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Fraktus haben Techno erfunden – so die Behauptung. Pop lebt von Behauptungen

 

»I can do whatever I want to. I talk to me, I even agree.« Blondie

Fraktus haben Techno erfunden – so die Behauptung. Pop lebt von Behauptungen, vom Vorgeben. Von der Möglichkeit und Freiheit, etwas zu sein, was man sein will. Das hat Tradition in der Popkultur: Das freie Spiel mit Identitäten, schönem Schein und Kunstfiguren ist nicht nur Gang und Gebe, sondern praktisch eine der Grundbedingungen, um im immer schnelllebigeren Popzirkus überhaupt bestehen zu können. Neues Image = neues Produkt = neuer Gewinn. So die Rechnung, die ungefähr genauso verlässlich aufgehen dürfte wie „mehr wirtschaftlicher Wachstum = mehr Wohlstand für alle“. Immer mehr, immer neu, immer origineller – lautet die immer gleiche alte Laier. Und das nicht erst seit David Bowies Wandlung vom glamourösen Ziggy Stardust zum koksenden Thin White Duke. Bereits DaDaisten und Surrealisten wie Marcel Duchamps alter Ego Rrose Sélavy haben vorexerziert, was heute allgegenwärtig ist. Wie man diesen Film konsequent über Jahrzehnte durchzieht, zeigt Pop-Chamäleon Madonna: Outfits und Frisur wandeln sich, aber im Kern ist sie sich treu – einmal Material Girl, immer Materialistin.

»If I kick out my devils my angels might leave.« Iggy Pop

Wie schwierig und anstrengend dieser permanente Innovationszwang ist, zeigen Kunstfiguren wie Lady Gaga & Co, die laut Klatschpresse immer haarscharf am Drogentod oder zumindest Burn-Out vorbeischrammen. Aber auch das hat ja bekanntlich Tradition im great Rock\'n\'Roll-Circus – ein Leben auf Messers Schneide à la Iggy Pop, on the edge. Selbstzerstörung und Selbstinszenierung gehen bei Pop- und Rockstars oft Hand in Hand, von Jim Morrison, Jimi Hendrix und Janis Joplin über INXS-Sänger Michael Hutchence bis zu Kurt Cobain oder Amy Winehouse, die posthum häufig eine Glorifizierung und Heroisierung religiöser Ausmaße erfahren. Der Hang zur Selbstzerstörung verleiht der Selbstinszenierung nicht nur etwas Heroisches, sondern auch etwas Authentisches, Wahrhaftiges oder Ursprüngliches, wie es direkt der Tradition des romantischen Genie-Glaubens im 19. Jahrhundert entstammen könnte. Es handelt sich hier um eine Vorstellung von Authentizität, „in der das Künstliche dem Spontanen gegenübersteht, das Mechanische dem Lebendigen, das Aufrichtige dem Strategischen und folglich auch die echte Empfindung, die einen ungewollt erfasst, dem bloß Nachempfundenen“, wie die französischen Soziologen Luc Boltanski und Ève Chiapello in „Der neue Geist des Kapitalismus“ ausführen.

»The image is no image and it\'s not what it seems« Siouxsie & the Banshees

Inzwischen hat das Konzept „Authentizität“ längst an Glanz und Glaubhaftigkeit verloren. Bereits Jean-Paul Sartre spricht nicht nur von der Freiheit des Menschen, sich zu entwerfen, sondern auch von einer Unaufrichtigkeit, einem Sich-Selbst-Belügen, einem Bemühen, etwas zu vermitteln oder darzustellen, von dem man weiß, dass es nicht so ist, das einem aber vorteilhaft oder erstrebenswert erscheint. Sartre stellt dieser Unaufrichtigkeit die Ehrlichkeit als Antithese entgegen, die er aber als ein unerreichbares „Seinsideal“ beschreibt, welches nicht zu verwirklichen sei. Foucault philosophiert später: „Aus dem Gedanken, dass uns das Selbst nicht gegeben ist, kann m.E. nur eine praktische Konsequenz gezogen werden: wir müssen uns wie ein Kunstwerk begründen, herstellen und anordnen.“ Da ist es nur noch ein kleiner Sprung zur Postmoderne, wo so witzige Begriffe wie „authentische Inauthentizität“ als Bezeichnung für das Spiel mit dem Authentischen geprägt werden, wie sie auch im postdramatischen Theater gerne verwendet werden.

»Eine eigene Geschichte aus reiner Gegenwart« Blumfeld

Von der somit von jeglichem Authentizitätsrechtfertigungsdruck befreiten performativen Selbstinszenierung im Hier und Jetzt ist es da nur ein kleiner Schritt zurück nach vorn zum Erfinden und Imaginieren einer eigenen Geschichte und Vergangenheit – auch das hat Tradition in der Popkultur (oder in der deutschen Nachkriegsgeschichte – aber das ist eine andere Geschichte). Ein harmloses Beispiel aus den 1990ern: Middle-Class und Private-School-Boys wie Damon Albarn von der britischen Band Blur sprechen plötzlich Cockney-Slang und spielen einen fiktiven Working-Class-Background vor, um sich mehr Street Credibility und ein Image als bad boy zu verschaffen. Auch das ist Pop: Die Geschichte „Vom Ghetto zu Top-of-the-Pops“ klingt besser als „Wohlstandskind vermehrt Wohlstand“, also wird sie so erzählt. Heute spricht der Kulturkritiker Mark Fisher vom Verlust des Glaubens an eine bessere Zukunft. Was ist da naheliegender als der Glaube an eine bessere Vergangenheit – selbst, wenn diese Vergangenheit nur fiktiv ist: Vergangenheitsutopie als Gegenmittel für eine zeitgeistige „hedonistische Depression“.

Auch ein gutes Beispiel für fantasievolle Narrative: Die Geschichte der Punk-Rock-Band Spinal Tap, die Rob Reiner 1984 im Film „This is Spinal Tap“ erzählt. Das Leben auf Tour wird bis ins kleinste Detail dokumentiert, von den großen Momenten auf der Bühne bis zu den kleinen Problemen wie onanieren im Tourbus. Was dabei bis heute vielen nicht ganz klar ist: Die Band Spinal Tap hat es nie gegeben, der Film ist reine Fiktion und bedient sich lediglich der üblichen Stilmittel eines Dokumentarfilms. Im Englischen gibt es hierfür die sehr treffende Bezeichnung mockumentary – eine Kombination aus documentary und mockery, also grob übersetzt Verarschung. Denn auch das ist Pop: eine große Verarschung.

»Don\'t know what I want but I know how to get it« Sex Pistols

Die Sex Pistols und Regisseur Julien Temple haben diesem gigantischen Schwindel 1980 ein filmisches Denkmal gesetzt mit dem passenden Titel „The Great Rock\'n\'Roll-Swindle“. Erzählt wird die Geschichte der Sex Pistols von ihrer Gründung über ihren Aufstieg bis zu ihrer Auflösung aus Sicht ihres damaligen Managers Malcolm McLaren. McLaren gibt vor, durch geschickte Manipulationen die Sex Pistols an die Spitze des Musikbusiness gebracht zu haben, um sowohl Chaos zu verbreiten als auch Kohle von den großen Plattenfirmen abzugreifen – in wie weit McLarens Sicht etwas mit der Realität zu tun hat bleibt fraglich, aber die haarsträubende Geschichte wird auch gerne als satirischer Kommentar auf die Musikindustrie und ihre Verwertungsstrategien gelesen.

»All you need is Cash« mockumentary von Eric Idle, 1978

Unterm Strich wird ohnehin alles auf seinen Marktwert, auf seine Verwertbarkeit hin überprüft: Frustrierte junge Menschen ohne Aussichten auf eine lebenswerte Zukunft prägen Ende der 1970er Jahre Slogans wie „No Future!“ und spucken auf die allgegenwärtigen BOFs (Boring Old Farts)des Establishments. Was dann geschah? Punk wird zum Erfolgskonzept – allerdings weniger als Gegenkultur denn als kreativer Impulsgeber: Mit rebellische Attitüde und offensiv zur Schau gestelltem Selbstbewusstsein werben u.a. Wirtschaftsmagazine wie Business Punk oder Deosprays. Auch die ursprünglich improvisierten und selbst gebastelten Klamotten wandern von der Gosse auf den Laufsteg – wo sie seitdem alle Jahre wieder als edgy Retro-Trend aus der Mottenkiste geholt werden und wo der Slogan „No Future“ eine ganz neue Bedeutung erhält. Da vereinen sich dann sogar Punks und Hippies: in der gemeinsamen Hölle kapitalistischer Vermarktung ehemaliger Protest- und Subkulturen. Theater spielt hier gerne eine Vorreiterrolle (so wie Punk eine traurige Vorreiterrolle für neoliberale Identitäts- und Selbstbewusstseinskulte einnimmt).

»Hör mit Schmerzen« Einstürzende Neubauten

Das Schauspielhaus holte bereits in den 1980ern die Avantgarde-Band Einstürzenden Neubauten mit ihren aus Schrott und Industrieabfällen gefertigten Instrumenten auf die Bühne, um den  Theatergängern mal einen wohligen Schauer über die Trommelfelle zu jagen. Später erarbeiteten die Einstürzenden Neubauten mit Heiner Müller die von Kritikern und Publikum gefeierte „Hamletmaschine“ (1990), einzelne Mitglieder der Band wie FM Einheit oder Blixa Bargeld sind immer wieder an Theaterprojekten beteiligt (FM Einheit z.B. bei „Yossel Rakovers Vendung Tsu Gott“ im Thalia in der Gaußstraße).

»It is a tale told by an idiot, full of sound and fury, signifying nothing« Shakespeare

Theater und Popkultur: Ist das jetzt noch originell?
Kunst darf alles, in der Kunst ist alles erlaubt. Genau wie Pop. Pop darf alles, im Pop ist alles erlaubt – solange es sich verkaufen lässt. Kunstpop ist somit eine naheliegende Verbindung: So tun als ob man alles darf – und heimlich darauf achten, dass es sich verkaufen lässt. Daher sind Theater und Kunstpop eine ideale Verbindung: Man bietet eine Bühne für etwas, was so tut als ob es alles darf – so etwas kommt immer gut an. Oder wie es in „Der neue Geist des Kapitalismus“ so schön heißt: „Doch alles ist nur vorgetäuscht, alles ist geplant. Das Vorspielen der Differenz ist einem äußeren Zwang unterworfen – dem Vergnügen der Zuschauer. Alles ist nur Lug und Trug.“
Und die Moral von der Geschicht? Traue einem Künstler nicht. Oder sonst irgendjemandem, der um Aufmerksamkeit bettelt. Denn das tun wir doch alle, wir kleinen selbstverliebten Selbstdarsteller: um Aufmerksamkeit betteln.


Adrian Anton ist Kulturwissenschaftler und schreibt seit 2009 auf anton.theaterblogs.de über Theater und die Welt


Adrian Anton