Das Theate
r der Zukunft

Vortrag im Rahmen der Psychotherapietage des Kinder- und Jugendalters, Langeoog 29.5. 2012 von Joachim Lux

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich habe mir versucht vorzustellen, was einen großen Ärztekongress an den „Vorteilen einer alten Kulturtechnik“ wie Theater interessieren könnte.  Vermutlich das Grenzgebiet  zu Medizin, Psychotherape und Homöopathie inkl. der Frage, ob das Theater zur Gesundheit bzw. Genesung des Menschen etwas beitragen könnte. Ich möchte diesen Fragen im Folgenden auch nicht ganz ausweichen, aber doch einen größeren Zusammenhang skizzieren, einen gesellschaftlichen, der abgesehen von den  Grundkonstanten des Menschlichen vor allem von der Veränderung der Verhältnisse erzählt, in denen er lebt und den Folgen für ein Medium wie Theater. Wenn ich heute zu Ihnen über die Vorteile einer uralten Kulturtechnik sprechen soll, ist es hilfreich sich – wenn auch kurz – an ihre Ursprünge zu erinnern.

Die Entstehung der ersten Kulturtechniken
Die ersten Kulturtechniken sind annähernd so alt wie die Menschheit selbst, ja sie sind konstitutiver Bestandteil seiner Selbstwerdung. Sie verdanken sich der Tatsache, dass der Mensch das einzige Lebewesen auf dem Erdball ist, das ein Bewusstsein seiner selbst hat. Dieses Vermögen versetzt ihn in die Lage, sich selbst und die Welt um sich herum begreifen zu wollen. Denn zunächst ist sie geheimnisvoll und numinos, langsam aber entdeckt der Mensch dann Ursache und Wirkung, die Gesetzmäßigkeiten von Handlungen und Ereignissen  etc. pp. Das ist der Anfang von allem. Wir nennen es Zivilisation..-
Hier entstehen auch die ersten Kulturtechniken. Und das sind zunächst und vor allem Religionen und Mythen - die ersten Versuche, die Geheimnisse der Welt zu begreifen und zu deuten. Bei der Ontogenese ist wie bei der Philogenese alles von anfang an da: 1. Hier entstehen im vorstaatlich-tribalen Raum die ersten Gesetze. Mangels anderer Autoritäten berufen sie sich gern auf übergeordnete Instanzen wie die Götter. Es ist offenbar schwer vorstellbar, dass es nichts über dem Menschen gibt. So entstehen erste Hierarchien und Versuche, das soziale Leben der Menschen zu regeln. 2. Die Menschen entwickeln in frühen Formen von Gemeinschaft Riten der Beschwörung, von Bann und Huldigung – Versuche sich in eine nicht beherrschbare Welt einzumischen, indem man sie darstellerisch wiederholt. 3. Schon das frühgeschichtliche Individuum sucht eine kulturelle Identität. Unendliche Genealogien von Welt- und der Menschheitsgeschichte dokumentieren dies.  4. Der Versuch, die Welt zu interpretieren, sie zu begreifen und zu lesen, beginnt, kaum dass der Mensch denken kann. 5. Wenn wir von Zivilisation sprechen, sprechen wir auch von Kultur. Sie beginnt dort, wo der Mensch anfängt Dinge zu gestalten, die über die ursprüngliche Notdurft hinausgehen, in diesem Sinne also überflüssig sind. Die Kultur ist also das Überflüssige, sie setzt da ein, wo sich der Mensch Freiheit der Gestaltung erarbeitet hat. Aber sie ist zugleich auch das Notwendige:für seine Identität, denn sie unterscheidet ihn vom Tier.

All das zusammengenommen ist Kultur, und die Künste sind ein Teil davon  als Selbstausdrucksmittel des Menschen, als Selbstspiegelung, als Versuch, die Welt zu begreifen, als Versuch, das Böse zu bannen, indem man es darstellt, als Versuch, Riten zu begründen, als Versuch, sich eine Identität zu verschaffen durch Biographie und Geschichte etc.
All das ist offenbar von einer ungeheuer starken anthropologischen Notwendigkeit und gehört zu einem einzigen riesigen Menschheitsprojekt: zur  „großen Erzählung von der Gattung Mensch“ und ihrem Zivilisationsprozeß..

Die innere Notwendigkeit, diese Geschichte zu erzählen, ist uns bis heute erhalten geblieben, und sie speist sich vermutlich aus einer ebenso einfachen wie niederschmetternden Tatsache: Aus der Tatsache nämlich, dass der Mensch als einziges Wesen von seiner Vergänglichkeit, seiner Endlichkeit, seinem Tod weiss. Niemand außer uns hat ein Bewusstsein davon, dass die Zeit fließt, das es ein Vorher und ein Nachher gibt, eine Vergangenheit und eine Zukunft. Niemand außer uns weiß, dass der gelebte Augenblick vergänglich ist. So entsteht Sehnsucht, sich über die das nackte Überleben zu erheben, Sehnsucht nach Freiheit der Gestaltung, Sehnsucht nach Unendlichkeit, Sehnsucht, dem flüchtigen Augenblick mittels verschiedener kultureller Technologien zur Ewigkeit zu verhelfen etc. Kultur ist Gestaltung der Endlichkeit und Widerstand gegen sie, nicht selten gerade dadurch, dass man von ihr erzählt. Schon im Gilgameshepos steht der schöne Satz: „Das Einzige, was dem Menschen Ewigkeit verschafft, ist nicht die Geschichte, sondern die Geschichten, die man von ihm erzählt.“ An diesem Befund hat sich bis heute nichts geändert.

Von Anfang an werden also überall dort, wo Zivilisation entsteht, gleichzeitig Kreativität und Phantasie freigesetzt: Die Welt wird auf einer imaginären Ebene ein zweites Mal bevölkert: Es entstehen Götter, Engel, Teufel, Geister, Heroen, Höhlenmalereien, Lieder, Mythen wie die Ilias, die Odyssee oder das Gilgameshepos, die griechischen Tragödien, die Geschichten des Alten und des Neuen Testaments etc, um nur von unserem Kulturkreis zu sprechen. Ursprünglich mündlich vorgetragen, gelingt es irgendwann sogar, diese Geschichten aufzuschreiben. Sie geben anschauliche Beispiele für das offenbar essentielle Bedürfnis der Menschheit, die eigene Geschichte zu erzählen und zu gestalten, zu interpretieren und zu ordnen. Wir alle kennen diese Geschichten, vom Urvater Abraham und den unendlichen Genealogien, die Geschichten vom Paradies, Geschichten von Mord und Totschlag, von den Gesetzestafeln Moses, den göttergleichen Heroen der Ilias, die anthropomorphisierenden polytheistischen Weltkonzepte der Griechen, die neuen monotheistischen Konzepte der Christen etc. Wenn man sich ein wenig mit ethnologischer oder religionswissenschaftlicher Komparatistik beschäftigt, stellt man fest, dass diese Entwicklung in nahezu allen Religionen ähnlich verläuft. Die Erscheinungsformen sind verschieden, der Grundimpuls überall der gleiche. Wer zum Beispiel am Thalia-Theater in Hamburg die alljährlich stattfindende „Lange Nacht der Weltreligionen“ verfolgt hat, stellt fest: von den Inuit bis zum Zweistromland ist die Entwicklung vergleichbar. Erste Versuche allüberall der Fülle des Lebens Ausdruck zu verleihen, sie zu gestalten und zu deuten. Erste Versuche auch, das Entstehen der Welt aus dem Etwas, aus Gott, aus dem Chaos oder aus dem Nichts zu erklären.
Das ist in etwa der Kontext, in dem auch das Theater entstanden ist, als eine der ältesten Kulturtechniken der Erde, verbunden mit  alten religiösen Riten,  rhapsodischen Darbietungen der Epen, als Tageszeitung einer Kultur ohne Schrift, als Psychohygiene für eine Gemeinschaft, als Sinnstiftungsinstitut für eine Gesellschaft, als Geschichtsbuch, als Aufarbeitung der eigenen Vorzeit und Konstituierung des eigenen Staatswesens (z.B. Orestie), als Elaborierung diverser Menschheitserfahrungen und damit als Beginn der Hochkultur.

Das Theater als uralte Kulturtechnik – seine historische Entstehung 
Das Theater ist tatsächlich eine der ältesten Kulturtechniken der Menschheit, wenn nicht die älteste überhaupt. Auf Wikipedia ist zu lesen: „Schon Höhlenbilder der Steinzeitmenschen verraten frühe Formen des theatralen Spiels. Man vermutet, dass sich z.B. eiszeitliche Jäger Felle von Tieren überzogen, um so lebenswichtige Vorgänge wie die Jagd im Voraus oder im Nachhinein darzustellen und theatral zu verarbeiten. So entstanden zeremonielle Tänze und theatrale Darstellungen, in denen die Welt und die gesellschaftlichen Ereignisse nachgestellt und umspielt wurden. Man könnte das Theater als Urkunst der Menschheit, die alle anderen Künste in sich birgt, sehen.“
Das Theater als Kunstform ist – je nachdem wie man es definiert – im indogermanischen Kulturkreis ca. 3000 Jahre alt, das indische Sanskrit-Theater erlebte seine Höhepunkte im 1. Jahrtausend vor Christus, und das erste überlieferte schriftliche Werk der Theaterliteratur unseres Kulturkreises ist ca. 2500 Jahre alt, es entstand im 5. Jahrhundert vor Christus; ich spreche von den Persern des Aischylos.
Das sind nun – wie man sofort einsieht – gewaltige historische Dimensionen. Offenbar gibt es tiefe Entsprechungen zwischen anthropologischen Notwendigkeiten und den einzigartigen Eigenschaften der Kulturtechnik Theater. Ich will – wenigstens stichwortartig – einige aufrufen:

1. Theater ist Kommunikation, Spiegel und Gegenüber, das soziale Du.  Der Mensch muß offenbar kommunizieren, braucht Widerstand, Entsprechung, Antwort.  Nimmt man ihm das weg, verkümmert er und verdorrt. Natürlich kann dieser Spiegel auch der geliebte Partner oder die eigenen Kinder oder sonst ein anderer Mensch sein – Kunst aber entsteht erst dort, wo Kommunikation nicht nur subjektiv, unmittelbar und direkt, sondern zusätzlich und stellvertretend durch Andere oder ein Anderes stattfindet. Das findet von früh auf statt, in den Epen, die ein Rhapsode vortrug, in Bildern etc. Das Theater aber geht einen entscheidenden Schritt, den vielleicht nur das Theater gehen kann: es macht eine zentrale kulturelle Erfindung, die wesentlich zur Selbstausbildung des Menschen beiträgt: Es fügt dem Protagonisten ein Gegenüber, einen Antagonisten hinzu und erfindet so den Dialog. So entsteht ein Kommunikationsdreieck mit dem Zuschauer, ein zivilisatorischer Schritt zur Emanzipation des Individuums.

2. Das Theater ist als Versammlungsstätte - eine erste und damit zunächst exklusive Form der Öffentlichkeit: agora und soziales Lagerfeuer der Gemeinschaft. In einer Zeit, in der das Gemeinschaft stiftende verbindende Interesse noch nicht durch Partikulargesellschaften erodiert, funktioniert das Theater wie der Marktplatz: Als selbstverständliches Zentrum des gemeinschaftlichen Lebens, als eine Art soziokulturelles Lagerfeuer. Es befragt, bestätigt, verlacht und feiert die gegenwärtigen Lebensformen und - normen. Es ist Korrektur und Bestätigung zugleich. Es ist der einzige Ort,, wo verschriftlichte Texte, wo Literatur im Kollektiv erlebbar wird: als Erzählung von Geschichten im stellvertretenden Spiel..

3. Spiel: Über die Bedeutung und Kraft des Spiels und seiner Rezeption muß ich Ärzten vermutlich nichts erzählen. Es ist befreiend, sublimierend, stellvertretendes Ausagieren und Erleben, wichtig für die Psychohygiene und gehört zum homo ludens schlicht dazu. Die Grundlage des Spiels ist die Mimesis, die Nachahmung von Wirklichkeit. Durchs Spiel begreift der Mensch sich selbst. Und seine Wirkung ist möglicherweise und interessenterweise von Anfang an erhofft die Läuterung, die Katharsis.  Es ist schon interessant und auch überraschend, dass in Bezug auf das neue Medium Theater von Anfang an eine hohe Komplexität des Nachdenkens herrschte. Debatten, die uns bis heute begleiten: Ist Ästhetik auch Ethik? Ereignet sich durch die stellvertretende Darstellung von Leidenschaften tatsächlich Katharsis? Und zwar je nach Lesart als „Reinigung der Leidenschaften“ oder als „Reinigung von den Leidenschaften“? Aristoteles ist der erste in unserem Kulturkreis, der in seiner Ästhetik Medientheorie und Medizin zusammendachte. Er hat ein unendliches Nachdenken über die therapeutischen Funktionen des Theaters ausgelöst. Seine Begrifflichkeiten prägen und dominieren die Debatte über Kulturtechniken und Medientheorie bis heute.

4. Theater als Sinnstiftungsorgan: zwischen Wirklichkeitsnähe und Distanz. Das Theater  hat ein sehr eigenes Verhältnis zur Wirklichkeit und schwebt gewissermaßen zwischen Ritus und der Abbildung realer Begebenheiten. Aus der Spannung zwischen der Referenz zur Wirklichkeit einerseits und der Möglichkeit, zu dieser eine Distanz des Überzeitlichen aufzubauen andererseits, schöpft es von Anbeginn, schon in den „Persern“, einen Großteil seines Reizes. Es ist dies die Spannung zwischen Poesie und Wirklichkeitsbezug, zwischen Phantasie und Realität. Bis heute ist das Theater – Sonderfälle ausgenommen - meist nur dann gut, wenn es diese Spannung halten kann, wie das beispielsweise in Shakespeares Komödien (siehe Northorp Frye) der Fall ist. Diese Spannung schafft zusätzlichen Raum für die Phantasie der Betrachtung bei größtmöglicher Freiheit des Zuschauers zugleich. Aus dem Zusammenspiel all der genannten Faktoren ergibt sich die Qualität und Einzigartigkeit des Mediums.

Zwischenfrage
Macht das heute noch Sinn – zweieinhalbtausend Jahre später? Für die Unsterblichkeit alter Kulturtechniken spricht einiges, für ihre Überlebtheit auch. Das Meiste von dem, was einmal von großer Bedeutung war, geht irgendwann unter. Alter und Tradition schützen nicht vor dem Verfall.  Das musste schmerzhaft z.B. auch die Kirche erleben, die jahrtausendelang Kultur gefördert hat, insbesondere Malerei, Bildhauerei und Musik, in Form von Messe und Eucharistie selbst eine veritable Theateraufführung hervorgebracht hat, und doch in Gefahr ist, zu einem Museum zu erstarren, als Fluß zu versiegen und nur noch Kunstgewerbe hervorzubringen, mehr nicht.
Warum soll es dem Theater anders gehen?  Braucht man das Theater als kollektives Ritual tatsächlich? Als Tageszeitung der Gesellschaft? Als  psychosoziale Hygiene für Individuum und Gesellschaft? Als lebendiges Geschichtsbuch? Als Sinnstiftungs- und Welterklärungsphänomen? Als soziales Medium? - Es fallen einem zu allem und jedem Aspekt Disziplinen und Medien ein, die das möglicherweise besser können: Disziplinen wie Psychoanalyse, Journalismus, Historie, Philosophie, Theologie etc. und auch Medien wie Fernsehen, Internet etc. Allerdings: es fällt einem keine Disziplin ein, die so unendlich viele Aspekte in sich vereint. Deshalb hat das Theater als Haupt- und Subform von Öffentlichkeit bis heute überlebt. Und auch weil es sich jeweils synchron zu den soziologischen Verhältnisse der Gesellschaft, zu der es gehört, verändert hat. Hat diese Kulturtechnik also auch heute noch verteidigenswerte Vorzüge? Mit purem naseweisem Modernismus, der coole interaktive Computerspiele gegen das Theater ins Feld führt, kommt man nicht weiter, mit reinem Beharrungswillen allerdings auch nicht.

Das Theater im bürgerlichen Zeitalter – eine neue Form von Öffentlichkeit
Bevor ich mich der Gegenwart und Zukunft zuwende, muß von der Entstehung des bürgerlichen Theaters die Rede sein, denn auf diesem gründen zwar nicht alle Formen des heutigen Theaters, aber doch die, für die ich hier stehe: das Stadttheater.
In der Mitte des 18. Jahrhunderts begann bekanntlich der Aufstieg einer neuen soziologischen Klasse: des Bürgertums. Es fing an, seine Stimme zu erheben, sich zu behaupten und sich zu definieren, seine Identität zu beschreiben. Es schuf sich seine eigene Öffentlichkeit, und dies hieß im 18. Jahrhundert die Annexion und Übernahme höfischer Verkehrsformen mit neuen Inhalten: man gründete – wie der Adel - Salons und Theater und deutete sie bürgerlich um. Man stärkte das Realistische gegenüber dem Repräsentativen, das Wirkliche gegenüber dem Rituellen, das sich längst in höfische Etikette verwandelt hatte, in den Stil einer absterbenden Gesellschaft. Parallel zur neuen Bürgertugend der Aufklärung gab es aber auch von oben, von den Fürsten Bestrebungen, das Theater aus dem rein Höfisch-Repräsentativen französischer Prägung zu befreien. Es gab auch Fürsten, die die deutsche Sprache als Bühnesprache einführten etc.
Seit diesem Wimpernschlag der Geschichte vor 250 Jahren herrscht die bürgerliche Kultur und in ihrem Schlepptau ist das bürgerliche Theater – trotz gelegentlicher Infragestellungen – bis heute lebendig geblieben. Hier wollte sich der partikulare Bourgeois als allgemeiner Citoyen definieren und erhob seinen Anspruch, die eigene Kultur zu definieren und bürgerliche Werte durchzusetzen, als Sinnstiftungsort für die bürgerliche Schicht, die nun ihr sogenanntes „Nationaltheater“ begründete. Das Theater hatte sich als zeitgemäße Form der Öffentlichkeit in einem neuen gesellschaftlichen Kontext neu definiert, und abermals dachten die Denker der Zeit über Begriffe wie Katharsis, Mimesis und Spiel nach, über die Frage, wie sich die Vermittlung moralischer Werte mit der Freiheit des Spiels in Deckung bringen ließe etc. Einer der programmatischen Köpfe dieser nunmehr säkular-aufklärerisch-bürgerlichen Sinnstiftungsinstitute war Lessing.
Es herrschte damals ein ungeheurer gesellschaftlicher Aufbruch mit einer beinahe grenzenlosen Euphorie und einer grenzenlosen Begeisterung für das neu entdeckte Medium Theater: Bürger und Citoyen sollten identisch sein, beide im Menschen und im Menschsein gipfeln, und dieses sollte sich wiederum am besten im Spiel, also im Theater ereignen können! Das Theater und sein Spiel als Emanzipationsinstrumentarium des Menschen! Schiller kommt in seinen „Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen“ immer wieder auf den Begriff „Spieltrieb“. In ihm harmonieren laut Schiller im Idealfall die zwei Haupttriebe, die das menschliche Dasein bestimmen: Der „sinnliche Trieb“ – er geht vom physischen Dasein des Menschen, seiner sinnlichen Natur aus; aus ihm ergibt sich die Welt der Empfindung und der Veränderung in der Zeit- und diesem entgegengesetzt der „Formtrieb“. Er geht von der vernünftigen Natur des Menschen aus, der Konsistenz  der Person. Beides ist für Schiller unbefriedigend: Denn wenn der Mensch nur empfindet, bleibt ihm seine Person verschlossen, wenn er nur denkt, bleibt ihm sein Zustand ein Geheimnis. „Gäbe es aber Fälle, wo er diese doppelte Erfahrung zugleich machte, wo er sich zugleich seiner Freiheit bewußt würde und sein Dasein empfände, wo er sich zugleich als Materie fühlte und als Geist kennen lernte, so hätte er in diesen Fällen, und schlechterdings nur in diesen, eine vollständige Anschauung seiner Menschheit.“ Die Verbindung dieser beiden Triebe nennt Schiller Spieltrieb. „Der Spieltrieb also würde dahin gerichtet sein, die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren.“ Erst hieraus konstituiert sich für Schiller das, was er die Freiheit des Menschen nennt. Erst im heiteren, zweckfreien Spiel wird der Mensch ein Mensch – ein Gedanke, der bis heute in vielen Abarten und Sonderformen immer noch virulent ist, ein Gedanke, der die Sinnhaftigkeit des Theaters jenseits von Zwecken wie Umwegrentabilität oder Moralität begründet und seine potentielle Verführungskraft erklärt.
Von diesem Erbe lebt das deutsche Stadttheater bis heute. Es hat – übrigens wie das Buch - überlebt trotz Stummfilm, trotz Kino, trotz Fernsehen und zuletzt: trotz der Digitalisierung unserer Lebenswelten. Es hat sich wie die bürgerliche Gesellschaft selbst in Permanenz verändert, findet aber nach wie vor im wesentlichen von und für die bürgerliche Schicht statt, beruht auf einem stehenden Ensemble und pflegt einen sich kaum verwandelnden literarischen Kanon. Und der Staat hat mit seinen Zuwendungen dafür gesorgt, dass die kulturelle Bildung von Kreisstädten bis zu Mittel- und Großstädten überall verfügbar ist.

Das Theater heute – eine Kulturtechnik in der Krise (Zerfall der bürgerlichen Öffentlichkeit)
Soweit die Euphorie des 18. Jahrhunderts hinsichtlich des Theaters. Das ist nun zwar alles sehr schön und erhebend, wirft aber zugleich die kaltherzige Frage auf, ob das heute noch Bestand hat. Die Antwort ist zunächst einmal: nein! Damit ist heute leider kein Staat mehr zu machen, und auch kein Theater. Die Euphorie des 18. Jahrhunderts hinsichtlich des neu entdeckten Mediums erinnert fast an die Begeisterung, mit der heute viele aufs Internet reagieren. Dennoch wird das Theater nicht einfach auf dem Müllhaufen der Mediengeschichte landen. Man darf, denke ich, schon glauben, dass es genügend archaische Urpunkte und anthropologische Konstanten gibt, die es überlebensfähig halten: Ritus, Spiel, Mimesis, Katharsis, soziale Gemeinschaft, Erinnerungskultur, kulturelle Identität etc. All das dringt tief in die soziale und individuelle Psychohygiene des Menschen ein.
Aber wie müsste sich das Theater verändern, um diese Qualitäten und tatsächlichen Alleinstellungsmerkmale für heute kreativ zu machen? Und wo steht die uralte Kulturtechnik Theater heute? Auf welchen gesellschaftlichen Kontext muß sie reagieren?
Wir erleben seit Jahrzehnten den Zerfall der bürgerlichen und das heißt zugleich auch der nationalsprachlichen Öffentlichkeit. Das Theater als Kulturtechnik gehört  – jedenfalls in der seit dem 18. Jahrhundert in Deutschland gültigen Variante -  essentiell zu dieser bürgerlich-nationalen und auch literarischen Öffentlichkeit, die sich als renitenter Dinosaurier gegen Massenmedien und Kulturindustrie im 20. Jahrhundert zu behaupten versucht. Der Zerfall der bürgerlichen Öffentlichkeit vollzieht sich schon seit langem und hat im Ursprung mit dem Entstehen der ersten Massengesellschaft zu tun, die historisch „unglücklicherweise“ mit dem Nationalsozialismus zusammenfiel – eine Ideologie, in deren Zusammenhang es zur Selbstkastration des Bürgertums kam. Die Nachkriegsgeschichte hat den weiteren Verfall des Bürgerlichen und seiner Öffentlichkeit zwar um einige Jahrzehnte verzögern, aber nicht mehr umdrehen können. Sie hat den Verfall verzögern können, weil sich bis zum Mauerfall nahezu jegliche öffentliche Diskussion ins Verhältnis zur Auseinandersetzung mit dem Nationalen und dem Nationalsozialismus setzen mußte– das gilt für die restaurativen 50er Jahre, für die 68er bis hin zur RAF der 70er Jahre. Es gab bis dahin in Deutschland nationalstaatlich noch eine große gemeinsame Erzählung, die die Gesellschaft als Ganze, also auch schichtübergreifend vereinte. Man konnte sich mit leidenschaftlichem Engagement positionieren, es gab eine gesamtgesellschaftliche Reibungsfläche und damit inhaltlich eine klare politische Funktion. Das bürgerliche Theater stand also als Instrument nationaler Identitätsfindung noch ganz in der Tradition des 18. Jahrhunderts. Genau  dies aber ist spätestens seit dem Zusammenbruch des Ostens und dem Fall der Berliner Mauer endgültig  vorbei. Das Nationalstaatliche hat, auch in der Zerrform des Nationalsozialismus, als zentrales Referenzsystem des gesellschaftlichen Diskurs abgedankt. Parallel dazu hat sich eine mehr oder minder uniforme Kultur- und Unterhaltungsindustrie durchgesetzt,- auch im Bürgertum.
So ist – aus einem Bündel von Gründen, zu denen auch die Abdankung des traditionellen Bürgertums gehört - seit geraumer Zeit ein gesellschaftlicher Bedeutungsverlust von Theatern, Opern und Konzerthäusern, also der  bürgerlichen Hochkultur zu verzeichnen. Die staatstragenden bürgerlichen (Oberschichten)phänomene verlieren an Akzeptanz. Die ordnungspolitisch legitimierte und staatlich deshalb subventionierte Hochkultur muß sich reformieren, wenn sie weiter „Relevanz“ haben will. Ressentimentgeladene neoliberale Polemiken wie die der „Kulturinfarkt“autoren sind kaum mehr als Ablenkungsmanöver und tragen nur wenig bei, denn ihr Ansatz, die Kultur zu beschneiden und sie dem Markt vor die Füße zu werfen, führt nirgends hin, außer in die Uniformität der Kulturindustrie.

Das Theater: eine Kulturtechnik auch der Zukunft? – Neue Aufgaben
Daraus entsteht ein Reformbefard, und vor uns stehen also längst andere, neue Aufgaben. An ihnen muß das Theater seine Veränderungsfähigkeit ausprobieren und wachsen, um dem gesellschaftlichen Wandel und völlig neuen, gelegentlich verwirrenden Formen von Öffentlichkeit Rechnung zu tragen. Es muß sich neu legitimieren und das heißt auch, sich den Realitäten einer medialisierten und internationalisierten Massengesellschaft stellen, ohne ihnen zu verfallen.             Hier muß ich kurz eine weltanschauliche Prämisse vorausschicken: Es herrscht ja allgemein immer noch die Auffassung vor, die sogenannte große gemeinsame Erzählung habe sich völlig in fragmentarisierte Erlebniswelten aufgelöst – man nennt dies Postmoderne. Dementsprechend würden wir auch im Post-Hstoire leben. Das geht nun schon einige Jahrzehnte so… Ich bezweifle das zutiefst. Ich glaube vielmehr, dass wir bereits dabei sind, an neuen Identitätsbildungen zu arbeiten! An der Harmonisierung des Allzu-Disparaten, an der Integration des Neuen: gesellschaftlich, individuell und auch kulturell. Die neue „große gemeinsame Erzählung“ ist bereits am Entstehen. Allein die Tatsache, dass wir sie als Menschen der Gegenwart – genau wie frühere Generationen – vielleicht nicht immer erkennen können, begründet noch nicht ihr Fehlen!
Die Grundfrage ist: Wie können in einer unübersichtlich wirkenden Gesellschaft für den Einzelnen und für Gruppen identitätsstiftende Prozesse initiiert werden? Hier sind vor allem vier Aspekte von Belang: 1. Identitätsbildung in lokalen Stadtgesellschaften- „deutsch“ und interkulturell 2. Das Europäisch-Internationale ergänzt das Nationale. Der Blick in die Welt  3. Der Sieg der weltweiten Populärkultur über die Lokalkulturen 4. Neue digitale und virtuelle Kulturtechniken.

1. Identitätsbildung in lokalen Stadtgesellschaften – „deutsch“ und interkulturell
a) Das „Deutsch“-Lokale Eine Binsenwahrheit: Der Mensch lebt aus dem heraus, was ihm am nächsten ist. Daran haben weder Flugverbindungen noch Internetcommunities etwas geändert. Er nennt es verschämt Heimat. Wer bin ich als derjenige, der in Augsburg, Wuppertal oder Hamburg lebt?  Die Aufrechterhaltung einer lokalen kulturellen Identität ist heute dank vieler Faktoren unseres gesellschaftlichen Lebens viel komplizierter geworden. Die Binse, dass man Theater für die Stadt machen sollte, in der man lebt, um dort die kulturellen Traditionen zu stärken und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, könnte mittlerweile ein sogenanntes Alleinstellungsmerkmal der Kulturtechnik Theater sein. Der Einzelne und seine Identität wird ja nicht mir nichts, dir nichts virtuell und hybrid, nur weil die Umgebung, mit der er vorwiegend zu tun hat, dies nahelegt.
Das klingt simpel, ist es aber nicht. Zwischen Anbiederei und wohlfeiler Attacke stehen da viele Fettnäpfchen bereit. Am Thalia-Theater haben wir uns z.B. sehr dezidiert auf Lessing, den Teil-Hamburger bezogen, haben in einer wirklich aufregenden Aufführung  Borcherts „Draußen vor der Tür“ realisiert, uns in Spezialprojekten mit der dänischen Geschichte Altonas beschäftigt oder den Klassiker „Große Freiheit Nr.7“ gemacht etc. Dies nur um einige Beispiele zu nennen.
In einer zunehmend Identität erschwerenden Gesellschaft ist die Selbstverständlichkeit, dass ein Stadttheater Theater für die Stadt macht, keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern ein ziemlich anspruchsvoller Auftrag. Der – sagen wir es ruhig - Patriotismus für das Lokale und Eigene in hochkultureller Färbung jenseits von Kegelclub und Heimatverein ist eine große Aufgabe…

b) Das Lokale als das Interkulturelle Von den großen bis zu den mittleren Städten löst sich das Lokale als das Deutsche seit Jahrzehnten zunehmend auf. Das früher identitätsstiftende Lokale ist mittlerweile das Interkulturelle. In den Populationen der einzelnen Regionen und Städte spiegelt sich deutlich die europäische, die arabische, die asiatische und insgesamt globaler werdende Welt. Wir können angesichts dieses Wandels nicht weiter so tun, als seien unsere Kulturinstitutionen weiterhin die Wohnzimmer unserer eigenen kulturellen und nationalen Klasse. Das käme einer kompletten Selbstmarginalisierung der alten Kulturtechnik Theater gleich. Wenn das Theater nicht einmal mehr theoretisch die Stadtgesellschaft re-präsentiert, verliert es die Legitimation, seinen öffentlichen Auftrag. Zwischen soziokulturellen Initiativen und künstlerischen Auseinandersetzungen passiert hier mittlerweile viel. Ich komme gleich noch einmal darauf zurück, und will mich hier nur auf ein pointierendes Beispiel beschränken. Vor einem Jahr entstand in Berlin an einem Theater, das sich auf interkulturelle Fragen konzentriert, eine Aufführung mit dem Titel „Verrücktes Blut“- ein Sensationserfolg, vermutlich weil hier Fragen des deutschen Bildungskanons mit Fragen der interkulturellen Gesellschaft zusammenkamen. Es st die Geschichte von einer türkischen Lehrerin, die rauhbeinige türkische Schüler dazu bringen will, Schillers Begriff von Spiel und Freiheit an den „Räubern“ auszuprobieren. Pointe 1: dies gelingt ihr erst mit vorgehaltener Waffe. Pointe 2: die, von der alle dachten, sie sei eine Deutsche, ist selbst eine Türkin.
Trotz vieler Bemühungen vielerorts muß man zugeben, dass sich das Bild des Theaterbesuchers noch nicht wesentlich verändert hat – da liegt noch eine erhebliche Wegstrecke vor den Kultrsschaffenden.

2. Das Europäisch-Internationale ergänzt das Nationale: der Blick in die Welt
Gelingen kann die interkulturelle Öffnung aber nur,  wenn das Theater tatsächlich die Welt zu zeigen versucht, seinen Blick ins Internationale und Europäische öffnet, andere Stoffe, Personen und Stücke zulässt. Mit dem, was wir die „Welt“ nennen, klarzukommen, ist für die gesamte Bevölkerung einer Stadt ein Riesenthema. Der ZEIT-Journalist Peter Kümmel hat vor einigen Jahren über die im Westen vorherrschende Stimmung geschrieben: „Wir verzeihen, dass die Welt zusammenwächst. Aber es ist uns mulmig dabei. Da wächst etwas über uns hinaus.“
Meine persönliche Initialzündung fand statt, als wir im Jahr 2005 in Wien einen feierlichen Staatsakt zur Wiedereröffnung des Burgtheaters nach dem Weltkrieg zu begehen hatten. Wir haben lange überlegt, wer die Festrede halten soll und haben uns schließlich gegen austriakischen Traditionalismus und für einen damals noch nicht sehr bekannten deutschen Intellektuellen iranischer Herkunft entschieden: für Navid Kermani. Wir haben ihm ein Flugticket in die Hand gedrückt und ihn gebeten nach Nordafrika zu reisen und von außen auf Europa zu schauen. Das Ergebnis war  beeindruckend. Denn Kermani hat uns einerseits von seiner Reise an die Grenzen von Schengen berichtet, von Stacheldrähten und Boatpeoplen, von Menschenhandel und Armut, von tausenden von Toten, von Blut und Ertrinkenden – von der unfassbar tiefen Schuld der Europäer also, und andererseits eine Kenntnis und Bewunderung für die Hervorbringungen der europäischen Geistesgeschichte vermittelt, die wir, wie er findet, nicht hoch genug schätzen. Er kannte Kafka, Joyce, Joseph Roth, Musil, Thomas Mann etc. bis ins Detail. Unausgesprochen stand damit plötzlich wieder die alte und bis heute ungeklärte Frage im Raum, wie Goebbels und Goethe, das Blut vn Afrika und Beethoven zusammengehen. Mich hat das damals sehr nachdenklich gemacht.

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Gesellschaften – und so auch unsere  - das Fremde nicht als notwendiges Übel oder unvermeidliches Schicksal hinzunehmen haben, sondern, dass wir ohne den Blick des Fremden auf unsere Gesellschaft verdummen und verarmen. Es war ausgerechnet der Theaterregisseur Frank Castorf, der vor einigen Jahren darauf hingewiesen hat, dass die Ausrottung der Juden Deutschland intellektuell, künstlerisch, wirtschaftlich und wissenschaftlich zurückgeworfen hat. Wir haben das Fremde vernichtet und mit ihm eine gesellschaftliche Elite. Unter den Folgen dieses Genozid leidet Deutschland bis heute. Dies erinnert daran, dass Mischpopulationen in der Geschichte der Menschheit oftmals kreativer waren als homogene. Das war in Spanien vor der Reconquista so, aber auch in Sarajewo, wo bis zum Balkankrieg Christen, Juden und Moslems inspiriert zusammengelebt haben, oder auch an den Hochstätten der islamischen Kultur zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert, wo in Kairo oder Bagdad das „Wissen der Welt“, das Wissen der Araber, der Perser, der Juden, der Christen, der Griechen zusammenfloß und aufbewahrt wurde….
Die Globalisierung und Inrternationalisierung unserer Stadtgesellschaften ist also auch eine Chance, eine Chance, den Blick aufs europäische oder auch eurasische Erbe zu richten, die Gemeinsamkeiten in den westlichen und östlichen Überlieferungen zu entdecken, kosmopolitisch zu denken und sich in der Arbeit an einer europäischen Identität nicht nur aufs jüdisch-christliche Erbe zu beschränken. Hierzu kann das Theater durchaus Einiges beitragen.

Es ist gerade in diesem Zusammenhang unvermeidbar, noch einmal an Lessing und damit auch an die Aufklärung des 18. Jahrhunderts zu erinnern. Lessing träumte den Traum von der inneren Einheit und Verständigung der Weltreligionen bzw. - kulturen und opponierte damit gegen das, was man heute „Clash of culture“ nennt. Das „Medium“ das er dafür in Hamburg erfand, sollte das „Nationaltheater“ sein – ein in heutigen Ohren mißverständlicher Begriff.  Er zielte auf die ästhetische und kulturelle Identitätsbildung einer sich neu formierenden Gesellschaft, in der das Eigene das Fremde oder Andere nicht nur nicht ausschließen, sondern explizit einbeziehen sollte. Diese Gedanken Lessings- nämlich kulturelle Vielfalt und kulturelle Identitätsbildung zusammenzudenken – das könnte so etwas wie ein inneres Leitbild für heute sein. Das ist meines Erachtens die entscheidende kulturelle Aufgabenstellung des 21. Jahrhunderts, Aufgabe einer zweiten Aufklärung mit einem internatonalen, kosmopolitischen Theater... Ich wäre sehr glücklich, wenn man in einigen Jahren sagen könnte, dass das Theater dazu einen kleinen, bescheidenen Beitrag geleistet hat.
Wenn ich Ihnen nun ein paar Beispiele nenne für das, was sich an den Theatern und auch am Thalia in diese Richtung ereignet, dann nicht um zu vermitteln, wie weit die Theater her ihrer Zeit voraus sind – das steckt nämlich in Wahrheit alles in den Kinderschuhen, sondern um ihnen ein plastisches Bild von dem zu geben, was gemeint sein könnte: Die „Lange Nacht der Weltreligionen“ des Thalia Theaters versammelt z.B. alljährlich einen ganz anderen Teil der Stadtgesellschaft. Außerdem haben wir in einer Kreuzung aus Lokalbezug und Internationalität ein Festival,  die Lessingtage, installiert. In Ihrem Zentrum steht die Frage nach Interkulturalität und Internationalität.  Wie Sie wissen, fallen sich am Ende von Lessings „Nathan der Weise“ die Vertreter des Christentum, des Islam und des Judentum in die Arme, weil nicht nur die handelnden Personen ihre familiären Bande erkennen, sondern weil die Ringparabel die Frage nach der einzigen oder besten Religion obsolet macht. Lessing wollte beides: die Gründung eines Nationaltheaters und die Toleranz gegenüber dem anderen, dem Fremden. Sein „Nathan“ wurde allerdings verboten, als „verdächtiges“, als scandalöses“ Buch mit offenbar unglaublicher Sprengkraft. Lessings „Nathan“ wurde übrigens auch zum Ausgangspunkt für 500 Schüler, vor dem Thalia für sein Gedankengut zu demonstrieren, eskortiert von der Polizei, nach wochenlangen hitzigen Diskussionen in den Schulen, mit den Lehrern und Eltern- ein Beispiel dafür, wie Gedanken in die Stadt kommen können. Außerdem haben wir uns am Thalia mit interkulturellen Intellektuellen wie Ilija Trojanow, Mark Terkessidis oder Navid Kermani zusammengetan, mit ihnen Stoffe, Diskussionen und Stücke entwickelt. Demnächst wollen wir sogar Navid Kermanis unendlichen Roman „Dein Name“ als Beispiel einer eurasischen Biographie auf die Bühne bringen. Aber auch die europäische Tradition, der sogenannte Kanon, kann hierzu etwas beitragen, wenn er denn nur prototypisch und in diesem Sinne kosmopolitisch genug ist. Vor diesem Hintergrund habe ich mich für die Jedermann-Figuren der europäischen Renaissance wie „Faust“, Hamlet“, Don Quijote“, „Don Juan“ oder demnächst auch der „Everyman“ interessiert. Begleitet wird all dies von wenig spektakulären, aber ganz praktischen und umso wichtigeren Bemühungen, das Theater tatsächlich zu öffnen und zur vielbeschworenen Agora der Stadt zu machen. Hier geht es bespielsweise um Kooperationen mit der türkischen Gemeinde, fremdsprachige Übertiteln bei einzelnen Aufführungen, speziellen Programmen für Thalia Migration, Abonnements international, um das Engagement internationaler Regisseure etc. pp. Bestrebungen dieser Art gibt es nicht nur bei uns, sondern bei vielen Theatermachern. Es gibt Festivals wie Spielzeit Europa, eine Theaterbiennale für europäische Stücke in Wiesbaden, die sich zunehmend internationalisierenden Münchner Kammerspiele und anderes mehr. Ich darf auch kurz an den Regisseur Christoph Schlingensief erinnern, der in Afrika ein Festspielhaus gründen wollte, damit wir Europäer uns – wie er es ausdrückt – an dem „Virus Afrikas“ infizieren. Eine Großbaustelle in dieser Hinsicht sind auch Schnittstellen, an denen unsere Zuständigkeit eigentlich endet. Ich meine soziokulturelle und theaterpädagogische Aktivitäten, Versuche, Jugendliche in künstlerische Arbeit einzubinden, sie dafür zu interessieren. Um das zu schaffen, muß man meist auf sie zugehen, zu ihnen hin, d.h. in die Schulen, wo wir vom Thalia z.B. mit einem Stück namens „Chica Chica“ touren. Es geht da um zwei Freundinnen, dseren eine sich mit dem Kopftuch vor der Übersexualisierung unserer Gesellschaft schützt.

Fest steht: wir müssen unseren Horizont in diese Richtung erweitern und uns als Institutionen öffnen. Wir dürfen uns nur dabei nichts vormachen. Denn das ist alles nicht so einfach. Zum einen findet Theater schlicht und ergreifend in der Landessprache statt und die Bühnen werden nach wie vor von deutschen Schauspielern dominiert. Zum zweiten ist Theater zunächst einmal immer eine lokale Angelegenheit. Zum dritten stellt sich die Frage nach geeigneten Stoffen, und der Überprüfung unseres Kanons in diese Richtung. Ein Beleg dafür, wie schwer das ist, ist, dass seit einigen Jahren die Geschichte der Medea in allen Varianten Konjunktur hat. Gibt es Stoffe in der gemeinsamen eurasischen und orientalischen Tradition, die wir wieder entdecken könnten? Was ist mit den Schnittmengen wzischen arabischer und hellenistischer Tradition? Taugen die theatralen Sprachcodes für eine interkulturelle Verständigung? Etc. …Wie bewahren wir dennoch das Eigene? Unsere Identität? Geht sie auf in einer anderen? Geht es um die interkulturelle Begegnung verschiedener Kulturen? Oder um transkulturelle Vermischungen? Um kulturelle Identitätshybride? Was bedeutet Heimat dann? Was Identität? Persönlich? National? Religiös? Und wenn wir über Heimat reden, reden wir auch über Exil, Vertreibung, Flucht, über Einwanderer und Auswanderer. Ich muß das alles, denke ich, hier nicht weiter ausführen, von der verfehlten Leitkulturdebatte bis zur grotesken Fragestellung, ob der Islam zu Deutschland gehört oder nicht, ist das als Thema alles hinlänglich bekannt. Kurz: Wenn das Nationalstaatliche im 20. Jahrhundert die große gemeinsame Referenz unserer Gesellschaft war, ist es im 21. Jahrhundert das Internationale und Interkulturelle, das europäisch-eurasische Erbe. Dies eint als Fragestellung kultureller und individueller Identität tatsächlich unsere Bevölkerung in Deutschland. Die Frage stellt sich nur, wie offensiv wir nun die Chance zu einer neuen ästhetischen und kulturellen Selbstvergewisserung und Sinnstiftung nutzen.…

2. Der Sieg der weltweiten Populärkultur über die Eigenart der Lokalkulturen – die Marginalisierung des alten Kanons und Entstehung eines Neuen
Das Theater bezieht sich vornehmlich immer noch auf die alten Klassiker des nationalen Kanons: auf Shakespeare, Moliere, Goethe, Brecht etc. Aber schon knapp hinter der Landesgrenze sieht es desillusionierend aus: Unser Schiller lockt in Frankreich niemanden hinter dem Ofen vor, der französische Racine oder Marivaux ist in Deutschland oder England ein Quotenkiller, das Interesse der Deutschen für den angelsächsischen Kanon geht kaum über Shakespeare hinaus  etc. Weltklassiker sind – soweit ich sehe – nur Antike, Shakespeare und Moliere, und mit einigem Abstand vielleicht noch Brecht. Das liegt aber weder an der Globalisierung noch an der Unterhaltungsindustrie oder sonst irgend etwas Urbösem, sondern daran, dass es schlicht nicht so viele Weltklassiker gibt wie beispielsweise in der Prosa. Theater ist offenbar in seinem Ursprung immer noch eine lokale Angelegenheit. Es liegt aber auch an der nach wie vor existierenden  Abgeschlossenheit der nationalen gesellschaftstragenden Schichten. Hier ist auch eine gewisse Borniertheit am Werk und nicht nur die Verteidigung des heiligen Kanons. Hier versammelt sich eine exklusiv-gebildete Gesellschaft, deren Herz beim national-lokalen höher schlägt und die sich blickdicht lokal abgeschottet hat und nicht viel hereinlässt in die eigene hochkulturelle Erinnerungs- und Vergegenwärtigungskultur. Und sie rechnet aus sich selbst heraus mitnichten damit, dass Madonna, Michael Jackson, Leonardo di Caprio etc. diejenigen sind, bei denen das Herz unendlich vieler Menschen tatsächlich höher schlägt. Und falls sie doch damit rechnet, schottet sie sich erst recht ab. Das ist zugegebenermaßen ein Typus (Bildungs)bürgertypus, der ausstirbt.
Eine kleine Anekdote aus der gerade zuende gegangenen Spielzeit des Thalia-Theaters mag die immer noch bestehende  Gartenlaubigkeit der Hochkultur – ich spreche auch über mich selbst - belegen: Wir haben derzeit mit Tankred Dorsts „Merlin“ in unserem 1000 Plätze Theater großen Erfolg. Aus der Sicht von Theaterleuten eine freudige Überraschung: Denn den Titel kennt kaum jemand, den Autor auch nicht, und doch füllen wir mit der Inszenierung eines jungen Regisseurs mit chilenischen Wurzeln das große Haus. Wahrscheinlich – so sind wr gewohnt zu denken - ist das der Relevanz des Stoffes geschuldet, beschäftigt er sich doch mit zwei wesentlichen Fragen: Sind politische Utopien möglich?  Und: Gibt es ein Transzendental-Absolutes, also den Gral? Im Gewand eines alten Mythos – dachten wir – könnte hier eine erhebliche Schnittmenge zum Publikum entstehen. Denn je weiter man historisch zurückgeht, desto breiter wird erfahrungsgemäß die Basis für das Publikum vereinende Kulturerlebnisse. Der Erfolg hat uns vollkommen recht gegeben, nur aus völlig anderen Gründen. Denn nicht der vielbeschworene „Kanon“ der Hochkultur, der davon ausgeht, dass Artus und Parzival wesentliches Bildungsgut sind, war spielentscheidend, sondern die Tatsache, dass wir – ohne dies mit zu reflektieren - einen der beliebtesten Fantasystoffe aufgegriffen haben. So ist uns, der Hochkultur, ein Interesse zugewachsen, das sich einem bestimmten Segment der Trivialkultur verdankt, das seit „Herr der Ringe“ Mittelmeerstrände und Jugendzimmer überschwemmt…. Wie soll man solchen Kulturtransfer finden, sehr verehrte Damen und Herren? Nun kann man natürlich sagen, dass es einem völlig egal ist, auf welchem Wege jemand zur Hochkultur stößt, Hauptsache er tut es. Das ist sicher nicht falsch. Allerdings: Wenn die Trivialkultur zur Voraussetzung von Hochkultur wird, wird einem schon ein bisschen bange. Denn es ist mittlerweile tatsächlich so, dass man „Faust“ nicht unbedingt gesehen haben muß, im Unterschied beispielsweise zu den „Simpsons“. Der traditionell humanistische sogenannte  „Kanon“, also das Kulturgut, auf das sich eine Gesellschaft gemeinschaftlich und selbstverständlich bezieht und beruft, ist im Schwinden und wird zusehends durch einen massenmedialen ersetzt, durch die jeweils jüngsten Erzeugnisse der internationalen Film- Roman- oder Musikindustrie…. Mittlerweile ist es wesentlich, sich in der Populärkultur als weltweites Esperanto auszukennen, aber nicht unbedingt in der jeweiligen Lokalkultur, die meist eine Nationale ist.:

Was nun?- Kulturkämpfe und Lösungsansätze.
Hier sind wir nun mittendrin in einem Kulturkampf. Die einen sagen: Gottseidank gibt es keinen Kanon mehr und endlich ist kategorienlos alles möglich, die anderen verfallen in Bunkermentalität und stemmen sich mit einer allerdings unsinnigen Leitkulturdebatte gegen die Entwicklung, als sei eine solche Leitkultur zu dekretieren wie eine Grammatikregel. (Nebenbei bemerkt: Zu den Seltsamkeiten der Leitkulturdebatte vor einigen Jahren gehörte, dass sie sich nicht gegen die bereits seit den 60ern existierende flächendeckende Amerikanisierung unserer Lebensverhältnisse richtete, sondern gegen die uns kulturhistorisch eigentlich viel näheren orientalischen Traditionen – auch interessant.)
Die Lösung für das Dilemma wird weder im Anything goes noch in Kulturbürgerbunkermentalität bestehen. Das Theater wird sich vielmehr wie immer darauf besinnen, dass es eine flexible response auf bestehende Wirklichkeiten zu leisten hat und sie in sein ästhetisches System integrieren. Denn nur deshalb hat es es geschafft, als alte Kulturtechnik über Jahrtausende zu überleben und ein wesentliches soziokulturelles Lagerfeuer der Hochkultur zu sein. Es schafft durch seine Eigenart stets einen Reflexions- und Erlebnisraum, der seine Gegenstände und sie entstammen nun mal der Wirklichkeit – egal ob Interkulturalität, Pop oder neue Medien - ästhetisch verwandelt. Dies wird zwei Folgen haben: 1. der Kanon wird sich ändern. Es werden nicht mehr nur die alten Lieder gesungen werden, sondern neue werden ältere verdrängen oder ergänzen. Ergo: es wird ein neuer Bildungskanon entstehen, der Mozart und Madonna, Comics und Goya zusammendenkt 2. Dies macht aber nur Sinn, wenn nicht einfach ein Kulturhybrid entsteht oder das eine das andere kolonisiert, sondern Pop als Wirklichkeitsphänomen zur Hochkultur in Schwingung gesetzt wird durch intelligente Reflexion seitens der Regisseure. Es gibt tatsächlich bereits solche Regisseure, die hierin besondere Kompetenzen haben: Stefan Pucher und Nicolas Stemann sind zwei davon und zwei der besten. Letzterer hat gerade beim Berliner Theatertreffen für sein Mammutwerk „Faust I und Faust II“ viel Lob bekommen, und er hat beim Stück der Stücke den Chorus Mysticus des Schluß („Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis…“) anstatt von Gustav Mahler als Popgospel erklingen lassen – ziemlich frech.
Popkulturelle Phänomene werden im Theaterkontext der Hochkultur – wenn also das Bewusstsein für Ästhetik, Sprache, Ritual, Klang, Bildkomposition wach bleibt – zu Gegenständen szenischer Reflexion,  d.h. das Theater unterwirft sich nicht affirmativ, sondern es treibt mit der Popkultur ein Spiel zwischen Affirmation und Widerstand. Ästhetischer Widerstand, kritische Resonanzräume waren seit jeher Teile des klassischen Bildungsbegriffs, als Selbstausbildung der Persönlichkeit. Voraussetzung. Und dieser Bildungsbegriff ist nicht tot.
Ich denke, hier entsteht ein neuer Bildungskanon und ein Umgang mit der Popkultur innerhalb der Hochkultur. Deswegen wird es nicht dazu kommen, dass am Schluß dieser Entwicklungen ein Theaterfreund und ein Blockflötenspieler im ärmellosen Pollunder unterm alteuropäischen Apfelbaum sitzen während in den um diesen herumgebauten globalen Wolkenkratzern längst E-Gitarre und Cyberspace die Herrschaft übernommen haben.. Das Theater als alte Kulturtechnik wird die gesellschaftliche Herausforderung ästhetisch bewältigen und abermals seine Vitalität  beweisen - ich bin da zuversichtlich.
Schließlich noch zu den angeblich mit dem Theater konkurrierenden neuen Medien.

3. Neue digitale und virtuelle Kulturtechniken und die Vorzüge einer alten Kulturtechnik
Jede neue Entwicklung der Gesellschaft hat selbstverständlich Folgen. Seit kurzem sogar politische, in Gestalt der Piraten. Natürlich kann das Theater nicht ignorieren, dass es all das gibt. Schon vor ca zehn Jahren sagte der ehemalige Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi in einem Vortrag, ich zitiere: „Die zunehmende Partikularisierung der Gesellschaft hat dem Sprechtheater den traditionellen Resonanzboden genommen, der noch im 19. und 20. Jahrhundert die Grundlagen für einen ständigen und produktiven Dialog zwischen Theater und Publikum bot. Das Theater wusste (oder glaubte zumindest zu wissen), für wen es spielte, und sein Publikum hatte eine begründbare Erwartung an die abendliche Vorstellung. Der Zerfall der bürgerlichen Öffentlichkeit ist eine der Folgen beschleunigter, grenzüberschreitender Kommunikation, die in Wissenschaft und Technik eine explosive Entwicklung bewirkt.“
Ich bin in der Frage, ob das Theater als Kulturtechnik im Verhältnis zum Internet tatsächlich etwas zu bieten hat – ehrlich gesagt – ganz entspannt.
Ich habe mich neulich mit einem jüngeren Neurologen und Psychiater über die neuen Medien unterhalten, und er war zu meiner Überraschung vollkommen sicher, dass der Konsumismus im Internet schädlich ist, dass das virtuelle Erlebnis im Netz zu neurotischen Verkümmerungen führt, zu krankhaften Konzentrationsschwächen, zu  Autismus, primärnarzisstischem Infantilismus etc. Das habe seines Erachtens verschiedene Gründe: die Verwechslung der Virtualität mit etwas Realem, die Einsamkeit vor dem Schirm, die unentwegte Dekonzentration auf den Datenautobahnen, das Tempo des Netzes, das keine Vertiefung mehr zulasse.  All dies führe zur Verkümmerung der Gefühle, echte Aggression sei nicht mehr möglich, echte Angst auch nicht, Kommunikation nicht, ein vernünftiges Zeitmaß nicht. Ich wandte ein, mein Sohn lese, wenn man ihn nicht unterbricht, 12 Stunden lang ein Buch, bis es fertig sei. Er erwiderte, das sei trotzdem etwas anderes, da Phantasie stiftend.
Hier sind wir nun in einem Bereich, wo Sie, die Ärzte, sich weitaus besser auskennen als ein Theatermensch. Inwieweit ist das stellvertretende Spiel durch Schauspieler etwas anderes als irgendwelche Mangas? Inwiefern ist das Erlebnis von Angst, Schrecken und Furcht, von Humor und Leichtigkeit in der Gruppe im Theater etwas anderes als einerseits in der Masse, andererseits allein am Bildschirm?  Die modernen Maschinen, die Bildschirmnutzung in Permanenz, beruflich wie privat, erinnert an die surrealistisch-prophetischen Junggesellenmaschinen, wo der Mensch über die Synthese mit einer prothetisch genutzten Maschine ein geschlossenes System bildet. Die Urform dieser Maschine ist ein Fahrrad, Tomi Ungerer hat dieses Prinzip eines geschlossenen Systems dann sexualisiert mit Elektrosteckern in Anus oder Mund.
Das Theater kann hier eine rezeptionsästhetische Besonderheit liefern, die den Menschen gut tut: es beruht nämlich auf der „leiblichen Kopräsenz“ (wie die Theaterwissenschaftler etwas gespreizt sagen) des Publikums und der Schauspieler.

Das Theater – eine Kulturtechnik der Zukunft? – Alte Qualitäten…
Ich habe bisher vom enormen Reformbedarf innerhalb des Theaters angesichts sich wandelnder Verhältnisse gesprochen. Aber es darf nicht opportunistisch sein, muß darauf bestehen, auch eine Gegenwelt zu sein, mit eigenen Werten und Phantasie.

1. Spiel versus Echtheit versus Virtualität
Im Verhältnis zu den modernen Medien ist ein Theaterabend mit echten Menschen, die Unecht Mord und Totschlag spielen immer naiv und kindlich, Kasperletheater, Kindertheater, ausschließlich phantasiebegabt. Denn jeder weiß, dass nichts echt ist, sondern nur vorgespielt. Aber mit der Phantasie schlägt der Mensch eine Brücke ins Wirkliche, er muß sie wegen der Unzulänglichkeit der Echtheit auf der Bühne selber leisten, sich verführen lassen. Er erlebt sie mit anderen, und er könnte theoretisch die Verabredung der Echtheit als Spiel jederzeit unterbrechen. Er bleibt frei. Über den Schillerschen Spielbegriff sprach ich schon.

2. Geschichte/kulturelles Gedächtnis statt Gegenwart pur
Wir leben vermutlich mitten in einem Epochenwechsel, der den klassischen Fragen des Theaters: „Wo kommen wir her?“ und „wo gehen wir hin?“ eine neue und ganz anders geartete Brisanz gibt. Wir sind mitten in stürmischer See. Alle gedanklichen Systeme, an die das 19. und 20.Jahrhundert geglaubt haben bzw. mit denen wir gelernt hatten umzugehen, sind kollabiert – in nur wenigen Jahrzehnten. Die Religionen als Leitsysteme haben schon seit längerem abgedankt, nun auch ihre säkularen Nachfolgemodelle - der Gedanke einer sozialen Utopie, wie sie sich einmal mit Marx verbunden hat ist ebenso bankrott wie unser westliches kapitalistisches System.
Das Theater kann sich als Sinnstiftungsinstitution mit diesen substantiellen Fragen beschäftigen und Erinnerungskultur bieten. Daran erinnern auch, dass wir überhaupt eine haben. Diese ist seit der „Antigone“ des Sophokles eine der klassischen Aufgaben des Theaters seit jeher. Die schon erwähnten „Perser“ des Aischylos haben die unmittelbare Vergangenheit der griechischen Polis reflektiert. Autoren wie Thomas Mann oder Tschechow haben auf gültige Weise den Niedergang des Bürgertums geschildert und faszinieren deswegen bis heute. Wer sich nicht mit der Vergangenheit beschäftigt, hat keine Zukunft. Das gilt im Übrigen nicht nur für die Geschichte der Gesellschaft, sondern auch für die eigene, die individuelle. Hier liefert das Theater spielerische Reflexionsräume jenseits von Therapie oder Ratgeberliteratur.
Die Vergangenheit aber beginnt in der Gegenwart, genauer im Umgang mit ihr. Hier kann das Theater Widerstand leisten, sich als geschichtsbewusstes Medium verhalten. Denn hier hat es tatsächlich ein Alleinstellungsmerkmal gegen das Zusammenspiel von Katastrophenfilmen, Alarmismus, und Bagatellisierung – denn das sind die Instrumentarien für die Bewältigung von Ereignissen im Infotainment. Hier herrscht mentale Inkontinenz durch pure Gegenwart und pure Sensation. Wir kennen den Mechanismus mittlerweile, unlängst bei Fukushima war der Ablauf des Vergessens wieder zu beobachten: es begann mit Bildern von ikonographischer Kraft und einem tiefen Schock, anschließend verwandeln sich diese Bilder in Markenlabels für die unendlich vielen Sondersendungen: Gehirnwäsche durch Bilderbeschuß begleitet von Talkshowgequatsche als kollektivem Ausscheidungsprozess samt peristaltischen Verdauungsbeschwerden. Feierabenderregung und Ablenkung, bis das nächste Thema kommt: vier Wochen Guttenberg, sechs Wochen Japan, drei Wochen Gaddafi – alles wird Teil der Fast- Food-Entertainment-Maschine und wir ertrinken m medialen overkill..
Wir haben fünf Sinne, wir können sie pflegen oder zerstören. Meistens lassen wir zu, dass sie desensibilisiert werden. Hier liegt die Chance, aber auch die Notwendigkeit von Medien wie dem Theater, einem der letzten Orte, wo Menschen sich gemeinsam und individuell zugleich versammeln und erinnern.
  Wie  kann ich aber Fukushima tatsächlich verarbeiten? Ich halte es durchaus für möglich, dass der Besuch einer Aufführung von Goethes „Faust I & II“ Substantielleres hierzu beitragen könnte als Sondersendungen im Fernsehen. Denn die Geschichte dieses Wissenschaftlers ist die Geschichte von Forschertum und Hybris.
Wenn ich hier von Geschichte  spreche, dann geht es um den Einzelnen und seine Verarbeitungsinstrumentarien, aber auch um das kollektive kulturelle Gedächtnis, es macht unsere Identität aus. Der sogenannte Kanon, von dem vorhin die Rede war, ist Ausdruck des kollektiven und individuellen  kulturellen Gedächtnis. Er hilft uns, dass wir nicht im Spiegel der geschichtslosen Gegenwart erblinden. Man kann ihn entrümpeln, aber nicht entsorgen.

Wozu ist der Mensch? Um mit sich selbst und anderen  Erfahrungen jenseits des Geläufigen zu machen, unerwartete Erlebnisse – nur dies bestimmt unsere Biographie, unser „ich“.. …. Die entscheidende Frage ist: wie bilden wir uns selbst weiter, wie kommen wir zu substantiellen Erlebnissen, was erinnern wir und wollen wir weitergeben an Menschen, die uns nahe sind, nachdem wir uns Grundbedürfnisse wie Wohlstand erfüllt haben? Darauf haben die neuen Medien keine Antwort. Sie können viel, und auch viel viel mehr als das Theater, aber das überfordert sie.

3. Apologetik oder Widerstand? Normerfüllung oder Devianz? – Das Erlebnis
Es gibt einen eigenartigen Grundwiderspruch, der die menschliche Existenz, das Leben, die Gesellschaft, die Künste, also auch das Theater prägt. Er führt dazu, dass wir beides zugleich empfinden: nämlich „Wir können nicht einfach immer so weiter machen!“ Und gleichzeitig: „Wir können nicht einfach alles ändern!“ – beides ist wahr.  Es geht um die Balance zwischen Beharren und Veränderungswillen, zwischen Konservatismus und Revolution, zwischen menschlicher Trägheit und Ungeduld, zwischen Apologetik und Widerstand. Aus diesem sich stetig verändernden Verhältnis haben die größten Autoren der europäischen Theatergeschichte Ihre Wirkung bezogen: die griechischen Tragöden, Moliere und insbesondere natürlich Shakespeare. Das Besondere der Kulturtechnik des Theaters  ist, dass sie nur sehr selten in vollständige Deckung zu den realen Verhältnissen gerät, sondern sich aus der Devianz zu ihnen versteht, einer Devianz, die aber für die Norm noch verständlich bleibt. Denn sie behält sich immer ein Utopiereservoir vor, das nicht im Realen aufgeht und aber auch nicht pure Traumfabrik ist, sondern Stachel und Phantasie fürs jetzt. Insofern ist die Hochkultur beides: Selbstverständigungsort der die Gesellschaft tragenden Mittelschicht wie auch Stachel, dass alles noch ganz anders sein könnte und sich nicht im reinen gesellschaftlichen Nutzen erschöpft. Genau in dieser Lücke zwischen Abweichung und Erfüllung hat sich das Theater seit tausenden von Jahren eingenistet – sie konstituiert das Drama, d.h.: Dialog und Kommunikation. Das Theater vermeidet im Idealfall die opportunistische Deckung mit den vermeintlichen Publikumserwartungen. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Denn nur aus der Differenz der Erwartungen zum sich real Ereignenden kann das echte Erlebnis entstehen. Man erlebt etwas, wenn sich anderes ereignet als erwartet, ja sogar wenn die Erwartung enttäuscht wird. Zu diesem Erleben kann durchaus auch ein kreativer Schock gehören. Alles andere ist Konsumismus und Pauschalurlaub – die perfekte Erfüllung der Erwartung durch den Tausch von Gütern.  Das ist das, was  Wilfried Minks, eine der großen Hamburger Theaterpersönlichkeiten, vor Jahren einmal mit dem schlichten Satz meinte: „Wenn ich ins Theater gehe, will ich etwas erleben.“ Das ist letztlich das einzige Kriterium.

4. Zeit und Zeitverschwendung
Die Differenz zur eigenen Erwartung kann sich durch Verschiedenes ereignen. Durch die ungewohnte Sicht auf einen Menschen, durch eine seltsame Erzählweise, durch politische Haltungen. Subversiver und wirksamer aber ist es, wenn im Umgang mit der Zeit eine Differenz zur eigenen Erwartung entsteht, wenn er  sich quer zur Physis und Psyche des Betrachters stellt und dessen Umgang mit Zeit infragestellt – sei es durch die Hysterie des Tempos oder durch die Strapazierung des üblichen Zeitgefühls durch Formen der Langsamkeit- ja, das ist politisches Theater, weit mehr als die eigene Meinung zu tagesaktuellen Themen aufzurufen. 
Eine Zeitlang war es Mode auf dem Theater, jeden Klassiker auf fernsehüblich-knackig-abschnurrende neunzig Minuten zuzurichten. Da konnte verhandelt werden, was will. Das Theater hatte sich der Zeitökonomie des Alltags angeschmiegt und wurde Teil des Lebensbetriebs – das aber ist genau nicht seine Aufgabe.. 

In der Tat: Der Umgang mit Zeit birgt Sprengstoff. Auch in der Literatur gibt es Figur und Gegenfigur: auf der einen Seite den beinahe sprichwörtlichen Oblomow, der sich der Schnelligkeit im Zeichen der Antimoderne verweigert, auf der anderen die Futuristen des frühen 20. Jahrhunderts- verliebt und berauscht vom damals neuen Tempo der Rennautos und Kanonen…
Diese Frontlinien setzen sich ungebremst bis heute fort: Vor kaum zwanzig Jahren hat ein französischer Philosoph seinen Ruhm mit  der Lehre von der Dromologie begründet. Fasziniert von den neuen Möglichkeiten hat er 

kybernetische Prozesse, Tempo und Geschwindigkeit analysiert,- zu einer Zeit, als sich im militärischen Komplex die neuen Technologien bereits abbildeten, die heute Alltag sind. Die heutigen, zivilen Beschleuniger unseres Lebens wie Twitter, Facebook, Smartphone, sms und email steckten in den Kinderschuhen bzw existierten noch nicht. Heute haben sie unser Leben in Besitz genommen. Alles ist zeitgleich überall. Und sofort. Die Nichtbeantwortung einer email binnen 4 Stunden, die Nichtbeantwortung einer sms binnen 10 Minuten ist bereits ein Affront. Die Attribute der Freiheit, das Paradies der grenzenlosen Kommunikation ist zur elektronischen Fußfessel geworden. Und plötzlich grassieren als Reaktion darauf  „Entschleunigungs“philosophien…Diese Art des bewussten Dinosauriertums aber gibt es im Theater seit jeher, in der Antike saß man einen ganzen Tag im Theater, Peter Stein hat seine berühmte „Orestie“ (1980) acht Stunden dauern lassen, Nicolas Stemanns „Faust I und Faust II“ braucht acht Stunden, auch Castorfs Dostojewskiexkursionen waren immer Fünfstünder – Einladungen, in eine andere Welt einzutauchen, voll und ganz. Aber auch kurze Aufführungen wie Klaus-Michael Grübers 1 ¾ Stunden dauernde „Affäre Rue Lourcine“ hat vor zwanzig Jahren ein verlangsamtes Zeitmaß behauptet, dass es gegenüber der Welt draußen eine poetische Frechheit war. Ähnliche Zeitverschwender sind bzw. waren Christoph Marthaler, Einar Schleef oder Jürgen Gosch.

 

Mit etwas Glück taucht man bei solchen Unternehmungen in einen Dauerrausch, in ein Korrektiv zu Alltag, Geld, Beruf und Termindruck, in andere Sprachen, andere Zeichen, andere Bilder – Zeitverschwendung als schönster Luxus: vorübergehend ein reicher Mensch, als sei die Zeit unendlich. Dabei ist sie die entscheidende Ressource, die es eben nicht unendlich gibt. Sie ist begrenzt: durch den Tod.

 

Im Umgang mit der Zeit manifestiert sich im Theater ein ästhetischer Widerstand gegen die Endlichkeit der Zeit und ihre Ökonomisierung. Man sehnt sich offenbar nach dem vom Theater organisierten Haarriss, nach Distanz zur Wirklichkeit, nach der Erfahrung von etwas anderem, nach einem ausführlichen Mahl statt nach fastfood. Das eine fügt sich in den ökonomisierten Alltag ein, das andere widersetzt sich ihm, ermöglicht das Eintauchen in eine andere Zeit. Das Theater raubt Zeit und schenkt sie doppelt zurück. Denn das Leben auf der Bühne hat sein eigenes Maß. Und Blackberry, U-Bahnpläne oder Babysitterzeiten sind für einen Augenblick vergessen. Das Theater wird zur Insel eines anderen Umgangs mit der Zeit. Sie ist das einzige, was wir haben. Meist rennt sie ungenutzt, verschwendet. Die Kunst, sie sinnhaft zu verschwenden, ist schwer. Das Theater kann dabei gelegentlich helfen. Die da oben leben wie Sie, die Zuschauer, in diesem Moment im gleichen Raum: man ist wechselseitig auf Augenhöhe und begründet eine Partnerschaft. So war das eigentlich immer, denn das Theater ist ein Bastard von Ritus und spektakelhafter Unterhaltung, seit je, egal ,,  bei den Griechen, in Shakespeares London oder heute. 

5. Bildung als Selbstausbildung
Vieles von dem, was ich bisher gesagt habe, fließt in dem Begriff der Bildung zusammen. Bildung verstanden als Selbstausbildung des Menschen im klassischen Sinne, nicht als Anhäufung von Wissen. Bildung als Widerstand gegen die grassierende Curricularisierung und Spezialisierung von Schulen und Universitäten, wo doch die Erkenntnis mehr und mehr wächst, dass es ums Lernen lernen geht und nicht um Wissensanhäufung, ums Studium Generale, das wir lebenslänglich brauchen, in der Ausbildung unserer Wahrnehmung, unserer Sinne etc. Man braucht eine Basis, die auf viele verschiedene Situationen anwendbar ist.

 

Kunst und auch Theater bestehen darauf zweckfrei zu sein, aber nicht sinnlos. Ästhetische Bildung ereignet sich zentral durch Kunst. Egal, ob es um Malerei, Musik , Literatur oder Theater geht. Denn die Beschreibung der Welt, der Geschichte, der Menschen und ihrer Gefühle durch Klänge, Farben, Darstellung oder Spiel ist eine, wenn nicht gar die zentrale Eigenschaft, die den Menschen als reflektierendes kulturelles Wesen ausmacht. Hier erwerben wir Kenntnisse über uns selbst, über soziale und gesellschaftliche und humane Aspekte unserer Existenz. Wir lernen sprachlich zu beschreiben, uns auszudrücken etc. Kunst – und also auch das Theater – hat hier unbestritten eine hohe Funktion. Wie verhalten sich Menschen in Konfliktsituationen? Warum verhalten Sie sich so? Wie würde ich mich verhalten? Wo bei mir nur ein amorphes Gefühl herrscht, schafft es eine Figur auf der Bühne vermittelt durch den Dichter eben dieses Gefühl von mir  auf die wunderschönste Weise auszudrücken. Ich bin, um es pointiert auszudrücken, tatsächlich davon überzeugt, dass ein Schüler, der sich mit dem „Handschuh“ beschäftigt hat oder als Schüler und Student regelmäßig z.B. ins Thalia Theater gegangen ist, ein besserer Chemiker, Computerfachmann, Bankier, Reiseleiter, Schreiner oder Automechaniker  oder was auch immer ist, als einer, der dies nicht getan hat!!

Ästhetische Bildung erhöht und kräftigt viele  Kompetenzen: Soziale Kompetenzen, Kommunikationsfähigkeit, Wahrnehmungsschulung, Weltklugheit, Sinnkompetenzen, emotionale und kognitive Kompetenz etc…. Und doch findet ästhetische Bildung nicht deswegen statt, sondern weil sie einen surplus von spielerischer Freiheit hat. Es geht letztendlich um die Wiederkehr der Lieblingsideen der deutschen Aufklärung und Klassik in moderner sprachlicher Färbung. Als könne man durch Bildung „veredeln“, als müsse man Herder nur aus der Sprache des 18. ins 21. Jahrhundert  übersetzen. Ich zitiere: „Das Göttliche in unserem Geschlecht,“ sagt er, „ ist Bildung zur Humanität. Die Bildung zu ihr ist ein Werk, das unablässig fortgesetzt werden muss; oder wir sinken, höhere und niedere Stände, zur rohen Tierheit, zur Brutalität zurück..“ (Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit)

Wir haben zwischendurch anderes gelernt: Dass die Liebe zu Beethoven und das Betreiben von Auschwitz, die Liebe zu Tschechow und das Betätigen der Kalaschnikow sich nicht ausschließen. Aber wir haben auch gelernt, dass Herders „rohe Tierheit“ tatsächlich durch ganzheitliche Bildung bekämpfbar ist: Sie alle kennen vermutlich die erfolgreichen Bemühungen in Südamerika Slums, Jugendverwahrlosung mit Musik zu bekämpfen. Ähnliches versucht gerade Michael Otto für Hamburg.

 

Zum Schluß - Über den Wert der Kultur
Kultur ist das, was die Menschheit entwickelt hat, sobald sie in der Lage war, über die alltägliche Notdurft hinauszukommen. Man fängt an sich mit Überflüssigem zu umgeben: mit Schmuck, mit einer weißen Tischdecke, man fängt an Lieder und Geschichten zu schreiben und zu erzählen, rituelle Feste zu erfinden, Musikinstrumente herzustellen, Bilder zu malen, Theater zu spielen – kurz zivilisatorische Verkehrsformen zu entwickeln, die allesamt eines gemeinsam haben: sie sind überflüssig: Man muss weder Geschichten erzählen oder Musik machen noch mit Messer und Gabel essen, um zu überleben. All das Genannte kostet nur Zeit und Geld, ohne irgendeinen Nutzen hervorzubringen – den, sich selbst zu „bilden“ und als Mensch auszubilden vielleicht ausgenommen. Aber ein guter Seefahrer, Handwerker, Geschäftsmann kann man theoretisch auch ohne dies sein. Freiheit aber – eines der höchsten Güter der Menschheit – entsteht erst dann, wenn Räume für diese und andere Dinge entstehen und wir dem puren Nutzen entkommen. Es ist vielleicht nicht völlig sinnlos, gerade in einem protestantischen Umfeld, wo die Dinge manchmal im Übermaß an ihrem Nutzen gemessen werden, daran zu erinnern. Hier fallen einem dann schon Klassikersätze wie „Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein“ ein, auch der Schillersche „Spiel“begriff – alles Überlegungen, die das Ästhetische als eine das Ethische mitumfassende Kategorie denken.

Eine wahrhafte Zivilisation hat es immer nur dann gegeben, wenn sie sich Kultur leistete. Denn sie umfasst gesellschaftliche Verkehrsformen, Normen und Werte, das Schöne (inklusive der Auseinandersetzung mit dem Hässlichen) und vieles mehr. Von kultureller Rohheit und Barbarei sprechen wir dagegen, wenn all dies nicht existiert oder nicht mehr wertgeschätzt wird. Wenn man Kultur als Wert gesondert verteidigen muss, sieht es in einer Gesellschaft relativ finster aus…

Das Theater ist seit tausenden von Jahren ein zentrales Genre, in dem die große Erzählung von der Menschheit und ihrer Entwicklung aufgehoben ist. Die vielbeschworene „große Erzählung“ – sie wurde in den letzten Jahrzehnten immer selten geschrieben. Thomas Mann hat sie für das Bürgertum in den „Buddenbrooks“, auch im „Zauberberg“ geschrieben, „Dostojewski hat sie geschrieben – möglich ist das schon. Auch in der neuen Gesellschaft, die sich gerade herausbildet, gibt es bereits wieder Beispiele für große Erzählungen, Kermanis „Dein Name“ zum Beispiel– ein unendlicher Roman, der von Orient und Okzident, von Moderne und Vormoderne, von Bauernleben und Intellektualität erzählt und die hybride Identität des 21. Jahrhunderts inklusive ihren popkulturellen Anteile signifikant markiert.

 

Es gibt ein eigenartiges Buch, das mich in der Vorbereitungszeit für Hamburg beschäftigt hat. Es heißt „Das Leben. Gebrauchsanweisung“ von dem Franzosen George Perec. Was nach Ratgeberliteratur klingt, ist eigentlich ein philosophischer Witz. Camus’ Mythos von Sisyphos mit Humor. Es erzählt von einem Mann, der hinausgeht in die Welt und überall Seestücke malt. Er schickt sie nach Hause, lässt sie zu Puzzles zerschneiden und in mühevoller Kleinarbeit wieder zusammensetzen. Anschließend lässt er in den Häfen der Welt eine Säurelösung über die Seestücke laufen und die Bilder lösen sich ins Nichts auf...

Wir müssen offenbar die Welt und das Bild, das wir von ihr haben, immer wieder neu erschaffen und neu zusammensetzen. Manche finden das vermutlich deprimierend, aber es ist doch auch ein schöner und lustvoller und komischer Vorgang, wenn wir uns immer wieder neu erfinden müssen. Es hält uns am Leben und bereit fürs „Erleben“ im oben beschriebenen Sinne, sei es in der Kunst oder in anderen Lebensbereichen.

Ich komme zum Ende mit zwei Sätzen aus verschiedenen Zeiten, der eine ist von Friedrich Wilhelm Schelling und ungefähr 200 Jahre alt, er lautet: „Im Menschen schlägt die Natur das Auge auf, mit dem sie sich selbst anschaut.“ Der zweite Satz stammt von heute, von dem populären Fernsehphilosophen Richard David Precht: „Das Tolle an der Evolution ist, dass sie sich durch die Hervorbringung des Menschen für sich selbst faszinierbar gemacht hat.“

 

Zum Schluss: Letztendlich machen wir Theater. Wir sind weder Philosophen noch Politiker oder Sozialarbeiter. Unser Geschäft ist, uns möglich spannende Künstlerkonstellationen auszudenken, Theaterstücke zu prüfen, uns mit der Frage zu beschäftigen, wie Literatur auf die Bühne kommt, sie mit Ungewohntem zu konfrontieren und auch schlicht: sie zu unterhalten. das Theater ist ja dann doch, wenn es nicht so ausgeleiert klänge, tatsächlich der „Farbige Abglanz des Lebens“, moderner gesprochen: vielfältig, widersprüchlich und wandelbar wie das Leben, auch wenn uns dort nicht alles gefällt. Und zu diesem „Abglanz“ gehört heute eben mehr und anderes als zu Goethes Zeiten. Das Theater ist keine Schutzhöhle vor der Welt, sondern eine Plattform für seine Erscheinungen besser: für deren ästhetische Bewältigung. Insofern soll das Theater die Welt im Wortsinne re-präsentieren, aber sich auch in einer Differenz zu ihr behaupten und wenn nötig auch in den Widerstand zu ihr gehen..

Das aber geht nur, wenn das Theater nicht Zweckbindungen unterworfen wird. Seine Qualität besteht darin, dass es mit einem Schutzwall gegen die Ökonomisierung ausgestattet ist und eben „Spiel“ bleiben darf. Thomas E. Schmidt meinte unlängst in der ZEIT:“ „Der Zweck des Theaters besteht ja nicht darin, Plätze zu verkaufen, sondern anschlussfähigen Sinn zu produzieren.“  Ich würde korrigierend ergänzen: Und selbst das manchmal n i c h t!