamburgs soll durch den bewußten Rückgriff auf die Tradition gestärkt werden und gleichzeitig seine Ideen von Aufklärung und Weltbürgertum für heute neu gedacht werden. Das kann man von beiden Enden denken, denn natürlich geht es auch darum, die ureigene Identität zu bewahren. Johan Simons hat das unlängst in einem sehr schönen, weil schlichten Satz auf den Punkt gebracht: „Nur wer sein Dorf kennt, kennt die Welt.“ Damit ist er gar nicht so weit weg von der Ritual gewordenen Grußformel unseres derzeitigen Ersten Bürgermeisters: „Die Welt im Blick und Hamburg im Herzen.“ In einer Welt, die immer mehr zusammenwächst, könnte das ja vielleicht gelingen.

Ich schließe – wie bei der Eröffnung des Ersten Festivals mit einem sehr schönen und nur scheinbar naiven Lessing-Satz, der sich leicht aufs Theater beziehen läßt, aber auch auf die Verbindung von Völkern und Kulturen. Es ist ein Satz, der sich - recht verstanden  und ernst genommen – gegen jedwede Abschottung und Ausgrenzung wendet, auch gegen die Selbstabschottung des Theaters natürlich. Denn er appelliert an die Kraft der Gemeinschaft. Der Satz lautet: „Es ist so traurig, sich allein zu freuen.“ Wir haben ihn auf eine Jutetüte gedruckt. Sie ist Kult und verkauft sich bestens...