Die Heimat, der Tod und das Nichts

42.500 Zeichen über die Heimatdichterin Elfriede Jelinek: kurz und bündig Von Joachim Lux

„Nicht bei sich und doch zu Hause“
Elfriede Jelinek

Der Nobelpreis käme ihr – abgesehen von dem Geldsegen – wie eine Strafe vor, meinte Elfriede Jelinek. Plötzlich wurde sie, die Scheue, von der Weltöffentlichkeit grell ausgeleuchtet. Die Dichterin antwortete auf die ihr eigene Weise mit der Positionsbestimmung „Im Abseits“: Nichts, was man tue, zähle; das einzige, was man ernte, sei ein Verweis. Das ist für eine erklärte Moralistin ein katastrophaler Befund, ihr bleibt „nur“ die Ästhetik. Ästhetik versus Moralismus ist, allen Scheinwerfern zum Trotz, aber nur eines der immer noch schwer begreifbaren Spannungsfelder, aus denen heraus sie arbeitet und schöpft, andere wären hinzuzufügen: der Drang zu psychoanalytisch unterfütterten, archaisch-antiken Konstellationen und ihre erklärte Sehnsucht nach Oberfläche („Ich will seicht sein!“), der Haß auf die Unterhaltungsindustrie und das leidenschaftliche Surfen im weltweiten Netz, das Spiel mit den Möglichkeiten der Mode und die Affinität zum Tod. Es scheint überhaupt so zu sein, daß all ihre Texte, unabhängig von ihrem jeweiligen Gegenstand, mit großer Obsession um den Tod kreisen, um ein Phänomen also, das wir als existentielles und politisches Phänomen – wie keine Gesellschaft zuvor – gelernt haben zu verdrängen. Das Jelinek‘sche Äquivalent hierzu ist der permanente Redezwang, seine Kehrseite die Angst vor dem Abhandenkommen der Sprache und in Konsequenz hieraus: das Schweigen. Wie geht all das zusammen? Geht es überhaupt zusammen?

Vor zwanzig Jahren
Köln vor zwanzig Jahren, im Herbst 1986: Das erste Treffen mit Elfriede Jelinek. Schon damals hatte sie, vor allem durch „Die Klavierspielerin“, den Ruf einer besonders radikalen Autorin, umso größer die Überraschung, eine scheue und zarte Frau kennenzulernen, durchsichtig und undurchschaubar. Mitten im häßlichen 50er-Jahre-Köln, dieser kriegszerstörten Stadt, saß mir ein Fremdling gegenüber, eine Wiener Blume, eine auf eigentümliche Weise verspätete fin-de-siècle-Figur, eine feingeistige Musikerin mit einem Faible für neue Musik wie auch Schubert und eine engagierte Kommunistin zugleich. Aus heutiger Sicht klingt es seltsam, aber das war eine Mischung, die in Deutschland undenkbar war. Hier war man entweder verschlampt links oder großbürgerlich fein, beides zusammen war ideologisch verpönt und allenfalls in romanischen Ländern denkbar. Auch die eigenartige Melange von Weltzugekehrtheit und Weltabgewandtheit, von Engagement und Ästhetik war damals schon da, sie ist ihr bis heute geblieben und so vielleicht eine Wiener Spezialität. So ist Elfriede Jelinek schon vor zwanzig Jahren, und sie ist es heute noch, wenn sie in Yamamoto-Klamotten durch die Stadt streicht, sich tief verhüllt und unerkannt bleiben will, um sich später zu Hause per Internet und e-mail mit der Welt zu vernetzen und am Computer das Messer zu wetzen. Schon damals hatte sie die (gelegentlich noch überwindbare) Scheu, öffentlich aufzutreten; sie ihr anläßlich ihrer Weigerung, nach Stockholm zur Nobelpreisverleihung zu fahren, neunmalklug als Attitüde auszulegen, ist von jener Dummheit, die ihr Landsmann Ödön von Horváth attackierte.

Mitte der 80er-Jahre war Elfriede Jelinek als Theaterautorin (anders als in der Prosa) vor allem ein umstrittenes Gerücht. Kaum jemand im männlich dominierten Literaturbetrieb hatte ihre Texte wirklich gelesen oder verstanden. Mit Eifer las man die neuesten angelsächsischen Eintagsfliegen, gleichzeitig schienen Elfriede Jelineks Texte nicht übersetzbar, als läge Österreich hinter dem Ural. Man war sich einig: diese Texte, die in ihrer Tendenz schon damals auf eine geschlossene Handlungsdramaturgie verzichteten, eine angeblich typisch weibliche, mäandernde Kreisdramaturgie hatten und überdies eine Sprache, die unmöglich normale Figurensprache sein könne – das sei die viel diskutierte weibliche Ästhetik, zumal ja auch (als ob das ein Beweis wäre) die Themen oft „weiblich“ seien. So reihte man Elfriede Jelinek ein bei Autorinnen wie Gisela von Wysocki oder Gertrude Stein, deren Texte man ebensowenig spielen zu können glaubte. Auch die Autorinnen selbst stimmten einer solchen feministischen Positionsbestimmung zu. Noch heute begründet Elfriede Jelinek ihre eigenartige Sprache aus der weiblichen Arbeit des Webens und Strickens und erklärt ihren Redezwang und den ihrer Figuren aus dem marginalisierten weiblichen Sprechen, auf das sowieso niemand hört. Und auch thematisch ging es ihr damals in zahlreichen Texten um die Position der Frau in der Gesellschaft und um die Gegenwehr des unterdrückten Geschlechts: Sie schrieb Ibsens „Nora“ fort (1979), ein Stück über die Musikerin Clara Schumann (1982), erlebte ihren literarischen Durchbruch mit dem biographisch interpretierbaren Roman „Die Klavierspielerin“ (1983), beschäftigte sich in „Burgtheater“ (1985) mit der NS-Biographie der großen österreichischen Schauspielerin Paula Wessely und schrieb gerade an ihrem jüngsten Stück „Krankheit oder moderne Frauen“ (1987). Ich gestehe, daß ich damals skeptisch war, ob solche Definitionen weiblicher Ästhetik wirklich hilfreich seien und hatte den Verdacht, daß sie eher der Ausdruck von männlicher Ratlosigkeit und weiblicher Selbstbestimmungswut waren: Versuche, dieses neue Schreiben zu fassen bzw. zu etikettieren. Später irgendwann wollte der gefürchtete Marcel Reich-Ranicki (meiner damaligen Meinung nach zurecht), die ganze Debatte beenden, indem er sagte, es gäbe keine weibliche, sondern nur schlechte und gute Literatur. Natürlich war das unlauter, denn es war ihm nur ein Alibi, um auf seine männlichen Lieblingsbücher „Effi Briest“ und „Madame Bovary“ zu sprechen zu kommen und mit einem brutal verletzenden Hieb die von ihm verachtete Christa Wolf zu erledigen.

In diesen Jahren also begannen mutige Theatermacher in Wien und ein österreichischer Intendant am Bonner „Hauptstadttheater“, diese vollkommen am Publikumsgeschmack vorbeischreibende und für Schauspieler unmögliche Dramatikerin beharrlich, wenn auch wenig durchschlagend zu spielen. Für die Theater war das zugegebenermaßen nicht leicht, fehlte doch tatsächlich fast alles, was das Theater im Kern ausmachte bzw. auszumachen schien: Psychologie, Figuren, Geschichte, Handlung. Man war zurecht irritiert, irgend etwas Neues war da, das sich „nur“ aus der Sprache konstituierte. Später, in den 90er-Jahren, setzten Intendanten wie Claus Peymann an der Burg und Frank Baumbauer in Hamburg Elfriede Jelinek als Theaterautorin endgültig durch. Das Unspielbare wurde spielbar, aber nicht, weil Elfriede Jelinek sich dem Theater genähert und ihre Texte kommensurabler gemacht hätte, nein! Sie ließ sich in all den Jahren weder ästhetisch noch politisch schlucken und aufsaugen, weder von kulturellen Großinstitutionen noch von den zahlreichen Preisen, die seit einiger Zeit auf sie niederprasseln. Es ist auf offenkundig sensationelle Weise umgekehrt: Das Theater wird von ihr – wie vielleicht sonst nur von Heiner Müller – herausgefordert und gezwungen, sich zu verändern und sich auf die Suche nach neuen theatralischen Erzählweisen zu machen. Immer wieder haben herausragende Autoren das Theater verändert: Büchner, Tschechow, die Naturalisten, Brecht, um einige der wesentlichsten im deutschen Sprachraum zu nennen. In den letzten Jahrzehnten aber waren es Heiner Müller und Elfriede Jelinek, die der immanenten Logik des Theaterbetriebes nicht folgten, sondern ihn aushebelten und aus seiner (neuerlichen) Verhaftung im Erzähltheater des 19. Jahrhundert zu lösen versuchten. Sie haben den Anschluß des Theaters an ältere, unbequeme Kunstavantgarden ermöglicht und den Boden für das bereitet, was man seit einigen Jahren postdramatisches Theater nennt. So wird Elfriede Jelinek seit etwa 15 Jahren auf je vollkommen unterschiedliche Weise von Regisseuren wie Jossi Wieler, Einar Schleef, George Tabori, Christoph Marthaler, Frank Castorf, Christoph Schlingensief und, in letzter Zeit auffällig oft, von Nicolas Stemann inszeniert. Trash und Collage, Re-Psychologisierung, musikalische Grenzgänge, antikische Schlachtformationen, Textperformances, selbst poetischer Realismus – all dies ist mit den Texten dieser angeblich unspielbaren Autorin möglich, die sich und ihre Texte dem Theater zum Fraß vorwirft: „Macht doch, was ihr wollt.“

Nach Köln aber war Elfriede Jelinek, um auf den Ausgangspunkt zurückzukommen, im Jahre 1986 nicht wegen ihrer feministischen Ästhetik eingeladen worden, sondern wegen eines anderen, damals gängigen Versuches, die eigenartige Autorin einzufangen: Sie bekam den Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln und wurde damit – in extremer Verkürzung ihrer Arbeit – im Namen der Gesinnung eines Autors geehrt, mit dem sie ansonsten herzlich wenig zu tun hatte. Bezeichnend war, daß sich diese Verkürzung auf das Moralisch-Politische in der österreichischen Öffentlichkeit fortsetzte und sich später auch in den Kommentaren zum Nobelpreis wiederholte. Immer wieder machte sie die Erfahrung, daß der wohl- oder übelmeinende Fokus auf ihr Engagement den auf die Künstlerin verstellt und beschädigt. Elfriede Jelinek erklärt sich das selbst damit, daß der Mangel an Öffentlichkeit die Autoren in Österreich – anders als in Deutschland, wo es ein avanciertes Feuilleton und Denker wie Habermas gibt – in Verlautbarungsmechanismen hineinzwingt und so ihr eigenes Werk gefährdet. Seit einigen Jahren, scheint es, hat sich Elfriede Jelinek von diesen Zwängen befreit.

Wesentlicher als Festlegungen auf „linke“ oder „feministische“ Grundpositionen und mitten ins Zentrum des Jelinek‘schen Kosmos hineinführend waren in Köln die beiden Wortmeldungen der damals vierzigjährigen Dichterin selbst. Ihr Gegenstand: Heim und Heimat. „Muttertagsfeier oder Die Zerstückelung des weiblichen Körpers“ hieß die Jelinek‘sche Textcollage, die gemeinsam mit neuer Musik von Patricia Jünger in der Schlosserei des Schauspielhauses vorgestellt wurde. Die Collage führte auf bestürzend schonungslose Weise mitten hinein in die dramatischen familiären Urkonflikte; schon damals waren für sie familiäre Konstellationen sofort Atridenkämpfe, aufgeladen mit der besonders in Wien beheimateten Psychoanalyse. Von dem Katastrophenbiotop „Familie“ schloß sie in ihrer Heinrich-Böll-Preis-Rede bissig-ironisch zur nächst größeren Einheit, zur Heimat, auf: „Ich komme aus einem Land, von dem Sie sich sicher ein Bild gemacht haben, denn es ist bildschön, wie es so daliegt inmitten seiner eigenen Landschaft, die ihm ganz gehört. Sicher haben Sie schon Bilder davon gesehen. In den Waldheimen und auf den Haidern dieses schönen Landes brennen die kleinen Lichter und geben einen schönen Schein ab, und der schönste Schein sind wir. Wir sind nichts, wir sind nur was wir scheinen: Land der Musik und der weißen Pferde. Tiere sehen dich an, sie sind weiß wie unsere Westen.“ („In den Waldheimen und auf den Haidern“)
Diese zwei Linien wurden ihre Hauptarbeitsfelder und kehrten in unendlich vielen Texten wieder, immer und immer wieder Natur und Heimat mit dem Familienkomplex verwebend und von der Enteignung jeglicher Heimat durch den faschistischen Bodensatz einerseits, durch unterhaltungsindustrielle Verdrängung andererseits erzählend („Wolken.Heim.“, „Stecken, Stab und Stangl“, „Das Werk“, „In den Alpen“, „Sportstück“ etc.). Schon damals waren ihre Texte mit feiner und auch grober Ironie getränkt. Aber da war noch ein anderer seltsamer Satz: „Wir sind nichts. Wir sind nur, was wir scheinen“ – doch dazu später.

Heim und Heimat
Heim und Heimat also scheinen mir die Jelinek‘schen Generalthemen zu sein. Hierin ist sie eine Geistesverwandte österreichischer Dichterkollegen wie Thomas Bernhard und Gert Jonke, die Heimat ebenfalls weitgehend ex negativo beschreiben. Allerdings ist der Unterschied, etwa zu ihrem gleichaltrigen Kollegen Gert Jonke, dennoch beträchtlich; ihm steht der erfinderische Weg in romantisch-transzendierende Ironien offen: „Es gibt nicht nur eine Heimat, sondern deren einige, wenn nicht unzählige. Ich glaube auch nicht an normale Heimaten. Ich kann nur Heimaten vermuten, die durch andere Heimaten unterbrochen werden oder auf vielfältige Weise miteinander verknüpft und verknotet sind. Oft handelt es sich um erfundene Heimaten oder wahrscheinlich Heimaten unserer Vorstellung.“ Elfriede Jelinek glaubt ebenfalls nicht an „normale Heimaten“, aber auch nicht an romantische Luftreiche der Poesie. Ihre Heimatlosigkeit ist eine von, um mit Beckett zu sprechen, unzähligen „Losigkeiten“: Die familiäre Heimat hat sich über jahrtausendelange Binnenkriege desavouiert, die landsmannschaftliche durchschlagend seit dem 20. Jahrhundert, die weibliche ist die fortgesetzten Unterdrücktseins, und das sich selbst souverän setzende autonome Subjekt ist ohnehin im Schwinden begriffen. Was bleibt da noch? Elfriede Jelinek ist und war von Anfang an eine Heimat(losigkeits)dichterin, durchaus in der Tradition des sprach- und bewußtseinskritischen Landsmanns Horváth, aber auch in einem über- und umfassenden Sinne Heimat und Identität thematisierend: als Mensch, als Frau, als Künstlerin, als homo politicus.

„Wir sind bei uns zu Haus“ ist ein signifikanter, den Biedersinn jeglichen Heimatgefühls umkreisender und sich ständig wiederholender Satz in der rhythmischen Prosa „Wolken.Heim.“. Er strahlt jene trügerische Selbstgewißheit aus, die der Person Elfriede Jelinek angesichts der potentiellen Sprengkraft solcher Sätze versagt bleibt. Die normale Antwort auf die Frage nach der Heimat wäre im Fall von Elfriede Jelinek: Mürzzuschlag, irgendwo zwischen Wien und Graz, hinterm Semmering. Oder das Haus draußen vor der Stadt, wo sie trotz aller Verwerfungen jahrzehntelang mit ihrer Mutter wohnte. Oder das Leben mit ihrem Ehemann Gottfried in München. Aber all das ist es letztlich nicht. Es ist die Sprache ermöglichende Schreibmaschine, seit langem durch den Computer ersetzt. In eigenartiger Kreuzung der Dinge ermöglicht er den Rückzug auf die Sprache und zugleich den Zugang zum allumspannenden Netz. Die dreißig Jahre alte Prophezeiung vom „globalen Dorf“ ist Wahrheit geworden, auch im Hause Jelinek, und mittlerweile eine Art Ersatzheimat. Dieser Welt aber ist die vor der Welt flüchtende Elfriede Jelinek paradoxerweise geradezu süchtig zugewendet. Wenn auch stets unter dem Schutz des Internets, drinnen und draußen zugleich, pumpt sie sich voll mit Welt, holt sich, von Neugier und einem gewissen Masochismus getrieben, den Mediensalat ins Wohnzimmer und setzt sich ihm aus: „Die Welt ist alles, was einem auf den Kopf fällt, wie der sprichwörtliche Ziegel vom Dach, der einem aber nie zufällig auf den Kopf fällt, sondern weil er sich zu einem bestimmten Zeitpunkt von einer ganz bestimmten Dachkante gelöst hat, und weil man ganz genau zu diesem Zeitpunkt in dieser ganz bestimmten Straße unter diesem ganz bestimmten Haus, aus ganz bestimmten Gründen entlangzugehen sich gezwungen sieht.“
Der Ziegel, der der 1946 geborenen Elfriede Jelinek „auf den Kopf“ gefallen ist, nichts weniger als ihr lebensprägendes Urerlebnis, ist die schwierige Geschichte ihrer Familie, die sie früh zu einer vaterlosen, einzig von einer starken Mutter erzogenen Tochter gemacht hat. Starke Mütter, die ihre Kinder dressieren und hochrüsten, um sie in den Krieg des Lebens, den Krieg des Sports, auch in den Krieg selbst schicken, bevölkern viele ihrer Texte. Es sind gekränkte Mütter, die ihre Kinder – manchmal Töchter („Klavierspielerin“), meist aber Söhne – aufs Feld der Ehre des Lebens schicken, damit sie dort Ruhm ernten. Den am heimischen Herd aufs Leben draußen verzichtenden Müttern bleibt er verwehrt. Nur auf dem Umweg über ihre Burli-Söhne können die gefräßigen, zum Verzicht gezwungenen Mütter ein Kompensat für ihre narzißtische Kränkung einfordern. Sie werden zu Täterinnen, zumal wenn der Sohn seine vom Ehrgeiz der Mutter angestachelte Sucht nach Ruhm – sei es im Sport, sei es im Krieg – mit dem Heldentod bezahlen muß („Sportstück“, „Das Werk“, „Babel“). Wobei die Todesart auch ganz unheldisch, jämmerlich und banal ausfallen kann. Und hinterher klagen sie: die Mütter von zu Tode gedopten Leistungssportlern, von mit dem Auto zu Tode kommenden Söhnen, die mit den Troerinnen des Euripides übermalten Mütter der Arbeiterhelden, die Mütter islamischer Märtyrer…

Wo aber sind die Väter? Sie sind seltsam abwesend in Elfriede Jelineks Literatur, tauchen bestenfalls als apollinische Überväter, als gottähnliche verhaßte Kriegsgötter auf, die, wie George Bush, protzend im realen Leben stehen und die Welt doch dem Tod zuführen. Gegen sie ist alles Dionysisch-Künstlerische lächerlich und auf verlorenem Posten.
Gelegentlich aber kommt Elfriede Jelinek auf die Leerstelle ihres Lebens, auf ihren eigenen Vater zu sprechen. Er arbeitete während des Zweiten Weltkriegs als Chemiker in kriegsdienlicher Forschung und blieb so, trotz seiner jüdisch-tschechischen Herkunft, einigermaßen geschützt – ein Schutz, den er allerdings teuer bezahlte. In den 50er-Jahren erkrankte er psychisch schwer, bis er 1969 – Elfriede Jelinek war damals 23 Jahre alt – ausgerechnet in der Wiener Psychiatrie Steinhof, einem prominenten Ort nationalsozialistischer Euthanasieprogramme, geistig umnachtet starb. Elfriede Jelinek hierzu in bestürzender Offenheit: „Mein Vater ist durch Krankheit von einem unglaublich klugen Menschen zu einem völligen Idioten geworden. Das verzeiht eine Tochter ihrem Vater nicht. Ich bin auf ihn losgegangen, habe ihn, obwohl er vollkommen hilflos war, körperlich angegriffen. Das hat seinen Tod sicher beschleunigt. Diese Schuld bestimmt mein Leben.“ Hierfür gibt es keine Bewältigungsstrategie, sondern nur den Ton eines bitteren Sarkasmus, den sie im Nachwort zum „Wanderer“, einem Text über ihren Vater als Opfer, anschlägt: „Auch ich plündere also meinen Familienfundus. Ich rede und rede. Es gibt für ihn ja doch kein Nachhausekommen mehr, egal, was ich tue.“ Schon einmal hatte die Tochter nach ihrem Vater gerufen, im Schlußmonolog der Elfi Elektra, vom Mann Einar Schleef im Verfahren ästhetischer Inversion auf der mit Sprachflächen übersäten Bühne grandios gespielt („Sportstück“, 1998). Elfriede Jelinek über ihre auf den rächenden Bruder Orest wartende vaterlose Elektra: „Bei mir kommt die tragische Figur der Elektra als ihre eigene Parodie zurück, als Diminutiv, als lächerliche Figur. Die Rächerin des Vaters (in meinem Fall der Toten in seiner Familie und seiner selbst) nimmt literarisch ein ganzes Land in Geiselhaft und muß dabei natürlich scheitern. Im Grunde weiß sie, daß sie je schon verloren hat, bevor sie mit ihrem Räderwerk noch beginnen konnte. Denn das liebe, gute, mollige Land ist längst wieder unschuldig geworden, und daher kann es natürlich nie schuldig gewesen sein. Mehr Unschuld hat es nie gegeben als hier. Elfi Elektra kann nicht einmal mehr ihre eigene narzißtische Position der Grandiosität, ein ganzes Land vor ihr Tribunal zu zerren, bewahren.“ Natürlich ist diese Familiengeschichte nur im Kontext der österreichischen Geschichte lesbar, wie sie in einem Beitrag anläßlich der Debatte um Martin Walser („o mein Papa“, 2001) schildert.

Österreich ist der zweite „Ziegel“, der Elfriede Jelinek „auf den Kopf“ gefallen ist. Alpenländische Idylle steht hier neben nie bewältigter nationalsozialistischer Mittäterschaft. Elfriede Jelinek ist, wie viele ihrer Generation, eine mehrfach Enteignete und Vergewaltigte. Alles, was „Heimat“ bedeuten könnte, ist durch den Nationalsozialismus vergiftet und vernichtet; und nach 1945 haben sich Lüge und Verdrängung in einem Maße breit gemacht, daß die Autorin nicht nachlassen kann, die Untoten der Geschichte aus den Gräbern auferstehen zu lassen. Redezwang als Reaktion auf das unheimliche Schweigen: „Ich muß das Leid unter einer Geröllhalde von Sprache begraben.“
Es geht aber nicht nur um eine politische, sondern auch um eine gravierende geistesgeschichtliche Katastrophe. Es gibt offenkundig eine Spur, die vom heiligen Geist zur unheiligen Tat, von deutschem Idealismus und Romantik zum Nationalsozialismus führt. Sind das Verirrungen des an und für sich reinen Geistes, oder ist jeglicher Idealismus des Geistes selbst schon eine Verirrung, die den Umschlag ins Gegenteil bereits in sich trägt – eine folgenschwere Fragestellung, die leicht alles in den Dreck ziehen kann. In Jelineks bisher unaufgeführtem Libretto „Der tausendjährige Posten“ (2003) wird ein Schubert‘sches Singspiel zur musikalischen Folie, um die (reale) Lebensgeschichte eines deutschen Germanistikprofessors zu verhandeln, der seine nationalsozialistische Vergangenheit fünfzig Jahre lang erfolgreich löschte und sich auf unglaubliche Weise in eine demokratisch-aufgeklärte Geistesgröße umfälschte. Solche und andere Biographien machen nicht nur jeglichen Idealismus zweifelhaft, sondern auch jeden Tatwillen des intellektuellen Künstlers, der – ohnehin „Im Abseits“ stehend – aus Gründen des Selbstschutzes am besten dort auch bleibt.

„Was für ein Aufwand aus dem Unheimlichen wieder Heimat herauszukratzen!“, sagt Hannah Arendt in „Totenauberg“ (1991). „Wolken.Heim.“ (1988), einer von Jelineks Schlüsseltexten, macht genau das Gegenteil. Er vernichtet in einem masochistischen Exorzismus alles Heimatliche und führt jeden Versuch, „Heimat herauszukratzen“, ad absurdum. In dem irritierenden Punkt zwischen den beiden Wörtern „Wolken“ und „Heim“ vernimmt man nämlich nur den Kuckuck, das Wolkenkuckucksheim des deutschen Idealismus, in das Elfriede Jelinek ebenso fasziniert hineinhört, wie sie es als damit Infizierte und Vergiftete haßt, weiß sie doch, zu welchem Inferno es geführt hat. Also collagiert sie, wie zur Selbstimmunisierung, bösartig Texte des deutschen Idealismus von Fichte über Hölderlin zu Hegel und legt eine polemische Trauerspur zu den totalitären Metastasen des Idealismus: zum Nationalsozialismus, zum Heidegger‘schen „Sein“ und zum nicht minder todessüchtigen Fundamentalismus der RAF. Immer und immer wieder kommt sie auf diese Themenkomplexe zurück: auf die Heidegger‘sche „Totenauberg“-Idylle mitten in Hitlerdeutschland und auch, wie in ihrem jüngsten Stück „Ulrike Maria Stuart“, auf die RAF und die diese prägenden Antagonistinnen Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin. Auch dieses Stück knüpft an die Kleinst- und Keimzelle jeglichen Heim- und Heimatgefühls, die Familie, an, vergrößert sie ins Chorische und stößt mit der ersten Frage der Prinzen im Tower zu Stückbeginn, „Väter, sagt uns, ist die Mutter tot?“, gleich ins Zentrum. Die mehr- und eindeutige Antwort der Väter: „Nein, Kinder. Sie ist heimgesucht, doch unser Heim sucht sie nicht mehr und hat sie, glaube ich, im Grunde nie gesucht. Ihre Wohnadresse ist verloren, wohl für immer. Das Schafott fürchtet die Mutter und fürchtet sie auch wieder nicht.“ Das Resultat dieser Geschichte des Geistes und der Politik sind die Toten, die in Massengräbern verschütteten Juden, auf deren Haaren wir immer noch herumtrampeln, aber auch die sich selbst opfernde und ihrerseits Opfer produzierende RAF.
Diesem Befund, der nichts anderes meint als das vollkommene Scheitern sämtlicher idealistischer Systeme, versucht Elfriede Jelinek in einem fließenden Spiel zu entkommen: Penetrant moraline Attacken einer Kassandra im Wolkenkuckucksheim werden durch sprachkalauernde und ironische Entlastungsangriffe gegen das eigene hohe Roß unterlaufen. Sie führt sich im Wissen um die eigene Unmöglichkeit selbst ad absurdum: „Ich liebe Kalauer. Denn durch Kalauer verliert man rapide an Wirkung, das wird von mir schließlich angestrebt“ („Das Wort, als Fleisch verkleidet“). Aus dem poetologischen Kontext der permanenten Selbstdemontage heraus kann sie sich in ihren in Heimarbeit errichteten Moralkunstwerken zu Morden an Romas („Stecken, Stab, Stangl“), zum Wessely-Clan („Burgtheater“), zum Bau von Kaprun („Das Werk“) u.a. verhalten und, um ihre Wirkung ringend, Österreich anläßlich der Gründung der Koalition mit dem Rechtsausleger Haider sogar boykottieren. Sie versucht sich das Heimatliche vom Leib zu halten, so gut sie kann. Und dennoch kann man leicht den Eindruck gewinnen, daß sie mitten im Heimatlichen, nicht ohne Faszination, auch festgewachsen ist, sich verkrallt hat, auch in einem Oswald Spengler, Martin Heidegger oder Ernst Jünger – so ganz klar ist das nie.

Auch deshalb eignet sie sich nicht als Verlautbarungsdichterin. Sie hat ein sich vielfach brechendes poetologisches Prinzip aufgebaut, das sich simplen Gesinnungsästhetiken entzieht: „Die Ideologien wurden alle in eine Wursthaut gestopft und sind längst gegessen. Nicht einmal Ideologien werden noch gebraucht. Auf welche Position als die der Ironie sollte ich mich also zurückziehen? Es bliebe ja nur Pathos (das ich auch verwende, um es gleich wieder durch den Sarkasmus sozusagen in die eigene Distanzierung zurückzuzerren, zu brechen) übrig (‚nie wieder Krieg’, das hört man derzeit besonders gern).“ Obwohl sie, besonders von ihren Gegnern, so oft als ideologische Autorin denunziert wird, ist sie im Kern eine Autorin des postideologischen Zeitalters, die patterns alter Ideologien, aber auch von Mythos und Psychoanalyse ausfleddert. Besonders auffällig ist, daß besonders häufig Kategorien des „rechten“ wie „linken“ Kulturpessimismus in ihr Visier geraten.

Unterhaltungsindustrie
Von Anfang an gibt es bei Elfriede Jelinek eine dichterische Parallelspur, die aus der Vergangenheit direkt in die Gegenwart führt und mit Adornos kulturpessimistischer „Dialektik der Aufklärung“ den Umschlag von der Aufklärung in die industrielle Massenvernichtung durch die Nationalsozialisten und anschließend in die Unterhaltungsindustrie zu beschreiben sucht – ein Thema, das mitten durch die Autorin hindurchgeht und in collagierender Vernebelungstaktik eine infame Bösartigkeit produziert, die die heutige massenmedial geprägte und verrohte Sprache bloßstellt. Hinter ihr versucht sich ein Bewußtsein zu verschanzen, das auf einer bewußtlosen Gegenwart ohne jegliche Geschichte besteht, den Verlust von Heimat gar nicht mehr beklagen kann, sondern sich einfach künstlich eine neue schafft. Die folgenreiche Philosophie Adornos, die auch schon Rainald Goetz in „Festung“ (1993) zur polemischen Ineinssetzung von Fernsehen und KZ-Ofen führte, ist auch Elfriede Jelinek nicht fremd. Dies begann schon in „Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft“ (1972), wo sie Goebbels Jugendtagebuch aus den 20er-Jahren auf die unterhaltungssüchtige Fernsehgesellschaft anwendet und den süßlich-optimistischen Ton von Kindersendungen und Samstagabendunterhaltung ästhetisch zugespitzt auf diese zurückwirft. Elfriede Jelinek hofft, daß der unterhaltungsindustrielle Abwehrzauber gegen die Toten vergeblich ist und der Geschichte, wie im Märchen, immer wieder „die Hand aus dem Grab wächst“. Nie war Elfriede Jelinek wohl so absichtsvoll platt wie in „Raststätte oder Sie machens alle“ (1994), ihrer zeitgenössischen Version von Mozarts „Così fan tutte“. Als Satyrspiel zu ihrer Auseinandersetzung mit Heidegger und Hannah Arendt in „Totenauberg“ und zu „Wolken.Heim.“ ist die gedachte Trilogie angewandter Adorno, allerdings ohne daß dieser je zum offen zitierten Referenzsystem wird.
Sie zeigt den Bankrott jeglichen Geistes und den Sieg ätzender Oberfläche. In „Raststätte“ wie auch in „Über Tiere“ (UA Wiener Burgtheater, 2007) machen‘s sprichwörtlich alle wie die Tiere, aber das Bild ist eben, wie die Sprachkritikerin Jelinek zeigt, falsch. Die Menschen kostümieren sich allenfalls als Tiere. Wirkliche Tiere haben einen Instinkt, der ihnen Würde verleiht, die Menschen dagegen haben sich in einem Unterwerfungsakt zur Ware degradiert. Sigrid Löffler meinte zu „Raststätte“: „Die Kleinbürger sind die Sieger der Geschichte. Sie haben den Lebensstil des Großbürgertums, etwa den libertären Hedonismus der Oberschicht, kampflos erbeutet und ihn an sich selbst angepaßt, also kleingemacht und inflationär vervielfältigt und damit entwertet. ‚Raststätte oder Sie machens alle’ ist die Schreckenskomödie vom allumfassenden Sieg des Kleinbürgertums. Es lebt sich aus, im Supermarkt der Lebensstile, unfrei, aber schrankenlos, weil der Zwang zum Konformismus ihm die Hemmungslosigkeit diktiert. ‚Spaß und Vögeln! Spaß und Vögeln!’ lautet die aktuelle Losung der Freizeitmenschen, die entweder im Sportdress oder im Geschlechtsverkehr stecken. Angeekelter als die Jelinek kann man das ewige Reinraus-Geratter nicht denunzieren.“ Sie treibt die maßlos seichte Gegenwart auf die Spitze und schildert den daraus folgenden Rückfall in kannibalistische Gewalt („Raststätte“, „Babel“). Er hat allerdings bei Elfriede Jelinek mit dem archaisch-rituellen Kannibalismus, wie ihn Sigmund Freud in „Totem und Tabu“ als Vorstufe zivilisatorischer Prozesse schildert, nichts mehr zu tun, sondern ist eine neue perverse Blüte der um jeglichen Geist gebrachten Zivilisation. Die zu sich selbst gekommene Freizeitgesellschaft übt Fitnessterror aus („Sportstück“) und zerstört alles, was ihr dabei in die Quere kommt. Die Alpen etwa werden in einem beispiellosen Raubbau zerstört, der allerdings – die Prozesse schlagen gegen ihre Verursacher zurück – mit Menschenopfern bezahlt werden muß. Die sportelnden Opfer in Kaprun verbrennen zusammengepfercht in einer jener Metallkisten, die sie ins Skifahrerparadies bringen sollen („In den Alpen“). Trotz allem geht der Raubbau immer weiter, immer gigantischere Kraftwerke werden errichtet, um noch die letzte Zahnbürste betreiben zu können. Die Menschen konsumieren, und sie werden konsumiert: „Für alle ist etwas vorgesehen, damit keiner ausweichen kann“ (Adorno). Elfriede Jelineks programmatischer Wunsch „Ich will seicht sein“ muß in solchen Kontexten ein frommer bleiben.

Hier entstehen neue Schuldzusammenhänge, in die wir Konsumenten alle verwickelt sind – Ausstieg (ähnlich wie im alten Totalitarismus) nahezu unmöglich. Aber es gibt nichts, was nicht noch steigerungsfähig wäre. Der blutige Höhepunkt dieser politischen, ethischen und ästhetischen Prozesse ist, dreißig Jahre nach Jelineks Auseinandersetzung mit den Kindertagen des Fernsehens („Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft“) der Irakkrieg und seine mediale Präsentation. Die Konsumenten werden mit einem wahrhaftigen „Spiel ohne Grenzen“ gefüttert, einem perversen „Disney-“ oder eben „Bambiland“ (2003). Der weltweit medial aufbereitete Abenteuerspielplatz läßt erfolgreich vergessen, daß dort hinten im Irak echtes Blut fließt. Endlose Pixelparaden in der Wüste bringen das neue „wartainment“ direkt in die erdnußfressenden Bürgerstuben und töten jeden Rest von Ethik. Die Schrecken des Realen werden verniedlicht; an die gute, alte Katharsis ist in solchen Zusammenhängen kaum mehr zu denken: „Die Gefühle sind jetzt wirklich alle tot, echt alle? Weil sie soviel Entsetzliches und soviel Leid erblicken mußten oder was oder warum?“ Elfriede Jelinek, die in „Babel“, ihrem zweiten Irakkriegstück die Folgen dieses Befundes auswertet, wehrt sich in „Bambiland“ noch gegen die Immunisierung gegen jeden humanen Schmerz und schießt als „embedded writer“ mit einer zuspitzenden Textkomposition zurück, die die Internet- und CNN-Berichte gegen das älteste Antikriegsdrama der Welt, gegen die „Perser“ stellt. Denn die modernen Massengesellschaften mit ihren totalitär geprägten unterhaltungsindustriellen Komplexen denunzieren konsequent alles, was einmal Bedeutung hatte: Leben, Tod, Kultur. Selbst der ungestörte Genuß der Werke eines Franz Schubert ist der Musikerin und Musikkennerin nicht mehr möglich, weil er, wie die deutsche Romantik, in den Kitschdreck gerissen wurde: kaputt, zerstört und „zu einer „Kindermilchschnitte für Zwischendurch“ („Rosamunde“) degeneriert.

Abwehr durch Hingabe und Selbstauslieferung an den Feind ist bei Elfriede Jelineks Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ebenso Prinzip wie bei ihren Abwehrkämpfen gegen die vergangenheitslose Gegenwart. Auch hier wieder eine „Losigkeit“, der Elfriede Jelinek seit dem „Sportstück“ mit fortwährender ästhetischer Selbstradikalisierung begegnet. Immer hemmungsloser reproduziert sie die Oberfläche, die sie ankotzt, in Textflächen, die ohne Punkt und Komma weiterquakeln: das Gerede der Welt. Jelinek bereitet dies so „lustig“ patchworkmäßig auf, daß es uns nutznießenden Hedonisten, die nichts mehr fürchten als den Tod, als ätzende Attacke ins Gesicht schlägt. Das ist ihr memento mori gegen eine hemmungslos onanistische Lustigkeit, die alles unter sich zu begraben versucht. Dabei wird jedes Engagement notgedrungen zusehends absurder, kann es sich doch nur auf das platte, alles nivellierende Nichts werfen. Also versucht sie, ihr Engagement unkenntlich zu machen. So mäandert sie, eine große Entlarverin und eine große Selbstverhüllerin zugleich, so lange, bis der Kern dessen, worum es ihr geht, nur mehr schwer auffindbar ist und selbst im Nichts zu verschwinden droht – Selbstvernichtung einer Moralistin.
Bei diesem Verfahren der permanenten Selbstübermalung wie der Ausbeutung der sprachlichen ready mades, die die Welt täglich zur Verfügung stellt, kommt ihr ein neues Handwerkszeug zupaß. Ich weiß nicht genau, seit wann sie auf dem Computer schreibt, aber hier gilt der alte Satz: das Sein bestimmt das Bewußtsein, die Produktionsmittel das Produkt, die Realität die Literatur. Elfriede Jelinek schreibt immer radikaler und maßloser in den Computer, neue Möglichkeiten der Literaturproduktion nutzend: sie surft als Freibeuterin im Internet, zitiert Triviales aus CNN, aus Werbe-, Porno- und yellow-press-Sprache, überschreibt ihre Texte polemisch mit idealistischen Philosophien (bis zu ihren Rechtsauslegern Oswald Spengler, Ernst Jünger oder Martin Heidegger), zitiert und parodiert geistige Parameter aus Mythos und Psychoanalyse und gibt diese dann an den unentwirrbaren Strom des Lebens, der lineare Ableitungen nicht verträgt, zurück. Gleichzeitig stellt sie, indem sie ihre Texte ins Netz stellt, den traditionellen Autorenschutz infrage und liefert sich so dem gleichen Verfahren aus, das sie anderen zumutet.
Ob das Methoden der frühen Moderne und der Popart oder der dramatischen Postmoderne sind, weiß ich nicht. Vielleicht führt sie auch „einfach“ die sprachkritische Tradition ihres Landes weiter, die von Ludwig Wittgenstein und Karl Kraus geprägt ist und in der Wiener Gruppe eine zweite Blüte erlebte, und kann wenigstens in diesem Sinne „ganz bei sich zu Hause“ bleiben.

Sprache, Schweigen, das Nichts
 „Ganz bei sich zu Hause“ in der Sprache, das wäre schon eine Jelinek‘sche Utopie. Aber ein „erdachter Landstrich der Sprache“, wie ihn der romantisch-ironische Jonke für sich erfindet, steht ihr nicht zur Verfügung. Daher muß sie ähnlich wie Christoph Schlingensief, für den sie einen „Parsifal“-Text schrieb (2005), als welthungrig-heimatlose Torin umherziehen: jener in Afrika, am Himalaya oder sonstwo ganz real Erfahrungen und Bilder machend, sie virtuell am heimischen Computer Sprachen sammelnd. Die Rückgewinnung einer ureigenen Sprache aber scheint ihr, der großen Sprachkünstlerin, unmöglich; es bleibt die „nie heilende Wunde Sprache“ („Sinn egal. Körper zwecklos“). Was aber bleibt dann?
Elfriede Jelinek meinte einmal im Gespräch, Adornos Frage, ob es ein richtiges Leben im Falschen gäbe, sei nicht zu beantworten, fest stehe nur, daß es unumkehrbar so sei, wie es sei. Das klingt wie Kapitulation. Oder ist es Realismus? In ihrer Nobelpreisrede hat Elfriede Jelinek gleich zu Anfang ihr Verhältnis zur Wirklichkeit thematisiert: „Ist Schreiben die Gabe der Schmiegsamkeit, die Anschmiegsamkeit an die Wirklichkeit? Man möchte sich ja gern anschmiegen, aber was passiert da mit mir?“ Und weiter: „Wie soll der Dichter die Wirklichkeit kennen, wenn sie es ist, die in ihn fährt und ihn davonreißt, immer ins Abseits. Von dort sieht er einerseits besser, andererseits kann er selbst auf dem Weg der Wirklichkeit nicht bleiben. Er hat dort keinen Platz. Sein Platz ist immer außerhalb. Nur, was er aus dem Außen hineinsagt, kann aufgenommen werden.“
Welche Haltungen man als Frau und Künstlerin überhaupt zur Welt einnehmen kann, hat Elfriede Jelinek auch in ihren fünf „Prinzessinnendramen“ an verschiedenen Modellen durchgespielt: Ihr „Schneewittchen“ verweigert sich der Hingabe an den Jäger, an das Realitätsprinzip und wird dafür von ihm zur Strecke gebracht, muß sterben; es hat keinen Sinn, auf dem Jungmädchentraum von Märchenprinz und -prinzessin zu bestehen.
„Dornröschen“ verhält sich anders, ist belehrbar, läßt sich ein, gibt sich in einer grotesken Hochzeit dem Realen hin und landet in einer opportunistischen Utopie der Jetztzeit à la „Raststätte“. Schuberts untote „Rosamunde“ dagegen hat sich vor der Welt in einen wasserumfluteten weiblichen Elfenbeinturm zurückgezogen; ihr romantischer Traum geht in Erfüllung, der sie bedrängende Mann, die Macht, tritt freiwillig ab und Rosamunde darf/muß fortan schweigen. „Jackie O.“ dagegen hat sich innerhalb der Wirklichkeit eine Welt von Mode und blendender Berühmtheit geschaffen. Als Kunstfigur bekämpft die Gattin des amerikanischen Präsidenten die Natur (Marilyn Monroe), sie will in ihrer Kleidung verschwinden, „sonst wäre man ja Mensch“. Spät erst wird ihr klar, daß sie in der Tat kein japanisches Manga, sondern ein Mensch ist, denn die wuchernde Natur, der Krebs, hat sie von innen aufgefressen, und die Kunstfigur bricht in sich zusammen. Im fünften und letzten Teil „Die Wand“ scheitern drei untote Künstlerinnen – Marlen Haushofer, Sylvia Plath und Ingeborg Bachmann – bezahlen den scheiternden Versuch, in ein lebbares Verhältnis zum Mann, zum Leben zu treten mit dem eigenen Tod. Fünf Prinzessinnenmodelle, sieben Frauen, Masken und Übermalungen Jelinek‘scher Identität und keine einzige lebbare Antwort, außer vielleicht der des Schweigens von Rosamunde – bewegende Dokumente eines weiblichen Schreibens, das den alten feministischen Debatten längst entrissen ist. Einen ähnlich berührenden Ton wie im Prinzessinnendrama „Rosamunde“ gibt es auch in ihrem ersten „Königinnendrama“: kurz bevor sich „Ulrike Maria Stuart“ in den Selbstmord „abwärts in die Flut des Nichts“ stürzt, sagt sie dort in vielfachen Wiederholungen zu sich selbst: „Schlafe gut, ja schlafe, schlafe, schlafe, auch in dieser unbequemen Lage in der Schlinge.“

Nirgends vielleicht hat Elfriede Jelinek so komplex und radikal über die Position des Künstlers in der Gesellschaft nachgedacht wie in „Babel“: „Das Beste ist, niemals geboren zu sein, das Zweitbeste, sobald wie möglich zu sterben. Das Drittbeste: Flöte spielen können.“
„Flöte spielen“ – also Kunst machen als Notlösung, niemals aber in einer pole position. Elfriede Jelinek versucht, durch ihre Musikalität die Oberhand zu bewahren, sich so doch eine fragile literarische Heimat zu erhalten und sich davor zu retten, vom dauerhaften Gebrauch ohnehin entfremdeten Sprechens selbst mitverschlungen zu werden – ein Kampf gegen Windmühlen. Denn sie ist sich bewußt, daß Sprechen nur noch selten Ausdruck der Autonomie eines sich und seiner Sprache bewußten Subjektes ist, sondern meist nur das Amalgam von allem möglichen Einflußmüll, den man im Laufe seiner Biographie gefressen hat und halbverdaut wieder ausspuckt. Sie sieht sich selbst als Objekt der Sprache und nimmt damit radikal vom Mythos des souveränen, allein seine Sprache kreierenden Künstlers Abschied: „Die Sprache weiß, was sie will. Gut für sie, ich weiß es nicht.“ („Im Abseits“) Damit ist sie von dem Selbsttrost, aus dem heraus Goethes „Tasso“ sein tragikomisches Künstlertum definiert, meilenweit entfernt: „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, / Gab mir ein Gott, zu sagen wie ich leide.“ Der authentische Dichterschrei ist für Elfriede Jelinek nicht mehr möglich, der Dichter ist nur noch Medium der Sprache, nicht aber ihr gestaltendes Subjekt – ähnlich wie der Musiker sich demütig als Angestellter der Musik sieht, nur daß Jelineks Stoff nicht Mozart ist. Ihr Stoff ist weit mehr das Wirrwarr eines nur noch aus Sekundärsprachen bestehenden Weltenstroms als ein irgendwie doch noch zu rettender Rest von unverstellter Sprache. Dies ist in der Tendenz eine Art von negativer Autonomie mit nach unten offener Richterskala, ein gefährdeter Balanceakt in Richtung Selbstaufgabe.
Kein Wunder, daß Elfriede Jelinek immer öfter und meist gegen Ende ihrer von Endlichkeit bedrohten und Endlichkeit erhoffenden Suaden erschöpft die Kehrseite des Rede- und Selbstbehauptungszwangs thematisiert: den Schlaf, das Schweigen. Es ist die einzige Möglichkeit der Sprachkünstlerin, sich einen Rest von Autonomie und Würde zu bewahren. Mir kommt es vor, als habe sich Elfriede Jelinek jenseits von Tod („Sterben“) und Musikalität der Sprache („Flöte spielen“) in diesem Schweigen einen dritten Weg erfunden: eine eigenartige Poetologie des Verschwindens, der Abwesenheit, des Nichts. Sie wird erst durch all die Kalauer und den Redezwang zuvor möglich. Hier entsteht eine Lücke, durch die die Moralistin zu schlüpfen versucht, eine Lücke, die sich auch der musikalischen Ästhetin öffnet und so Dinge jenseits der Selbstopferung an die Trivialität hörbar machen kann. Dies ist ein Weg jenseits des Pathos, zu dem sich Tasso noch hinreißen lassen kann. Als Antonio, der Vertreter des Realen, Tasso „bei der Hand“ zu nehmen versucht, entgegnet er: „Berstend reißt, / Der Boden unter meinen Füßen auf! / Ich fasse dich mit beiden Armen an! / So klammert sich der Schiffer endlich noch / Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte.“

Wenn Elfriede Jelinek nicht schweigt, sondern redet, und Pathos aber ausschließt, muß sie offensiv zur eigenen Lächerlichkeit stehen (so schon im „Sportstück“ und auch im „Werk“). Das geht so weit, daß sie die Regisseure mittlerweile sogar explizit ermutigt, sie „zu verarschen“. Daher auch hat sie zur Verblüffung vieler die Sexpuppe, als die sie Frank Castorf in seiner Inszenierung von „Raststätte oder Sie machens alle“ auf die Bühne zerrte, nie verboten. Die Lächerlichkeit des Künstlers hat Elfriede Jelinek auch im Scheitern der tragikomischen Dionysosfigur Marsyas geschildert, dem für den Frevel, besser musizieren zu wollen als die Macht- und Lichtinstanz Apoll/Bush, zur Strafe die Haut abgezogen wird („Babel“). Noch an der Brücke von Falludscha hängend rebelliert Marsyas / Peter / Christus und ringt immer lächerlicher um sein idealistisches „Moralkunstwerk“, das aber, anders als der Pathetiker Schiller glauben machen will, gegen das Monopol der (Kriegs)macht längst keine Chance auf Wirkung mehr hat: „Moral, Moral, wo ist dein Stachel, ich sehe es nicht, wo bist du für mein Kunstwerk jetzt hin? Ich brauch dich doch, du bist schließlich die Hauptfigur.“ In Elfriede Jelineks „Babel“ heißt es „Wir stehen am Anfang der unmusikalischen Literatur“ – ein Satz, der im Kontext der Sprachmusikerin Elfriede Jelinek besonders bitter und nach Rückzug ins Schweigen klingt. Auch ihre Nobelpreisrede „Im Abseits“ mündet in die Frage, was passiert, wenn einem die Sprache abhanden kommt: „Ich bin ihr zu Handen, aber dafür ist sie mir abhanden gekommen. Ich aber bleibe. Was aber bleibt, stiften nicht die Dichter. Was bleibt, ist fort. Der Höhenflug ist gestrichen.“

Als Elfriede Jelinek den Nobelpreis bekommt, ist sie abwesend, weder in Wien noch in Stockholm, aber man kann sie draußen vor dem Burgtheater auf einer riesigen Videowall sehen und ihre Rede „Im Abseits“ hören. Sie gesellt sich wie ein poetologischer Kommentar zu ihrer Abwesenheit.
Der Nobelpreis treibt, als wäre er inszeniert, die inneren Spannungen, aus denen heraus die Autorin lebt, noch einmal auf die Spitze. Plötzlich ist sie eine Pop-Ikone, die sich verhüllt, ein Star, der verschwinden will und für ein paar Stunden doch so präsent wie nichts rund um den Erdball. Für den Augenblick wirkt sie wie ein moderner CNN-gestützter, allerdings existentieller Flaneur, dem nichts lieber wäre, als außerhalb des „Heims zu sein, und doch überall bei sich daheim zu fühlen; die Welt zu sehen, im Mittelpunkt der Welt zu sein und der Welt verborgen zu bleiben.“ (Baudelaire). Als aus New York ein Anruf des Modeschöpfers Helmut Lang kommt, der ihr seine Winterkollektion schenken will, ist die Verblüffung im Burgtheater groß. Sie wächst aber noch, als sie freudig zustimmt und dem alten Freund aus Wiener Jugendzeiten ihre Konfektionsgröße gibt. Elfriede Jelinek ist – Sprachkünstlerin und Sprachskeptikerin zugleich – fasziniert von der Mode. Wer ihr Prinzessinnendrama „Jackie O.“ gelesen hatte, konnte es ahnen. Denn die Mode ist, besonders in den von ihr bevorzugten schlichten Linien, nichts als purer Stil. Sie ist nichts und umhüllt das Nichts: den Menschen. Paradox, daß Karl Lagerfeld, gefragt, ob Mode Stil sei, entschieden verneinte. Mode sei kein Stil, sondern heutzutage Allerweltsware, die jeder erwerben könne. Der einzige Stil, der noch unverfälscht Differenz erzeugen könne, sei Sprache! So liebt jeder das, was nicht sein Ureigenstes ist…

In der Mode schlüpft sie, als Tochter der Barockstadt Wien, durch die schmale Lücke zwischen Leben und Tod und gibt sich einem, allerdings zeitgemäß schlichten Dekor hin, um den Kern verschwinden zu lassen. Sie erlöst sich im Stil – jedenfalls wie ihn Yamamoto oder Helmut Lang repräsentieren – vom permanenten Widerspruch zwischen memento mori und grassierender Oberfläche, von dem ihr Ich sonst gefangen genommen ist, und erfindet die Idee des Nichtseins, des Verschwindens im Nichts: „Mir kommt vor, daß meine Leidenschaft für Mode mir mich selbst ersetzen kann, (…) weil ich dahinter meine Spur (…) verlieren möchte.“ Sie dreht die Funktion der Mode, die ja eigentlich Attraktion auslösen soll, einfach um: „Ich ziehe die Kleidung an, damit die Leute auf sie schauen, nicht auf mich.“ Das ist fast auf der Höhe des Dandys Oscar Wilde, dessen „Bunbury“ sie wegen seiner das Schweigen und das Nichts verbergenden brillanten Aphorismen übersetzt hat: „Modeschau deswegen, weil man die Kleider auch allein vorschicken könnte. (…) Und ich bin das, was am liebsten eben ohne sich selbst ist. So haben wir uns gefunden, indem wir uns permanent verlieren. Nein, nicht verlieren, indem wir da sind, aber nur zu dem Zweck, ohne uns zu sein. Die Mode und ich.“ („Mode“, 2000) So läuft sie durch Wien, vollkommen verhüllt und unerkannt.

Elfriede Jelinek treibt die Dissoziierung des Ich, eigentlich eine Entdeckung der Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts, im Einklang mit heutigen Wissenschaften wie Soziologie und Hirnforschung bis an die Grenze der Selbstauflösung. In „nicht bei sich und doch zu Hause“ (Salzburg 1998) schreibt sie programmatisch: „Wer ist denn schon zu Hause bei sich, wer ist denn schon sein eigener Herr? Wer es wäre, der würde sofort wieder von sich fortstreben, kaum, daß er sich kennengelernt hätte, denn was er da kennengelernt hätte, wäre, daß er von seiner Existenz beherrscht wird, die nicht dasselbe ist wie sein einsames Ich: eine leere, aber formatierte Diskette, der wir den Namen Ich geben, wird beschrieben, indem man sich mit sich selbst identifiziert und eine Identität erlangt. Da man sich auf dieser Diskette abspeichert, kann man von ihr auch wieder fortgehen, das Ich bleibt ja da aufgeschrieben, und die Rückkehr zu sich besteht darin, daß man sich immer wieder überschreiben kann nach jedem Aufbruch, nach jeder Rückkehr zu sich. Man kann sich sorgen, daß man in diesem Überschreiben eine der alten Identitäten verliert, man kann sorgfältig sein im Aufbewahren der Identität, und man kann auch aufhören, sich um sich zu kümmern und, anstatt seiner selbst, etwas anderes speichern: dann wird man selbst zur Sprache. Man verschwindet unter ihr. Man hört auf, an sich festzuhalten, vergißt sich irgendwann und wird zu dem, was man spricht. Und indem man sich losläßt und, als Person, amorph wird, alles sein kann und nichts, kann man beginnen, von sich auszugehen, nicht um zu denken oder zu handeln, sondern um in dem, was man sagt, zu sein, ohne dabei jedoch an sich angebunden zu sein.“

Man erinnere sich: Elfriede Jelinek ist eigentlich durchdrungen von der Sehnsucht nach dem Zu-Hause-und-bei-sich-sein und der dauerhaften Erfahrung des Fremdseins: sei es im Verhältnis zur Natur, die nur noch als pervertierte und kommerzialisierte Idylle erfahrbar ist; sei es zur Heimat Österreich, die ein ungeklärtes Verhältnis zu ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit hat, sei es in Bezug auf die Rolle der Frau zwischen Sexmaschine und Muttertier, dem Theater, dem sie sich hingibt und verweigert zugleich, oder zur Heimat überhaupt. Und doch hat sie sich offenbar eine ganz andere, neue Heimat erfunden: „… das Ich, eine leere formatierte Diskette“…“selbst zur Sprache werden“…“unter der Sprache verschwinden…“ Das Nobelpreisfest im Burgtheater begann mit „Wir sind bei uns zu Haus“ („Wolken.Heim.“) und endete draußen mit ihrer poetologischen Bilanz „Im Abseits“. Die Menschen harrten draußen mitten im unfreundlichen Herbst / Winter aus, um nächtens auf der Videowall am Ring ihre Rede zu hören. Während die Besucher sich „heimatlich“ mit Glühwein und ihrer Rede über Wasser halten, versinkt Elfriede Jelinek, ihre Generalthemen am Notenpult umkreisend, wie Rosamunde langsam in ihrer Sprachmusik. Gegen Ende fürchtet sie, daß „das Flüchtigste, die Sprache“ verschwinden könnte. Ihre letzten Sätze: „Was bleiben soll, ist immer fort. Es ist jedenfalls nicht da. Was bleibt einem also übrig?“ Man hat das Gefühl, man habe die Dichterin selbst und nicht übermalte Fremdsprachen gehört, sei ihr nahe gewesen. Ihre Rede hat hier viele tief berührt, auch deswegen, weil Elfriede Jelinek, in ihrer Abwesenheit eine öffentliche Figur ist, wie es das in Deutschland nach Grass, Böll oder Enzensberger nicht mehr gibt – eine Nationaldichterin wider Willen und am heutigen Burgtheater nicht zufällig die meist gespielte Gegenwartsautorin. Aber sofort baut sie in Zeitungskommentaren wieder Distanz auf, fühlt sich von den vielen Gratulanten bedroht: „Es rührt mich immer, wenn mich jemand liebt. Solange er das in einer gewissen Entfernung von mir tut.“ Als ihre letzten Nobelpreisworte draußen auf der Videowall vor dem Burgtheater verklingen, gehen die Leute nachdenklich „nach Hause“, was auch immer das sein mag.
Vielleicht ist Heimat sowieso eine Chimäre, eine Fiktion, ein Nichts. Ernst Bloch sagt: „Heimat ist, wo noch niemand war“, und Urs Widmer noch deutlicher: „Keine Sehnsucht ist stärker als die nach dem, was man nie gehabt hat.“ Man weiß, wie schonungslos, vor allem sich selbst und eigenen idealistischen Sehnsüchten gegenüber, Elfriede Jelinek ist.

Aus: Arbeitsbuch Elfriede Jelinek (Theater der Zeit) Juli 2006.Der Text ist über die Homepage von Theater der Zeit zum downloaden auch als Audiothek abrufbar.


Joachim Lux