Theater ohne Autoren: Ist die Zukunft dramatisch?

Impulsreferat beim Berliner Theatertreffen 2008 Von Joachim Lux

Der Titel klingt schon wieder nach Krise, Untergang und Waldsterben. Keine Angst und auch keine Hoffnung: ich mache hier nicht die Kassandra für den angeblich oder wirklich vom Untergang bedrohten Autor. Im Gegenteil: ich möchte aufräumen und die Fenster aufreißen. Denn die Debatte um das Theater und seine angeblich immerwährenden Krisen ist weitaus verblödeter als das Theater in seinen Hervorbringungen. Sie klebt immer noch an Vorgestern. Die Klischees, mit denen Theaterleute und ihre sich antilobbyistisch gerierende kritische Lobby gern hantieren, ermüden seit langem. Mit seiner Begabung, längst geschlagene Schlachten wieder aufzuwärmen, selbst wenn sich die Konfliktlinien seit langem verschoben haben, ist das Theater übrigens in guter schlechter Gesellschaft, in der der Politik nämlich. Alte Schemata werden hier wie dort mit Lust gedankenlos weitergetragen, als ideologische Nebelkerzen gegen den wahren Stand der Dinge. Besonders beliebt ist es, im Rahmen solcher Debatten für die Unterdrückten und Entrechteten Partei zu ergreifen: das sind im Theater in der Regel der arme Schauspieler und der vergewaltigte Autor während der Folterknecht fast immer der Regisseur ist.

Rückblick auf Vorgestern (1968, Mauerfall)
Ein klischiertes Credo z. B. ist immer noch, mit dem Theater wäre es erheblich besser bestellt, wenn es aus Achtung vor dem Autor hermeneutische Textexegese im Sinne von Emil Staigers berühmter Formel „begreifen, was uns ergreift“ (1955) betreiben würde, anstatt die Autoren durch die Regisseure und deren „Projekte“ zu enteignen. Diese Argumentation nimmt den Autor mit dem Holzhammer eines unzulässigen „entweder – oder“ nur mäßig verdeckt als Kronzeugen für Historizität und Klassizität in Anspruch, um das Theater vor den Zumutungen der Gegenwart respektive des Regietheaters zu retten. Das Theater soll demütiger Diener der Autonomie der Kunst sein. Übermalung und Improvisation, Free Jazz als Variante des Jazz, auch Gesamtkunstwerk als Variante der puren Textverlebendigung – all diese künstlerischen Verfahren werden abgelehnt. Marthalers Wurzelfaust z.B. war in diesem Sinne anfang der Neunziger Jahre manchem Symbol für den Untergang des Theaterabendlandes. Das war zwar schon damals ein ziemlicher Unsinn, aber es entsprach in seiner Hitzigkeit doch wenigstens einer damals aktuellen Debatte. Heute sollte man diese bitte nicht mehr führen, denn das sogenannte Regietheater hat nicht nur Autoren vernichtet, es hat auch solche, die alle für mausetot hielten, reanimiert. Bis in den letzten Winkel ist die Erkenntnis vorgedrungen, dass es natürlich gar nichts anderes gibt als Regietheater und dass Autoren und Regisseure so etwas wie Sparring-Partner sind. Es sind aufs Ganze gesehen nicht die Regisseure, die die Autoren vernichten oder vernichtet haben.

Eine andere unsinnige Litanei nimmt den Autor umgekehrt in Anspruch: Dem Theater ginge es besser, wenn es nicht so vergangenheitsverhaftet wäre. Es müsse sich mehr um die Gegenwart kümmern und der dafür zuständige, wenngleich vernachlässigte Seismograph und Kronzeuge sei der Autor. Von Vernachlässigung kann aber schon lange keine Rede mehr sein, auch das ist Unsinn – zumindest gibt es einen ziemlichen Betrieb um Autoren: Seit zehn Jahren etwa fördern zahllose deutschsprachige Theater, angelsächsische Fördermodelle (und auch deren Unarten) übernehmend, die Gegenwartsdramatik wie nie zuvor. Sie ergänzen damit ältere und verdienstvolle Institutionen wie den Stückemarkt des Berliner Theatertreffens, den Heidelberger Stückemarkt oder die Mülheimer Theatertage. Die deutschsprachige Theaterlandschaft ist mittlerweile überschwemmt von Autorenförderprogrammen, Wiener Werkstatttagen, Author-in-residence-Projekten unterschiedlichster Art. Auch die Autorentheatertage des Thalia-Theater, die derzeit noch in Hamburg residieren, sind ein Resultat des neuen Booms. Überall kann man einreichen, sich bewerben, mitmachen, lesen, entwickeln und lernen, in den Theatern, an den Hochschulen. Wie immer produzieren solche Förderprogramme auch Stilblüten, deren Symbolkraft eindeutig in Richtung „Gefahr im Verzug“ weist: So, als sich vor einigen Jahren ein junger deutscher Autor bei den Wiener Werkstatttagen unter Hinweis auf einen Nachwuchspreis in Adelaide/Australien bewarb und sich anschließend bei den Münchener Autorentagen auf seine Teilnahme in Adelaide und Wien berufen konnte...
Es ist meines Erachtens dringend an der Zeit, innezuhalten, Kassensturz zu machen, Bilanz zu ziehen: Welche und wie viele Autoren sind mit einiger Nachhaltigkeit tatsächlich aus all diesen Programmen hervorgegangen? Setzen sich gute Autoren und ihre Stücke kunstdarwinistisch sowieso durch oder helfen diese Förderprogramme? Lernen die Autoren in all diesen Workshops sinnvolles Handwerk oder werden sie dort im Sinne der Marktgängigkeit rundgeschliffen? Inwieweit kann man schreiben überhaupt lernen? Öffentliche Geständnisse sind nicht leicht und auch gefährlich, stellen muß man sich diesen Fragen trotzdem. Natürlich kann man auch hier reflexartig gegenargumentieren (Die Anzahl aufgeführter Gegenwartsstücke ist seit zwanzig Jahren in Wahrheit nicht gestiegen, sondern nur in die Breite gegangen. Die Theater machen Uraufführungen nur, um im Kampf um mediale Bedeutung vorzukommen, die Theater spielen zu wenig nach, die Theater führen die Stücke zu oft auf Nebenbühnen auf etc.) Ich komme später noch einmal auf diesen Punkt zurück.

Ein dritter Vorwurf gegen das Theater, ebenfalls am Autor festzumachen, ist der, er degradiere sich selbst zum Zeitgeistsurfer. Er sei, wie das Theater auch, dem Irrtum aufgesessen, man könne die mangelnde gesellschaftliche Relevanz des Mediums durch die Selbstauslieferung an die Gegenwart ausgleichen. Die ehemals berechtigte Attacke gegen das Heilige und Wirklichkeitsferne des Theaters habe auf direktem Wege das Profane und Banale hervorgebracht. Hier sei eine Sackgasse, die die ästhetische Differenz, von der die Künste, und also auch das Theater und seine Autoren leben, missachtet. Reine Gegenwärtigkeit mache blind, und sei in Zeiten, wo die Medien jedes Thema sofort geschickt aufbereiten, besonders altbacken. Und in der Tat: Kaum bricht ein neuer Krieg aus, werden Kindesmissbrauch, Glauben oder Klonen Thema, gibt es aus den nationalen und internationalen PCs das Stück zum Spiegeltitel der nächsten Woche. Und falls man Klassiker macht, werden sie textlich aufs hier und heute wahlweise der Börse, einer Ökologiekatastrophe oder auf gated communities zurechtbearbeitet.

Man sieht, wie sich im Autor der schreckliche Zustand des Theaters kristallisiert. Man könnte das Gleiche an den Regisseuren durchexerzieren, z.B. an der alten Konfliktlinie ästhetischer Idealismus (etwa von Andrea Breth) versus ästhetischer Materialismus (etwa von Frank Castorf) – aber diese Gegenüberstellungen greifen längstens nicht mehr, es sind Antagonismen einer längst verflossenen Zeit. Nein - das sind alles Positionen der Defensive, überkommene Argumentationen, ideologischer Retro-Müll. Der Debattenstil nährt sich geriatrisch immer noch aus den Zeiten der 68er und dem damit verbundenen Sündenfall gegen den ästhetischen Idealismus der Fünfziger Jahre sowie aus der Zeit des Mauerfalls, dem zweiten entscheidenden Paradigmenwechsel, den unsere Gesellschaft mitgemacht hat. Hier fand ästhetisch eine Ost-Invasion in die westliche Wohlstandsglocke statt. Zwar hatte es mit Autoren wie Heiner Müller oder Thomas Brasch und Regisseuren wie Tragelehn, Karge, Langhoff, Schleef u.a. schon früher eine invasive Vorhut gegen Botho Strauß, Luc Bondy und die sich in der Schaubühne Peter Steins versammelnden westberliner Zahnärzte gegeben, aber der entscheidende Schlag kam von der materialistischen Dada-Anarcho-Destruktionsmaschinerie eines Frank Castorf. der das Theater aus der selbstreferentiell–narzißtischen Postmoderne riss. Aber das eine entscheidende Ereignis (1968) ist, das muß nun schon erwähnt werden, vierzig Jahre, das andere (der Mauerfall) bald zwanzig Jahre her. Die soziale und ästhetische Wahrheit des Theaters und unserer Gesellschaft ist aber seit geraumer Zeit eine vollständig andere. Was ich kritisiere, ist nicht die Debatte, die sich hinter all dem verbirgt – es ist die Jahrhunderte alte zwischen Kunst und Wirklichkeit, zwischen Autonomie und Realismus -, sondern die klischierten Ideologeme, mit denen da hantiert wird.

Rückblick auf Gestern (Die Postmoderne als Fußnote)
Wenden wir uns dem Gestern zu, das noch fataler als das Vorgestern die heutigen Auseinandersetzungen dominiert: der gerade schon gestreiften Postmoderne. Parallel - und die bundesrepublikanischen Ereignisse überwölbend - fanden gesellschaftlich andere Entwicklungen statt, die der mächtige konservative und trotzdem (oder deswegen?) materialistisch argumentierende Verleger Hubert Burda für weitaus bedeutender und folgenreicher hält: die einst vom Silicon Valley ausgehende technologische Revolution und die globalisierten Wirtschaftsströme, in deren Folge es immer größere Schwierigkeiten gibt, das nationale Ich wirtschaftlich und psychologisch zu definieren. Der Boom der postmodernen Philosophie entstand – ein Paradebeispiel für die Parallelität von Philosophie und Gesellschaft - in etwa gleichzeitig zu diesen Entwicklungen und hat unmittelbar mit der Frage zu tun, inwieweit Drama bzw. Autorenschaft möglich ist. Von Jean-Francois Lyotard stammt die Diagnose, das „Ende der großen Erzählungen“ sei gekommen. Er war der Meinung, dass die Moderne, die immer noch vom bürgerlichen Subjekt und seiner Fähigkeit, sich umfassend welterklärend auszudrücken, zu Ende sei. Die einheitliche Weltschau aus dem Geiste Gottes, der Moral, eines Subjektes sei weder in der Philosophie noch in der Literatur länger möglich. Stattdessen müsse man sich postmodern dem Divergenten, Dissoziierten, dem Heterogenen und Zersplitterten stellen. Der Konsens einer einheitlichen Weltbehauptung sei weg. Das ist natürlich purer Anti-Hegelianismus, der das Ende der Geschichte und das Ende von dialektischen Bewegungen ausruft. Aber: Lyotards Diagnose der Unübersichtlichkeit stammt aus dem Jahr 1979. Und Hans-Thies Lehmanns bahnbrechendes Buch über die Folgen für das Theater stammt von 1999, ist also zwanzig Jahre nach Lyotard geschrieben. Seitdem firmiert in heilloser Begriffsverwirrung alles Mögliche als „Postdramatisches Theater“ und es gibt zwei vorherrschende Tendenzen: Der Autor traditionellen Typus’ ist erledigt, und wer trotzdem so weitermacht wie bisher, gerät unter den Generalverdacht nicht heilbarer ästhetischer Naivität. Der Autor ist fortan jemand, der wie eine Schaumkrone auf der Welle tanzend, in postmoderner Meisterschaft mit dem Vagen und Virtuellen spielt und spielen kann und – ironischerweise - auf dem Umweg des Spiels mit allen möglichen Valenzen seine göttliche Deutungshoheit bewahrt bzw. neu erobert. Denn: die bloße Anhäufung des Aleatorischen und Unbestimmten verhindert ja Autorenschaft, sie braucht schon einen Komponisten. Die zweite Folge der skizzierten Ereignisse ist eine Explosion „performativer“ Theaterformen, die den Autor nicht mehr brauchen, solche Formen aber sind, Hans-Thies Lehmann bemühend, „postdramatisch“ und ergo postmodern. Ich bezweifle, dass das heute noch gilt. Das Schicksal solcher Begrifflichkeiten ist nicht nur in diesem Fall, dass sie in dem Augenblick, wo sie auftauchen, schon nicht mehr stimmen. So laufen die wie immer verspäteten und falschen Argumentationsketten, die das Theater in die nächste Krise stürzen. Derlei mündet bei Theaterleuten wie Kritikern gebetsmühlenartig und selbstredend in den schönsten zwei Sätzen: Der eine „Das Theater ist in der Krise“, der andere: „Das Theater ist, seitdem es existiert, in der Krise“. Aber was sind das anderes als allgemeine Sätze gedankenloser Selbstverteidigungsbemitleidung, um wieder einmal, angeblich mit dem Rücken zur Wand stehend, schwindende Legitimation, mangelnden Rückhalt in der Politik, mangelnden Publikumszuspruch oder einfach schlechte Aufführungen (auch so etwas soll es geben) irgendwie dann doch zu rechtfertigen und gleichzeitig wie ein todkranker Patient, zitternd auf dem Bett die eigene Gesundung zu versprechen, die der Gesunde dem Hohläugigen allerdings nicht zu glauben geneigt ist?

Seit dem Höhepunkt der Postmoderne, den man vermutlich in den Achtziger Jahren verorten könnte, haben sich zwei historisch wesentliche Dinge ereignet: der schon erwähnte Mauerfall und der 11.September 2001, als symbolische und reale Aktion im Kontext des „clash of cultures“.
Was hat das mit dem Theater und seinen Autoren zu tun? Mit diesen beiden Ereignissen, die unser aller Leben beeinflusst und verändert haben, hat sich die Geschichte mit unverstellbarer Macht zurückgemeldet. (Andere Ereignisse wie die Bluttaten an den Rändern von Schengen, die wir mit unseren Steuergeldern alle begehen, oder wie den Völkermord in Ruanda ignorieren wir der Einfachheit halber.) Es war zwar sowieso nie wahr, dass alles, was wir sagen, nichts bedeutet und sich jeder versuchte Sprechakt folgenlos im postmodernen Diskursnebel verläuft, aber es ist seit geraumer Zeit weniger denn je wahr. Die Postmoderne war nie etwas anderes als die narzisstische Pose einer satten Gesellschaft, die Fußnote eines gesellschaftlichen Augenblicks. Es spricht vieles dafür, dass der Einsturz der Twin-Tower für den Westen trotz mehrerer tausend Toter die Erlösung von dem unhistorisch postmodernen Nichts war. Ich zitiere zur Erinnerung Karlheinz Stockhausens berühmte, damals nur unzulänglich begriffene Formulierung: „Was da geschehen ist, ist (...) das größte Kunstwerk, das es je gegeben hat. " Und ich glaube es war Boris Groys, der sagte, der Einsturz des ersten Twin Tower, den man noch für einen Unfall hätte halten können, sei „der Einbruch des Realen“ gewesen, der Einsturz des zweiten – weltweit von den Medien übertragen und für jeden ersichtlich ein kalkuliertes Ereignis – „der Ausbruch der Kunst“. Daß Künstler und Philosophen hierfür ein besonderes Bewusstsein haben, verwundert nicht, ihre spontanen seinerzeitigen Äußerungen sind aus dem Abstand nicht zynisch, sondern Ausdruck realistischer Seismographie über den Zustand des Westens, auch in Bezug auf die Künste: Dies war – das ist meine Überzeugung – die Initialzündung für die Abkehr vom Postmodernen, der Abschied von der Verweigerung von Realität und Geschichte, der Moment der Rückkehr der Geschichte, der Sehnsucht nach Realität und Wirkung, die die Künste seitdem in Bewegung hält.

Gegenwart (Neuentdeckung des Realen und des Subjektes)
Wo also stehen wir heute? Im Grunde stellt sich hier die Frage von Nachhall oder Vorschein, von „Nicht-mehr“ oder „Noch-nicht“. Ich entscheide mich – zugegebenerweise mit einem Anflug von Mutwillen - für Letzteres. Beliebten Unkenrufen zum Trotz behaupte ich, dass wir nicht die Stunde des Pessimismus, sondern die des Optimismus zu markieren haben.
Mit drei (tendenziell katastrophalen) Stichworten möchte ich kurz umreißen, weshalb ich so ungebremst optimistisch bin: das eine Stichwort ist Normalität, das zweite Klarheit, das dritte Diffusion. Katastrophal sind die Stichworte deshalb, weil Theater, das Drama sein will, eigentlich vom Gegenteil lebt: von der Zuspitzung des Außerordentlichen, von Abweichung, von Devianz, von Irritation.

Zunächst zur Normalität. Ich meine damit die Normalität unserer Gesellschaft. Wir haben viele tektonische Erschütterungen, Verwerfungen und Überlagerungen hinter uns und stecken teilweise noch mitten drin: von der größten technologischen Revolution aller Zeiten über die Auflösung unserer Nationalgesellschaften zugunsten multiethnischer Körper, in denen sich Spezialcommunities bilden bis zur radikalen Veränderung überkommener Lebensverhältnisse wie Familie, Arbeit oder Sesshaftigkeit. Die Folge aber ist nicht die restaurative Sehnsucht, sich in altvordere Modelle zurückzuflüchten, sondern das Bemühen, neue Lebensformen zu entwickeln, und so mit den Irritationen umzugehen, die viele erfasst haben. Etwas pathetisch würde ich sagen: von der Rückkehr zum Bourgeois, von der manche Journalisten vor einiger Zeit berichten wollten, kann gar keine Rede sein, wohl aber vom neu erwachten Citoyen. Er will wissen, wie er leben soll, wie er die tradierten Modelle übertragen, anpassen und ändern soll etc. Unsere Gesellschaften versuchen sich neu zu orientieren. Und dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit der Welt außerhalb von Schengen, die ohnehin schon mitten in unseren Gesellschaften ist. Ein Satz wie: „Es existieren mehr Lösungen als Probleme“, von Dirk Baecker in seinem Buch „Postheroisches Management“ (1994) formuliert, spiegelt als Mittelschichtssoziologie vielleicht korrekt diese gated community, ist aber aufs ganze gesehen so falsch wie nur irgendetwas. In der Bezweiflung dieses Satzes könnte sich „Drama“ neu generieren und mit ihm vielleicht auch ein „heroisches Management“.

Zur Klarheit. Das bezieht sich auf die Stoßrichtung dessen, was das Theater heute inhaltlich will. Parallel zu den skizzierten Entwicklungen ist das Theater ziemlich reaktionsstark und mit deutlichen Zielen in einen Zustand der Entideologisierung eingetreten, es will Debatte und Auseinandersetzung, Recherche und Untersuchung statt Thesen und Belehrungen, es will Gespräch statt Schock, Erlebnis statt Kunsttempel, Verbindlichkeit statt Pseudoavantgardismus. Die Zeit der Dekonstruktion als westlich-spielerische (und latent narzisstische) Pose zur Kontingenz ist ebenso vorbei wie der östlich-aggressive Nihilismus. Aber den Wirklichkeits- und Subjekt-Zertrümmerungsposen ist nicht – obwohl es mal ganz kurz danach aussah - die restaurative Rekonstruktion gefolgt. Der Biedersinn von „ich will einfach nur Geschichten von Menschen erzählen“ ist zwar der Kern von Theater, ist aber so billig im Moment nicht zu haben. Wer so redet, greift ähnlich kurz, wie der Bundestagspräsident Norbert Lammert, wenn er, sich gegen Lyotard wendend, die „große Erzählung“ als synonym für eine fehlende „Leitkultur“ forderte (2004)… Nein, das Theater heute sucht den Zuschauer und die Wirklichkeit, von der es umgeben ist. Das Theater heute ist eines, das sich seiner sozialen Verantwortung bewusst ist, ja diese sogar will. Dadurch ist es so lebendig und in seinen Erscheinungs- und Äußerungsformen so vielfältig und mutig wie schon lange nicht mehr. Es ist – mit durchaus doppeldeutigem Zungenschlag - oft a u c h Sozialarbeiter am Gesellschaftskörper: „Sinnproduktion und –reproduktion.com“, eine Agora der Bürgergesellschaft. Und da, wo es das (noch) nicht ist, ist dies zumindest seine Sehnsucht. Es hat sich – nochmals doppelter Zungenschlag – auf die Gesellschaft eingestellt, flüchtet weder (wie nach den Erschütterungen des zweiten Weltkriegs) in einen idealistischen Literatur- und Klassikhimmel, noch rennt es (wie in der Achtundsechzigerzeit) gegen eine (heute ohnehin nicht bestehende) formierte Gesellschaft an, es bleibt auch nicht im postmodernen Vagheitshimmel, sondern geht mit dem Verlust an Mehrwert, den es erlitten hat, produktiv, man könnte auch sagen „erwachsen“, um und erarbeitet sich so möglicherweise einen neuen. Es arbeitet daran, den gegenwärtigen Zustand zu bilanzieren, an Wertefindung und Grundlagenforschung im gesellschaftlichen Raum. In diesem Bemühen sind interessanterweise plötzlich wieder die Wissenschaften, sei es Ethnologie, Naturwissenschaft oder Soziologie zu Partnern des Theaters geworden. Man sucht sich Themen wie „Die Barbaren sind wir“ oder „Glauben“ oder „Natur“ und trägt wie ein Kurator theatrale Aktivitäten zu diesen Komplexen bei. Oder man geht in die Stadt hinein, um die verloren gegangene Reibung zur sozialen Realität wieder herzustellen. Die Aufmerksamkeit, die man da erringen kann, ist unspektakulär und Ergebnis von ernsthafter Arbeit. Auch für die Autoren ist bei diesen Tendenzen ein neuer und ganz und gar anti-postmoderner Raum entstanden. Er symbolisiert sich in dem – wie ich finde etwas zweifelhaften und Shakespeares „Hamlet“ entlehnten – Schlachtruf der diesjährigen Hamburger Autorentheatertage: „Mehr Inhalt, weniger Kunst“.

Zur Diffusion: Hiermit meine ich die Diffusion der ästhetischen Formen. Wenn Theater (mit etwas Glück) Kunst ist und Kunst, verkürzt ausgedrückt, das Bemühen um die ästhetische Bewältigung und Verdichtung der Wirklichkeit ist, dann können wir meines Erachtens in den Bemühungen um das Reale derzeit eine kongenial zersplitterte Vielfalt ästhetischer Formen konstatieren. Sie speist sich aus dem Bewusstsein, dass für den Realitätsgehalt von Theater seine Kommunikationsformen entscheidend sind. Man will real kommunizieren statt ritualisiert, man will Interaktion statt Frontalunterricht, Transparenz und Echtheit des kommunikativen Aktes auf der Bühne statt der „Lüge“ der Verabredung, Sprechakt statt Diskurs und hat Sehnsucht nach dem Realen, dem Echten, dem Wirklichen statt dem Virtuellen und dem Simulierten. Die Spielarten dessen sind so vielfältig wie die Akte möglicher Kommunikation selbst.
Das gilt für die Off-Theater, für die freie Szene, für die Koproduktionsnetzwerke genauso wie für das Stadttheater. Überall findet Arbeit am Wirklichen und Arbeit an der Rückgewinnung des Dramatischen, auch der Autorenschaft statt, wenn auch unter veränderten Bedingungen. Der Autor kommt hier wieder ins Spiel, auch wenn sich seine Begrifflichkeit und Funktion zum Teil gewaltig verändert haben. Aber auch die vielfältigen Theaterformen jenseits des traditionellen Dramas haben sich stark verändert und sich gewissermaßen einmal um sich selbst gedreht: sie sind heute kaum postmodern, sondern meistenteils Arbeit an der Rückgewinnung des Realitätsbezugs. Zwar kann man die Erfahrungen der Postmoderne mit ihrer Problematisierung von Subjekt und Geschichte nicht einfach ignorieren, aber es geht doch immer weniger um das Nicht- Mehr- Dramatische als vielmehr um das Beinahe-Schon-Wieder-Dramatische.
Die Sehnsucht nach dem Einbruch des Realen in die Kunst hat zu einer Explosion von Performance, Happening und Event-Formen geführt, zu theatralischen Kongressen, zu GPS-gestützten Stadtwanderungen, zu einer Renaissance von Augusto Boals jahrzehntealtem „unvisible theatre“ etc. Man sieht, dass das Theater in Bewegung ist, auch wenn es sich dabei sprachlich die Syphilis zugezogen hat und sich in seinen Verlautbarungen einen ebenso modischen wie anmaßenden Ton angeeignet hat, den es der bildenden Kunst entlehnt hat. Kaum ein Theater ohne urbane Interventionen, Themenparks und interaktiven Performances. (Man fürchtet sich schon beim Lesen und will die Realisierung dieser Projekte lieber nicht sehen – vielleicht ist es doch nur ein Straßenfest, das marketingmäßig aufgerüstet wird.) Trotz dieser Verirrungen muß man festhalten, dass es all diesen Akten des sogenannten „Performativen“ nicht um die Auflösung, sondern um die Rückgewinnung des Theatralischen geht, sei es als Interaktion mit dem Publikum, sei es in der Beteiligung des Publikums an Echtzeiterlebnissen. Das kann durchaus dramatisch sein. Das sind die Folgen von Stockhausens Schrei.

Das alles gilt aber nicht nur für frei produzierte Performances, sondern auch für das Stadttheater. Drei Beispiele mögen genügen, um das Bemühen um die Rückgewinnung des Theatralischen und Dramatischen aus dem Geist des Realen zu belegen: Ein Regisseur wie Jan Bosse z.B. hat eine spezielle Publikumsdramaturgie entwickelt. Er nutzt das Theater, in dem oft genug verlogene Kunstkunst behauptet wird, um Kunstkunst zu vermeiden und Schauspieler und Publikum „real“ aufeinanderzuhetzen. Das funktioniert, denn er hat als treuen Feind-Freund die vierte Wand, die er nur permanent niederreißen kann, so lange es sie gibt. Er hat einen Trick des inszenierenden Nichtinszenierens entwickelt, der die traditionelle „Figur“ in Richtung gelebtes unverabredetes Bühnenleben auflöst. Bei kaum einem Regisseur ist das Subjekt des Schauspielers (allen Problematisierungen des Subjekts zum Trotz) so kräftig und ungeschützt erlebbar wie bei ihm. Der Schauspieler wird zur Energiemaschine für den Text eines Autors wie z.B. Shakespeare. Auf den Autor ist er genauso angewiesen wie z.B. Nicolas Stemann, bei dem die Sache anders und doch ähnlich liegt. Auch er braucht einen Autor wie die Luft zum Atmen, auch er bezweifelt das traditionelle Figurenspiel. Aber bei ihm entsteht das Drama aus der Problematik der Kontingenz: Handeln geht nicht, weder als Regisseur noch als Spieler, traditionelle Figuren spielen geht auch nicht, Geschichten erzählen mit konsistenten Figuren ist nicht möglich. Damit ist er auf der Höhe der Zeit, lässt den Abend zwischen Ästhetik und Nicht-Ästhetik, zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, zwischen einer unzweifelhaften Realität und dem Bewusstsein, dass sie nicht zu fassen und auf der Bühne auch gar nicht darstellbar ist, schwingen und treibt den Zuschauer in einen wachen kommunikativen Akt. Beide erfinden auf völlig verschiedene Weise aus dem Bewusstsein, dass die tradierten Theaterstile nicht mehr gehen, Neues und sind große Theatraliker. Sie arbeiten sich an der Problematik der verflossenen Postmoderne ab und behaupten – ähnlich wie René Pollesch in seinen hysterischen Diskursen – das Subjekt so kräftig wie sonst kaum jemand.

Was heißt das für den Autor? Der Autor als ästhetisch sublimierendes Gefäß, der die Dinge sammelt und so ausdrückt, wie man es selbst nie und nimmer könnte, hat es angesichts dieser Gemengelage schwer. Im Stadttheater gibt es ihn, außerhalb dessen nicht oder wenigstens ganz anders.
Das Stadttheater ist aller Dynamik zum Trotz Zentrum der Arbeit mit Autoren geblieben. Und es gibt auch eine Reihe von Autoren, die die Zeit nach der Postmoderne ästhetisch auf der Höhe verarbeiten. Beispielhaft sind dies Elfriede Jelinek, die mit sprachlichen ready mades arbeitet, diese übermalt und damit eine raffinierte Mischung von ungefilterter Wirklichkeitspräsentation und auktorialer Oberhoheit gelungen ist, Zaimoglus „Schwarze Jungfrauen“, die als Text aus der Übermalung dokumentarischen Materials entstanden sind. Sie recyclen, samplen und mixen Vorhandenes und durchschießen es mit dem Autoren-Ich. Roland Schimmelpfennig dagegen bemüht sich darum, durch und durch postmodern geprägt, Geschichten durch komponierte Aleatorik doch wieder zu einer einzigen zusammenzuführen.
Außerhalb des Stadttheaters aber ist für den Autor wenig Platz. Denn alles Performative ist der Versuch der Rückgewinnung des Dramatischen ohne den Autor im klassischen Sinne. Hier wird, wie im Tanztheater, oft der Künstler zum Autor oder, wie in früheren Zeiten der oral history, das Kollektiv, wenn z.B. weblogs zum Material eines Theaterabends werden. Alle schreiben mit. Theater ohne Autoren ist möglich, und zwar sehr gut sogar.
Die Tendenz, den Autor im oben skizzierten Sinne infrage zu stellen, gibt es auch im traditionellen Stadttheater, etwa wenn Alvis Hermanis, der ästhetische Hyperrealist, den Spieler als virtuosen Anti-Virtuosen braucht, um so glaubwürdig und antitheatralisch wie möglich eine Putzfrau oder einen Taxifahrer auf die Bühne zu bringen. Die perfekte Imitation einer Putzfrau braucht aber bei Hermanis keinen Text, sondern die Wirklichkeit ist ihr Text, das Dokumentarische. Deswegen gehen die Schauspieler selbst auf die Suche nach Menschen und Geschichten, nehmen sie auf und spielen sie. Ist so etwas Autorenschaft? Ich würde sagen: jein. Ist so etwas Drama? Ich würde sagen: möglicherweise. Haben Rimini-Protokoll zurecht den Mülheimer Dramatiker Preis bekommen. Ich würde sagen: jein. Oder haben doch die berufsständischen Protestadressen eindeutig recht? Hätten Heinar Kipphardt für „Bruder Eichmann“ oder Peter Weiss für „Die Ermittlung“ den Mülheimer Dramatiker-Preis bekommen sollen, wenn es ihn in den 60er Jahren schon gegeben hätte? Ich würde sagen: ja. Ist Walter Kempowski möglicherweise wegen seines „Echolots“, wo kein einziges Wort von ihm selber stammt, ein größerer Autor als wegen „Tadellöser und Wolff“ – denkbar. Die kunstvolle Montage von Wirklichkeitsmaterial kann Autorenschaft generieren, auch wenn der Autor wie im Fall von Rimini-Protokoll oder Hermanis ein Theaterregisseur ist.
Nun ist aber nicht die Wirklichkeitsnähe eines Textes, sondern seine Welthaltigkeit und die ästhetische Bewältigung des Stoffes ein Kriterium für seine Qualität. Und die ergibt sich bei Hermanis oder Rimini-Protokoll möglicherweise nicht aus dem Text selbst, sondern nur im Kontext mit der jeweiligen Aufführung. Es stellt sich schon die Frage, ob bei aller Sehnsucht nach dem Echten das Echte an sich schon künstlerisch ist, oder ob es nicht doch einen Akt ästhetischer Selbstpräsentation braucht, auch auf der Textebene.

SchwierigkeitenDamit ist man dann allerdings mitten in einem hochkomplexen Kunstdiskurs, der dazu führen könnte, dass Duchamps berühmte Kloschüssel wirklich ein Readymade und also Kunst war, während die Beuyssche Fettecke – offenbar unzulänglich ausgestellt - von den Putzfrauen möglicherweise zurecht mit Unrat verwechselt wurde. Warum soll das Theater von diesen Fragestellungen ausgeschlossen sein? Warum soll der Autor, nur eine von mehreren variablen Größen in dem Spiel, davon ausgeschlossen sein? Warum der Schauspieler? Auch er wird zur Disposition gestellt: sei es bei Rimini, wo „echte“ Diplomaten „echt“ Theaterspielen und ihre Geschichten erzählen, sei es bei Schlingensief, der mit dem nichtkalkulierbaren Verhalten seiner Laien kalkuliert. Sei es in Hanna Hurtzigs „Schwarzmärkten“, wo sich der Zuschauer im Dialog mit Spezialisten sozusagen selbst aufführt und „ausstellt“, während er mit dem Spezialisten spricht. Ob das alles noch Theater ist?

Das Ergebnis ist also die Diffusion ästhetischer Formen,- eine produktive allerdings, die ihren Sinn und ihren gesellschaftlichen Platz hat. Das traditionelle Stadt-Theater hat hiermit aus verschiedenen Gründen seine Schwierigkeiten. Denn es definiert sich aus Autor, Text, Geschichte, Figur und Schauspieler. Genau diese Säulen werden aber infrage gestellt. Die frühere Arbeitsteilung zwischen Off-Bühnen und Stadttheater, zwischen traditionellem Literaturtheater und Avantgarde verwischt mehr denn je und ich wüsste nicht, warum man für eine der beiden Seiten Partei ergreifen sollte. Immer öfter werden kreuz und quer Bündnisse eingegangen, auch beim Berliner Theatertreffen, das seit einiger Zeit auch Produktionen, die nicht aus dem normalen Sprechtheaterbetrieb stammen, einlädt. Die freie Gruppe SIGNA nimmt, provokativ formuliert, einer Produktion z.B. von Luc Bondy den Platz weg und sie kostet den Veranstalter Schauspiel Köln und seine Besucher mindestens eine große Shakespeareproduktion. Auch hat das Theatertreffen den Sieger des Festivals der freien Theater, den Sieger von „Impulse“, eingeladen anstatt z.B. eine Produktion aus Heidelberg oder Bremen. Das sind qualitative Entscheidungen der jeweils Verantwortlichen, die vor dem Hintergrund des oben Skizzierten begreifbar werden. Man sieht: der Paradigmenwechsel im Ästhetischen folgt einer Gesellschaft, die neugierig auf der Suche nach sich selbst ist, und manchmal bei einem „Schwarzmarkt“ mehr erlebt als bei „Tasso“. Dies hat Folgen für die Theaterbetriebe, für Festivals, auch für den europäischen Theaterpreis, den in diesem Jahr in Saloniki u.a. die Gruppe Rimini-Protokoll bekam.

Das Theater ist in Bewegung und das ist das Beste, was ihm passieren kann. Wenn die, die es tragen – Autoren, Schauspieler, Regisseure – produktiv verwirrt werden, kann das nichts Schlechtes sein. Aber das ist kein Schicksalsschlag, sondern Folge einer Gesellschaft auf der Suche nach sich selbst und nach zeitgemäßen Erlebnisformen, nach Erfahrungen außerhalb von einem selbst: nach Wirklichkeit. Ich glaube vor dem Hintergrund der berichteten Entwicklungen, dass „Drama“ und „Autoren“ wieder möglich sind.

Zukunft (Kunst?)
Also ist alles gut? Nein. Zwei Anmerkungen zum Mangel, verbunden mit der Zuversicht auf baldige Besserung: Die erste: Es hat, von wenigen Ausnahmen wie Elfriede Jelinek abgesehen, schon lange kein neues Stück gegeben, das in der Öffentlichkeit einen bedeutsamen Rang gehabt hätte. Die wesentlichen ästhetischen Impulse kommen schon seit geraumer Zeit nicht vom Text. Das aber müsste für einen Autor der Maßstab sein. Denn es waren ja immer wieder Autoren, die gesellschaftlich Wirkung hatten, wenn man z.B. an die europaweit gleichzeitige Uraufführung von Peter Weiss „Ermittlung“ denkt. Man muß nicht immer auf die Überpräsenz der Medien hinzuweisen, um zu beweisen, dass das heute nicht mehr möglich ist. Und es waren immer wieder Autoren, denen das Theater eine ästhetische Provokation verdankte, die es erst einmal bewältigen musste und oft genug scheiterte, sich aber an und mit den Autoren veränderte. Dies waren z. B. Georg Büchner, die Revolte der Naturalisten, Brecht, Artaud, Heiner Müller, Botho Strauß oder eben Elfriede Jelinek. Und ich gestehe, dass meine Hoffnung, dass dies von Schreibwerkstätten und Dramatikerwettbewerben ausgehen könnte, gering ist. Diese Institutionen sind für den Eigensinn, den das bräuchte, nicht geeignet. Wenn dies derzeit fehlt, müssen wir nicht reflexartig die Zeit oder Förderprogramme verantwortlich machen, die das verhindern – es gibt genug Geschichte, genug Politik, genug Geschichten und Stoff fürs Drama.
Drama kommt übrigens gemäß dem erfrischend einfachen Wikipedia-Eintrag von griechisch „Handlung“ und „ ist Theater mit Textgrundlage, im Unterschied zum improvisierten Stegreiftheater. Das Hauptkennzeichen des Dramas nach Aristoteles ist die Darstellung der Handlung durch Dialoge. Dadurch unterscheidet es sich in der Antike vom erzählenden Epos – seit der Neuzeit unterscheidet es sich dadurch hauptsächlich vom Roman. Nach modernem Verständnis sind Dramen dafür geschrieben, durch Schauspieler im Theater aufgeführt zu werden.“

Die zweite Anmerkung bezieht sich auf den schier unbändigen Realitätshunger, der – das wage ich zu prognostizieren - auch wieder abflachen wird. Denn nirgends steht geschrieben, dass der Autor hauptsächlich Agent des Wirklichen ist, das Theater mit seinen Regisseuren übrigens auch nicht. Es ist langfristig eine Sackgasse, jeden Klassiker von der „Orestie“ bis zu „Don Carlos“ auf die Wohnküche herunterzurechnen. Christopher Schmidt verortete den Theaterautor vor einem Jahr „zwischen Götterfunken und Live-Chat“. Und er schloß mit der Pointe: „kein Gott gab ihm zu sagen, was wer leidet, sondern das Telefonbuch von Hamburg.“ Ich glaube, dass gegen all die Beschäftigung mit dem Realen auf vertrackte Weise bald die Sehnsucht nach mehr Kunst, nach Vision, nach Radikalität, nach Entwürfen, die sich nicht im Hier und jetzt erschöpfen, nach Archaik, nach Geschichte und Geschichten erzählen, zurückkommt. Vielleicht ist hier das wahrhaft Experimentelle zu finden. Vielleicht erfüllt sich dann Peter Handkes Wunsch: „Wenn nur beides, das Poetische und das Politische, eins sein könnten.“ Vielleicht ist das die Stunde großer Theatervisionäre wie Jürgen Gosch, Dimiter Gotscheff oder Luk Perceval, die nicht klein-, sondern hoch rechnen. Sie sind Schmuggler des Visionären im Realen, suchen die autonome Kraft der Kunst und wehren sich als Realisten, die sie trotzdem sind, dagegen die Kunst zum Sklaven der Wirklichkeit zu machen. Die Kunst enthält bei ihnen (und vielleicht auch bei Talenten, von deren Existenz wir noch gar nichts wissen) das wahrere Leben. Und sie verzichten deswegen – übrigens genauso wie z.B. Nicolas Stemann oder Jan Bosse – nicht auf den auf der Bühne „gelebten Augenblick“, den Peter Kümmel unlängst noch auf deutschen Bühnen vermisste. Die Sehnsucht nach Poesie und großen realitätsgesättigten Entwürfen ist da. Und wir hungern nicht nur nach solchen Regisseuren, sondern auch nach Autoren, die das mutig wagen. Denn, ich schließe mit einem meiner Lieblingssätze: „Kunst ist Magie, befreit von der Lüge Wahrheit zu sein“ (Adorno).

Es war mir ein Bedürfnis, die Debatte um das autoren- und dramenlose Theater ein bisschen aus dem modischen Mantel zu lösen und sie in einen Kontext zu stellen. Ich hoffe, dass dies wenigstens stichwortartig gelungen ist und bin zuversichtlich, dass das wahrhaft Experimentelle in diese Richtung gehen könnte.



Joachim Lux