Die Ratt
en (F
assung des Thali
a Theaters)

KUNST OHNE RISIKO IST KITSCH

KUNST OHNE RISIKO IST KITSCH

Die Ratten
Fassung des Thalia Theaters

Letter of Intent

Hauptmanns Anliegen war es zu zeigen, dass es auch im Alltag, der uns umgibt, Tragödien stattfinden und nicht nur in den gehobenen Kreisen, die die Klassiker bevölkern. Diese Botschaft ist angekommen. Andere Fragen, die Hauptmanns berühmtestes Drama aufwirft, sind noch offen.    
Mit unseren Änderungen wollen wir Hauptmanns Tragikomödie mehr auf gegenwärtige, uns betreffende Verhältnisse beziehen und gleichzeitig versuchen, dass Dilemma des naturalistischen Theaters (und des Theaters überhaupt) zu präzisieren: Wenn im Theater alles Spiel ist, alles nur gespielt ist, heißt das: die gesamte Wirklichkeit, die es zeigt, verwandelt sich in Spiel. Das ist das Glück und die Freiheit des Theaters. Aber es ist auch sein Unglück, denn es kommt nie zur Wirklichkeit selbst. Das wird allerdings erst sichtbar, wenn man dieses Problem selbst auf die Bühne bringt. Wenn man auf der Bühne das Theater gegen die Wirklichkeit stellen will, ist auch diese Wirklichkeit wieder nur gespielt. Deshalb ist der Besuch bei den „wirklichen Pennern“, den Einar Schleefs Stück „Die Schauspieler“ zum Thema hat, auch nur Theater. Aus dieser Falle kommt Theater, solange es Theater bleibt und nicht wirkliches Leben wird, nicht heraus. (Wenn es sich in wirkliches Leben verwandelt, ist es allerdings kein Theater mehr.) Das zeigt schon Hauptmanns naturalistisches Drama, wird aber durch die Einfügung der Schleef-Szene noch deutlicher. Es ist vielleicht zu hoch gegriffen in diesem Umstand „die Tragödie des Spiels“ zu sehen. Denn zur Tragödie wird das Spiel erst dann, wenn es im Leben wirksam wird. Das zeigt die Geschichte der Frau John, die versucht auf der Basis einer Lüge, wie sie im Theater jeden Tag gespielt wird, ein Paralleluniversum zu kreieren, in dem die Lüge wahr wird und so das Leben selbst verändert: aus einer Lüge wird eine neue Wirklichkeit, solange keiner diese Lüge aufdeckt. In unserer Gesellschaft, die sich als Spektakel begreift, in der Schein und Fiktion dominieren und Fragen nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit altmodisch wirken, erweist sich das Spiel der Frau John als symptomatisch.

Synopsis (Thalia-Fassung)
 
1. Akt
Der in Scheidung lebende ehemalige Theaterdirektor Harro Hassenreuter wohnt mit seiner Tochter in einem leerstehenden Theater in Berlin. Dort hält er sich mit einem Kostümverleih und mit Schauspielunterricht über Wasser. Auf seiner Probebühne trifft er sich auch mit Alice Rütterbusch, der jungen Schauspielerin, die in den besten Tagen seiner Karriere seine Schülerin war, zu einem Rendezvous. Zur gleichen Zeit und am gleichen Ort hat auch Hassenreuters Tochter Walburga ein heimliches Treffen mit ihrem Nachhilfelehrer dem Theologiestudenten Erich Spitta arrangiert, aus dem nun aber nichts werden kann. Walburga läuft der engsten Mitarbeiterin ihres Vaters Frau John in die Arme, die ihrerseits auf der Probebühne nach dem Rechten sehen wollte, und bittet sie ihrem Vater nichts von ihrer Anwesenheit zu erzählen.
Nun macht sich Spitta an der Tür bemerkbar und wird wider Erwarten nicht von Walburga sondern von ihrem Vater empfangen. Geistesgegenwärtig nutzt Spitta die Gelegenheit, um zu fragen, ob er wohl „Talent zum Schauspieler“ habe und Privatstunden bei Hassenreuter nehmen könne.
Hassenreuter rät Spitta dringend ab, verspricht aber, ihn zu unterrichten. Nun erscheint Walburga und trifft statt auf Spitta auf ihren Vater, der nun den eigentlichen Grund für Spittas Anwesenheit erkennt und diesen und seine Tochter zur Rede stellt.

2. Akt
Jette John hat eine neue, ziemlich perfekte Küche (selber aufgebaut) und seit Jüngstem auch wieder ein Baby, nachdem ihr erstes Kind wenige Tage nach der Geburt gestorben ist. Ihr Mann Paul John, der in den letzten Jahren in Altona als Maurerpolier gearbeitet, will nun dauerhaft bei der Familie bleiben. Dem häuslichen Glück scheint nichts mehr im Wege zu stehen und weil beide arbeiten ist auch genug Geld da. Das einzige, was dem Ehemann nicht passt, ist, dass das Kind ausgerechnet Bruno heißen soll, so wie der Bruder seiner Frau, der eine zwielichtige Gestalt mit kriminellen Neigungen ist, den Jette John aber über alles liebt und der, wie sie erklärt, sogar statt des abwesenden Vaters bei der Geburt dabei war. Und auch dass Frau John so gar nichts mehr von dem kranken Säugling wissen will, mit dem die verwahrloste Selma in der Küche auftaucht, stört ihn. Hassenreuter kommt um zur Geburt des Kindes zu gratulieren. Als passendes Geschenk hat er Handpuppen mitgebracht. Man trinkt auf das Wohl des Kindes. Auch Spitta erscheint, um sich aus dem Kostümfundus bei Frau John eine alte Jacke zu leihen, weil er einen Obdachlosen aus Maxim Gorkis Nachtasyl probieren will. Als Hassenreuter und die Johns die Küche verlassen, ist Spitta allein. Plötzlich taucht Walburga auf und spielt Spitta mit Hilfe der Handpuppen Heiner Müllers „Herzstück“ vor. Mit Zitaten aus Theaterklassikern von Shakespeare bis Goethe versuchen die beiden sich über ihre Empfindungen zueinander klar zu werden. Als Frau John mit der Jacke aus dem Fundus kommt und Walburga und Spitta sich verabschieden, betritt Pauline Piperkacka, eine junge Frau die Küche. Nun bahnt sich die Katastrophe an. Es stellt sich heraus, dass diese junge Frau die wirkliche Mutter des Babys ist. Frau John hat es ihr, die sich in einer schweren sozialen Notlage befand, unter dem Siegel äußerster Verschwiegenheit abgekauft, und es dann überall sogar ihrem Mann gegenüber als ihr eigenes ausgegeben. Nun will Pauline ihr das Geld zurückgeben und ihr Kind wiederhaben. Frau John fällt aus allen Wolken, wirft Pauline Vertragsbruch vor, verspricht aber die Übergabe des Kindes für den nächsten Tag, an dem Pauline mit einer Sozialarbeiterin wiederkommen will.

3. Akt
Der 3. Akt spielt wieder auf Hassenreuters Probebühne (und gleichzeitig wie das gesamte Stück trivialerweise auch auf der Bühne des Thalia Theaters, denn wir befinden uns ja in der Aufführung eines Theaterstücks). Dort erhält Spitta seine erste Privatstunde. Geprobt wird die Figur des Kleschtschs aus Maxim Gorkis „Nachtasyl“. Was der ehrgeizige Spitta dem Direktor und dessen Freundin Alice Rütterbusch anbietet, erregt deren Missfallen aber auch Heiterkeit. Es entspinnt sich eine verzwickte Debatte über die Grenzen und Möglichkeiten des Theaters. Während Spitta dem Theater mangelnden Wirklichkeitsbezug, Altersstarrsinn und Kommerzialität vorwirft, vertritt Hassenreuter, dem solche Kritik aus seiner eigenen Jugend wohlvertraut ist, die Freiheit und zeitlose Wahrheit der Kunst und die Trivialität ihrer Herstellung, die Technik und Übung verlangt.
Beide wollen die Freiheit der Kunst, aber Hassenreuther findet sie in klassischen Texten, in der Schönheit und Heiterkeit der Kunst realisiert, während Spitta ein riskantes Theater will, dass sich auf die Schrecken der Wirklichkeit bezieht. „Kunst ohne Risiko ist Kitsch.“ Das Theater thematisiert schon bei Hauptmann auf dem Theater seine Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, das Nachdenken über das Spiel wird selbst zum Spiel. Und das führt zu paradoxen Situationen.
Zwischendurch erscheint Frau John, die sich nicht anmerken lässt, in welch bedrohlicher Situation sie steckt. Offenbar um die Übergabe des Kindes an die wirkliche Mutter zu vermeiden, verabschiedet sie sich, um mit ihrem Kind zur Schwägerin aufs Land in die Sommerfrische zu reisen.
Der Disput Hassenreuters und Spittas endet mit der Frage. „Kann man einen richtigen Schauspieler mit einem richtigen Penner verwechseln?


Zwischenspiel Einar Schleef  „Die Schauspieler“
Hassenreuther, Spitta und Alice versuchen diese Frage zu beantworten, indem sie zu den „richtigen Pennern“ gehen, die im sogenannten Knochenkeller des Theaters hausen. Sie treffen diese Abgestiegenen und Ausgestoßenen vor einem großen Feuer. Unter ihnen ist auch Sidonie Knobbe, die Schauspielerin, die mit ihren beiden Kindern im Knochenkeller lebt und auch Bruno, Jette Johns böser Bruder. Hier wollen nun die Schauspieler von den wirklichen Menschen, bzw. den richtigen Pennern, etwas für ihre Bühnenkunst lernen. Aber weil ja das Theater vom Spiel lebt und im Theater alles nur gespielt ist, sind diese wirklichen Menschen natürlich genauso Schauspieler wie sie selbst. Wenn man auf der Bühne das Theater verlässt, betritt man es gleichzeitig wieder. Das ist vielleicht die Tragik des Spiels, es bleibt immer Spiel, auch da wo es behauptet, kein Spiel mehr zu sein. Es kommt, solange es Theater ist, nie zur wirklichen Wirklichkeit sondern immer nur zur Wirklichkeit der Fiktion – und nur insoweit die wirkliche Wirklichkeit selbst auf Fiktionen basiert, kann das Theater der Wirklichkeit nahe kommen. Schleefs Asylszene spricht genau das aus: was in dieser Realität an Freiheit und Exzess stattfindet, entspricht eigentlich genau dem, was gewöhnlicher Weise im Theater stattfindet: „Jedes moderne Stück bedient sich solcher Freiheiten.“, sagt die Ex-Diva Sidonie Knobbe, als es im Knochenkeller zum Exzess kommt.


4. Akt
Zurück aus der „Realität“ auf seiner Probebühne muss Hassenreuter allerdings feststellen, dass die Welt Überraschungen und Irrsinnigkeiten bereithält, die man selbst im Theater schwer erfinden kann. Pauline Piperkacka ist, wie angekündigt, mit der Jugendamt Mitarbeiterin Frau Kielbacke erschienen, um wie vereinbart, ihr Kind von Frau John abzuholen. Hassenreuter findet die beiden auf seiner Probebühne, wo sie Frau John zu finden hoffen. In deren Wohnung haben sie ein Kind, aber nicht die Frau John gefunden. Wie Hassenreuter mit einem Blick feststellt ist das Kind, dass todkrank ist, nicht das Kind, das er bei Frau John gesehen hat. Es ist das kranke Kind der ehemaligen Schauspielerin Knobbe, welches Frau John mit Hilfe von Knobbes Tochter Selma, der Frau Piperkacka statt deren eigenem unterschieben wollte. Bevor sich diese unmögliche Situation klärt, in der zwei Personen mit völliger Gewissheit behaupten, die Mutter ein und desselben Kindes zu sein, stirbt das Kind.


5. Akt
Im letzten Akt zieht sich die Schlinge zusammen und Frau Johns klug eingefädelter Versuch, durch den heimlichen Kauf eines Kindes ihr Familienleben zu optimieren, scheitert total. Zunächst stellt sich heraus, dass Bruno, der Piperkarcka einschüchtern sollte, diese umgebracht hat. Hier verwandelt sich das Spiel in Verbrechen. Jettes Mann ist der letzte der alles erfährt. Jette John hat ein bisschen Komödie gespielt und die möglichen Folgen nicht einkalkuliert. Sie ist aber immer noch der Überzeugung, dass sie richtig gespielt hat, weil sie überzeugt ist, dass das Leben genauso mit Fiktionen und gut gemeinten Lügen operieren muss wie das Theater.
Nur dass ihr Mann nicht mitgespielt hat und als die Sache auffliegt, kein Verständnis entwickelt, ist für sie unverzeihlich. Anders als bei Hauptmann bringt sich Jette nicht um, sondern zieht sich den Kittel an und stürzt sich, als wäre nichts geschehen, mit einem fröhlichen Lächeln, dem niemand ansehen kann, was geschehen ist, in ihre „Zitzifus“-Arbeit im Theater.
 


Carl Hegemann