„Die Witwe forde
rt ein Mindestm
aß an Ger
echtigkeit“

Bibelarbeit beim Evangelischen Kirchentag in Hamburg, 2. Mai 2013 von Joachim Lux

Als ich die heutige Veranstaltung zugesagt habe, war mir nicht so recht klar, worauf ich mich da einlasse. Ich lese nämlich an freien Tagen in der Regel Theaterstücke und keine Bibeltexte.
Am Karfreitag dann also der Lukas-Text über den Richter und die Witwe. Auf den ersten Blick geriet die Lektüre unter dramatischen bzw. theatralischen Gesichtspunkten zu einer Enttäuschung: Gut und Böse sind in der Geschichte von vornherein klar verteilt, und es geht nur noch darum, wie man das schwache Gute (die Witwe und ihr Recht) so „supporten“ kann, damit es sich gegen das starke Böse (den Richter also) behauptet. Das Gute setzt sich zu unserer Zufriedenheit in der Geschichte tatsächlich durch, und zwar  infolge von „Gottvertrauen“. Aus solch simpel volkstümlich anmutendem Stoff sind Theaterstücke der Weltliteratur eher selten...
Am Sinnvollsten also, so eine kurze Zuckung des Gemüts, wäre es eigentlich, den Vortrag abzusagen. Daß Sie ihn nun heute doch hören, ist der Erkenntnis geschuldet, dass bei näherer Betrachtung sämtliche Hervorbringungen der Weltliteratur auf Ein-Zwei-Satzgeschichten zusammenschnurren: Boy meets girl, aber sie dürfen nicht zusammenkommen („Romeo und Julia“), Ein junge Frau möchte ihren Bruder, der ein Staatsfeind ist, beerdigen („Antigone“) etc. In kurzen Plots wie diesen stecken große Romane, gigantische Menschheitsdramen, Philosophien etc. Und so ist es ja im Grunde mit den Geschichten der Bibel auch. Viele kleine Erzählungen, Fabeln, Exempel, die – sofern sie auf die Phantasie eines Lesers oder Hörers treffen -  zu einem Drama oder einem Roman auswachsen, zu exemplarischen Menschheitsgeschichten. Es gibt in der Weltliteratur eine stattliche Anzahl auch von biblischen Geschichten, mit denen sich genau dies ereignet hat, wenn Sie beispielsweise an Thomas Manns „Joseph und seine Brüder“ oder auch an Joseph Roths „Hiob“-Geschichte denken. Welche Phantasien könnte also unsere kleine Geschichte von dem Richter, der weder Gott fürchtet noch Respekt vor den Menschen hat, auslösen?
Hören wir uns die Geschichte noch einmal an, in der Kirchentagsübersetzung, bereinigt allerdings um die hier Philologie gewordene Genderfrage im Bezug auf das Geschlecht des Göttlichen. Nicht dass ich diese Frage unerheblich finde, nur sie verhindert, Übersetzung geworden, leider die Verständlichkeit des Textes. Es liest Marina Galic.
Lukas 18,1 – 8
Jesus erzählte ihnen ein Gleichnis davon, dass sie immer wieder zu Gott schreien sollen anstatt aufzugeben:
„Da war ein Richter in einer Stadt, der hatte keine Ehrfurcht vor Gott und keinen Respekt vor den Menschen.
Eine Witwe lebte in dieser Stadt, die kam immer wieder zu ihm und verlangte: Gib mir mein Recht gegen den, der mir mein Recht nimmt.
Lange wollte er nicht. Dann aber sagte er sich: Wenn ich auch keine Ehrfurcht vor Gott habe und keinen Respekt vor den Menschen, will ich doch der Witwe ihr Recht geben, weil sie mir lästig wird. Sonst kommt sie am Ende noch und schlägt mich ins Gesicht.“
Der kyrios, der Befreier, sagte: „Hört, was der ungerechte Richter sagt!
Gott aber, wird er(sie) nicht denen, die ihm (ihr) am herzen liegen, die Tag und Nacht nach ihm (ihr) schreien, Recht verschaffen und sich ihnen liebevoll zuwenden?
Ich sage euch: Gott wird ihnen Recht verschaffen ohne zu zögern. Aber wird der Mensch, der gekommen ist, Gottvertrauen auf der Erde finden?“


Der Text thematisiert in wenigen Zeilen anhand eines Gerichtsprozess nichts weniger  als sämtliche Grundfragen von Gerechtigkeit. Und in der Folge die Weltordnung selbst, die irdische wie die religiös überhöhte. Es geht um Fragen wie:

Woran glaube ich als Mensch hinsichtlich der Gestaltbarkeit unserer Existenz? Wo sind meine Möglichkeiten? Wo meine Grenzen?

Ist die Ordnung, in der ich lebe, gut, und sie muß „nur“ innerlich mit Leben gefüllt werden? Oder ist sie schlecht und fordert zur Systemkritik heraus?

Wie kann also Gerechtigkeit unabhängig vom Versagen und der Willkür des Einzelnen durchgesetzt werden? Wie kann man politische Mechanismen schaffen, die den Schaden durch korrupte oder versagende Einzelpersonen verhindern? Wie kann das latent Schlechte bzw. Fehlbare des Menschen durch Strukturen ausgehebelt werden?

Ist der Mensch unverbesserlich, wie z.B. dieser Schreckensrichter, „der keine Gottesfurcht und keinen Respekt vor den Menschen hat.“ Das Christentum macht hier einen menschheitsgeschichtlich ebenso pragmatischen wie weisen Spagat: es hält den Menschen für besserungsfähig und nicht besserungsfähig zugleich – der Mensch allein wird’s also kaum richten können...

Schließlich: Wie reagiere ich als Einzelner auf Unrecht? Welche Möglichkeit habe ich hier? Wie kann ich dazu beitragen, dass mehr Gerechtigkeit in die Welt kommt? Fragen von Demut, Zivilcourage, Rebellion, Widerstand, ja gegebenenfalls auch von Aufruhr.

Und: auf welches Recht berufe ich mich in meinem Protest, meinem Widerstand? Gibt es jenseits des positiven Rechts ein unabhängiges Recht? Übergeordnete Kategorien? Kategorien wie Naturrecht, Menschenrecht, göttliches Recht? Und wer definiert diese Kategorien, damit daraus nicht eine sich selbst absolut setzender Willkür entsteht?

Man sieht: wir haben uns mit ein paar Fragen bereits tief in der Geschichte verstrickt und man kann sich leicht vorstellen, dass von jeder dieser Fragen unterschiedliche Wege zur künstlerischen und inhaltlichen  Verlebendigung der Geschichte führen können.

Dabei sind wir mit den Gerechtigkeitsragen keineswegs am Ende. Nein, die allergrundsätzlichste und bitterste Frage des Menschen steht noch aus, es ist die nach der grundsätzlichen Ungerechtigkeit. Denn die alles überstrahlende Erfahrung ist seit Jahrtausenden, dass dem Menschen unendlich viel Ungerechtes widerfährt. Er leidet unter einem Überschuss an Ungerechtigkeit und einem Mangel an Gerechtigkeit: Der Mensch muß in den Krieg ziehen, obwohl er nicht will. Er lebt in einem Staatswesen, dessen Ungerechtigkeit er nicht erträgt, er leidet unter Naturkatastrophen, ohne Schuld auf sich geladen zu haben, er wird beruflich gedemütigt, obwohl er sich immer fair verhalten hat, er wird von seinem Lebensgefährten verlassen, obwohl er dazu keinen Anlaß geboten hat, er muß in Hiroshima sterben, obwohl er nichts getan hat, er verliert sein Geld als Kleinsparer, weil Finanzhaie skrupellos Profit machen, er wird krank, obwohl er immer gesund gelebt hat. Er muß sterben während andere ihr Leben genießen... Auf diese grundsätzlichen Ungerechtigkeiten im menschlichen Leben könnten sich vermutlich sogar unser Richter und die Witwe in einer Verhandlungspause einigen. Vielleicht würde sie erläutern, dass sie ganz besonders dringlich um ihr Recht kämpft, weil sie den Verlust ihres Mannes als besonders grausamen Schicksalsschlag empfindet, und der Richter würde vielleicht erzählen, dass er seinen Dienst so hartherzig verrichtet, weil er als einer der besten Juristen des Landes längstens in die Hauptstadt hätte befördert werden müssen und jetzt aus Verbitterung Rache nähme…  All diese Ungerechtigkeiten sind für den Einzelnen unerklärlich, jedenfalls in der unerschütterlich kindlichen Vorstellungswelt des Menschen. In seiner Kindlichkeit möchte er die Erfahrung machen, dass er einzigartig und kostbar ist. Deswegen hat er sich angewöhnt, Kausalzusammenhänge herzustellen zwischen einem glücklichen Leben und seinen moralischen Verdiensten. Zwar entspricht dieser Zusammenhang nur äußerst selten der Erfahrung des erwachsenen Menschen, aber es ist dennoch unausrottbar menschliches Denken, weil man dem Unglück und den Ungerechtigkeiten nur so einen Sinn unterlegen kann. Viele Religionen spiegeln diese anthropologische Kindlichkeit. Wenn dieser Sinnkontext – es ist letztendlich der von Lohn und Strafe, Himmel, Hölle und Fegefeuer - nicht herzustellen ist, bricht das gesamte geordnete Weltbild in sich zusammen. Dann fängt der Mensch an, das Leben als schicksalhaft zu begreifen, verwandelt sich vom Subjekt zum Objekt, von der Krone der Schöpfung zum Sandkorn, von jemandem, der sein Leben selbst zu gestalten glaubt, in jemanden, der die Dinge ichschwach erleiden muß. Religiös Motivierte stellen spätestens hier die Frage nach der Theodizee. Und es gibt hierauf – wie ich finde – keine Antwort. Keine jedenfalls die befriedigt.
Denn die Konstruktion, dass man für Wohlverhalten belohnt wird, wird ja nicht nur vom unverdienten eigenen Unglück, sondern zusätzlich vom unverdienten Glück anderer aufs Schwerste torpediert und ad absurdum geführt. Erfahrungen, die unsere Moral, unseren Glauben an die Gerechtigkeit zusätzlich unterminieren. Aus diesen grundsätzlichen Erlebnissen, aus dem Gefühl, verhöhnt zu werden, erwächst die immer wieder zu beobachtende Genugtuung oder gar Schadenfreude, wenn endlich doch einmal auf unchristliche Weise Vergeltung geübt wird. Zuletzt geschehen bei der Hinrichtung von Verbrechern wie Gaddafi, Ceausescu, Osama Bin Laden oder Saddam Hussein. Hier ereignet sich die Gerechtigkeit, die wir sonst vermissen, in der Strafe für das Urböse. Auch das Theater bezieht immer wieder erhebliche Effekte aus Affekten  gegen das Urböse., sei es Machtgier, Geldgier, Sex oder sonst etwas Schlimmes. Fast der gesamte Shakespeare lebt von solchen Dingen. Alljährlich lassen sich zehntausende auf dem Salzburger Domplatz schauerlich ergreifen, trösten und warnen zugleich: Auch der reiche „Jedermann“ muß sterben – wie jeder Mann. Solche Erlebnisse verschaffen uns – in der Fiktion wie im wahren Leben - endlich die Gerechtigkeit, nach der wir sonst oft vergeblich dürsten. Seltene Triumphe der Nemesis. Hier darf die Strafe dann auch einmal unchristlich und überdeutlich ausfallen und uns qua Todesstrafe für eigene Unbill entschädigen. Die biblische Geschichte von der armen Witwe und dem anmaßenden Richter verläuft allerdings anders. Sie nimmt mit Haaresbreite den Ausweg in die Komödie.

In Fragen der Gerechtigkeit ist der Mensch am empfindlichsten. An ihnen zerschellt der Glaube an eine Weltordnung. Deshalb gibt es auf die erschütternste Frage des Christentums bis heute keine Antwort. Es sei denn man glaubt. Es ist die Frage, die sich alljährlich an Karfreitag stellt, an dem Tag, wo ich angefangen habe, über die Geschichte von der Witwe nachzudenken. Es ist die Frage von Jesus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.“ Dieser Schrei – und das ist eine wahre Sensation – stellt mitten in der Gründungsphase einer neuen Religion in aller Wahrhaftigkeit und Radikalität die Kernfrage, ohne eine Antwort zu haben. Sie implantiert schonungslos den Atheismus und begründet paradoxerweise aus ihm die neue Religion. Auch Jesus ist – wie die Witwe – Opfer eines Richters. Allerdings in einer anderen Qualität: er ist er zum Tode verurteilt und zum Abschlachten freigegeben, ohne dass der Vater, der angeblich Allmächtige, eingreift. Und doch ist die Frage von Jesus am Kreuz zugleich eine Art Antwort, denn er sagt ja nicht: “Warum bin ich so allein?“ oder: „Ich rufe zur Revolution gegen die römische Besatzungsmacht auf.“ Oder gar: „Warum habe ich soviel Pech?“ Sondern er spricht mit Gott, hat ein DU, einen Kontext, sogar einen personalen, jedenfalls eine Kategorie, die ihn als Mensch übersteigt, eine Aufgehobenheit im Ganzen, im Kosmos, die gleichwohl – das ist das Paradox der Situation – am Kreuz zu schwinden droht. Und dennoch der Ansprechpartner bleibt. Er ist nicht allein, auch wenn er von allen verlassen ist. Dieses DU gibt ihm am Kreuz die Würde zurück, die er sonst nicht mehr fände. Es ist ein Satz der Revolte und der Ergebenheit zugleich. Das ist ein ganz entscheidender Punkt des Menschseins. Jedenfalls im christlichen Sinne. Dieses Urvertrauen rettet den Menschen. In der Geschichte von unserer Witwe geht es genau um dieses „Gottvertrauen“. Der Text wirbt darum, dass man vertrauen kann, in Gott und in der Folge in sich selbst. Sie „schreit“, wie es heißt, zu Gott, dem barmherzigen Richter, wird aber anders als Jesus am Kreuz, nicht enttäuscht. Denn sie bekommt ihr Recht. Tatsächlich ist der Dialog, das Dramatische, das Gespräch mit etwas, das außerhalb von uns selbst ist, Kern des Menschseins, Kern des Theaters und Zentrum auch jeglicher religiöser Überhöhung menschlicher Existenz. Die tiefe Kongruenz von Kunst und Religion in diesem Punkt ist übrigens exemplarisch in Goethes „Tasso“ zu finden. Dem Dichter Tasso wird am Schluß der Lorbeerkranz zur Dornenkrone: „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,/ Gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide.“ Es geht, wie man sieht,  immer wieder darum, uns ins Verhältnis zu setzen, zu etwas anderem, außerhalb von uns selbst. In der Religion geschieht dies über Gebet oder Meditation oder Gesang und Schrei– die Techniken und Ausdrucksformen sind vielfältig. Jeder kennt diese imaginären Gespräche, die man führt, irgendwie mit sich selbst oder mit einem abwesenden Partner oder mit dem Weltganzen, den Vögeln, dem Himmel, mit Gott, mit Emanationen der Psyche wie die Shakespeareschen Hexen oder die Auftritte der Toten. Aber es gibt auch noch andere Formen des Zugangs zum Transzendenten, Boten und Grenzgänger zwischen Kosmos und mMnsch, die Aufträge erteilen oder erhalten und auch schützen – Engel nennt man sie im christlichen Kontext.
Das DU unserer biblischen und also monotheistischen Witwe ist Gott. Ob dieses DU nur ein Vorgestelltes ist, ein Erfundenes oder ob es real existiert, spielt keine Rolle. Denn für den, der an Gott glaubt, gibt es ihn auch. Schlimmstenfalls ist er eine hilfreiche Fiktion, bestenfalls gibt es ihn tatsächlich. Wir brauchen offenbar im Drama
des Lebens – wie im Drama als Kunstgattung – ein DU. Und zwar umso mehr, wenn wir uns gänzlich allein und verlassen fühlen.

Das bringt uns zu der Frage nach dem ICH. In diesem Fall nach dem Ich der Witwe. Jeder, auch diese Witwe, muß sich selbst ins Verhältnis setzen, sich in der Welt verorten, ein angemessenes Verhalten an den Tag legen. Mal muß man Demut und Bescheidenheit üben, mal geht es eher um Mut und Selbstbewusstsein. Das ist häufig schwer zu entscheiden und zugleich für das eigene Lebensschicksal entscheidend. Man kann nicht einfach zornig wie Rumpelstilzchen auf seinem vermeintlichen Recht beharren und auf den Boden stampfen. Oder doch? Soll man noch einen Schritt weiter gehen oder sich zurückhalten und abwarten? Wer weiß das schon so genau? Und auch das Motiv muß halbwegs adäquat sein. Man kann nicht bei jeder Autopanne immer gleich „Gott“ anrufen, nur weil ein Reifen geplatzt ist. Ein Zeichen dafür, dass der Mensch dazu neigt, seiner Kinderseele in unangemessener Weise Raum zu geben anstatt Probleme selbst adäquat einzuschätzen, ist ausgerechnet das sich an Jesus anlehnende bekannte Goethezitat. Ich wiederhole es noch einmal: „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,/ Gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide.“ Mag dies mit einem Schuß Hybris versehen bei Tasso vielleicht noch angehen, so stimmt die Tatsache, dass diese zwei Zeilen Goethes kalenderspruchtauglich wurden, schon skeptischer. Sie taugen offenbar für viele x-beliebige und auch für unangemessene Situationen. Goethe selbst ist in seiner „Marienbader Elegie“ das beste Beispiel. Dort versucht er seine „Qual“ mit „Gottes“ Hilfe zu bewältigen. Es ist die eines Achtzigjährigen, der in seiner närrischen Liebe zu einem Teenager von diesem nicht erhört wird. Ich denke, hier sollte weniger der liebe Gott als die eigene Einsicht weiterhelfen. Nicht jede Notlage braucht die Anrufung übernatürlicher Mächte...
Die Geschichte von der Witwe ist in diesem Punkt klar und das heißt auch radikal: Erstens: Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, dass sie im Recht ist. Und es besteht, zweitens, auch kein Zweifel daran, dass sie zu den Benachteiligten und Unterprivilegierten, ja den Mittellosen gehört: Sie ist eine schutzlose Frau ohne jegliche Lebensgrundlage: eine Witwe. Schlimmer geht’s nimmer. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, verweigert der Text uns drittens inhaltlich Stellung nehmen zu können, denn wir wissen gar nicht, worum es geht. Er setzt vielmehr voraus, dass das Anliegen der Witwe berechtigt und schwerwiegend ist. So bleibt uns die Zwickmühle erspart, uns zum Beispiel mit der Güterabwägung zwischen Staatsraison und Menschenrecht beschäftigen zu müssen, wie in der „Antigone“ des Sophokles. Viertens zeigt die Geschichte, dass es sehr wohl möglich ist, sein Recht durchzusetzen, obwohl man keine Macht hat. Und schließlich wird hier nicht einer ichschwachen grauen Maus Mut gemacht, doch einmal beim zuständigen Sachbearbeiter in der Stadtverwaltung vorzusprechen, um das Kindergeld oder die Hartz IV Zahlung freundlich anzumahnen. Nein, die Frau ist kraftvoll und mutig, war schon zigmal beim Amt, ist vielleicht sogar penetrant und hartleibig und wird jetzt aufgestachelt nachzulegen, auf ihrem Recht zu bestehen.

Die Botschaft ist klar: Man muß sich nicht alles bieten lassen! Und wer Gott vertraut, hat genügend Kraft sich zu wehren, sich aufzulehnen, selbst wenn er zu den Schwachen gehört. Nicht Ergebenheit ins vermeintliche Schicksal, sondern aktives Eingreifen will dieses Gottvertrauen. Der Mensch kann sich mit Erfolg wehren, wenn er nur laut genug „schreit“. In seinem Schrei liegt seine Chance. Das jedenfalls erzählt Jesus, Kyrios, der „Befreier“, wie er im Text heißt. So kräftigt die Erzählung das ICH in seinen Rechten, stärkt den Glauben an sich selbst, kraftvoll, entschieden, sozial, politisch, ja revolutionär. Die Geschichte appelliert unmißverständlich an die Autonomie des Menschen, an seine Freiheit, seine Kraft, sein Selbstbewusstsein. Allerdings: Der Glaube des Ichs an seine eigene Kraft ist nur durch das Vertrauen in jemand anderen, in Gott, möglich. So sagt jedenfalls Jesus in dieser Geschichte und treibt die Selbstlegitimation seiner neuen Religion voran.
Letztendlich ist dieser kleine Text ein schönes Beispiel für die Idee von der Individuation des Menschen, ein Appell an sein Selbstbewusstsein. Ein Dokument für einen Meilenstein im Zivilisationsprozeß: Mensch, du bist nicht so wehrlos, wie du glaubst. Glaube an Dich selbst. Und ich, die göttliche Instanz, stehe dir in diesem Glauben bei. Wenn du an mich glaubst, kannst du – glaub mir – auch besser an Dich selbst glauben. Und wenn du an dich selbst glaubst, hast du viel viel mehr Kraft als du glaubst. Daher: Glaube!! Das Gottvertrauen ist also psychologisch eine Umwegtechnologie zum Glauben an  sich selbst. Eine Kraft, die mit dieser Geschichte auch direkt in den politischen Widerstand führen könnte…

…Könnte. Denn den politischen Widerstand vermeidet unser Märchen „Von der wundersamen Kraft Gottes“ auch, in dem es ihm eine günstige Laune schenkt. verlieren, muß darauf hingewiesen werden, dass die Katastrophe nur durch die Laune eines Richters vermieden wurde. Die dem Richter in den Mund gelegte Befürchtung, die Frau könne ihn vielleicht ohrfeigen, wirkt beinahe wie ein zarte Empfehlung des Evangelisten: nämlich zur  Not und als ultima ratio gegebenenfalls sogar Gewalt gegen ein staatliches Organ anzuwenden. Der Beinahe-Aufruf zur offenen Revolte gegen ein ungerechtes System bzw. gegen Obrigkeiten, die die menschlichen Grundrechte und die transzendentale Ordnung nicht achten, ist deutlich. Hier kommt – wenn auch nur als Angstphantasie des Richters - die Absetzung der bestehenden staatlichen Autorität ins Spiel.  Das positive Recht bzw. seine missbräuchliche Anwendung durch den Menschen wird nicht akzeptiert, sondern durch ein übergeordnetes göttliches und humaneres Recht massiv infrage gestellt. Das ist Revolution. Eine Revolution durch Gottvertrauen. Historisch lehnt sich die Bibel hier gegen die Ungerechtigkeit der römischen Besatzungsmacht, ja  gegen ein Weltreich auf. Dieser historische Akt der Beinahe-Auflehnung ist vielfach übertragbar. Sowohl im Sinne einer notwendigen Befreiung wie auch – und hier ist von einem sehr sehr schmalen Grad zu sprechen – im Sinne von Anmaßungen und Absolutheiten ganz entsetzlicher Art. Denn wenn der Mensch das Recht unter dem Signum des Göttlichen usurpiert, wird es meist schwierig. Zu beobachten ist dies nicht nur am Beispiel heutiger, sich resakralisierender Gesellschaften, es reicht der Blick in die eigene christliche Geschichte. Millionen sind diesem Absolutismus zum Opfer gefallen. Auch Friedrich Schillers „Jungfrau von Orleans“ ist ein treffendes Exempel dafür, wie die Inanspruchnahme des Göttlichen in fundamentalen Terror umschlagen kann. Wer markiert die Grenze?

Was also wäre passiert, wenn sich diese Witwe nicht durchgesetzt hätte? Vielleicht hätte sie den Richter tatsächlich geohrfeigt, vielleicht hätte sie sich aus Verzweiflung umgebracht, vielleicht wäre sie zu einem Rachefeldzug gegen die halbe Welt losgezogen, weil sie den Schmerz des Unrechts nicht ertragen hätte. Zumal sie vielleicht gerade erst Witwe geworden ist und ihren Mann durch einen Schicksalsschlag verloren hat, den sie nicht verstehen, nicht akzeptieren kann. Kein Mann mehr, keine soziale Sicherung mehr, kein Geld mehr. Und jetzt kommt die Geschichte mit dem Richter als Tropfen auf den heißen Stein und das Faß läuft über…
In der dramatischen Literatur gibt es viele Vergleichsfälle, die zeigen, dass im Gerichtsprozess die gesamte Weltordnung auf dem Spiel steht. Ich erinnere an Kleists „Michael Kohlhass“, dessen Rechtsempfinden so tief verletzt wird, dass er die Welt in Brand setzt. Ich erinnere ferner an den „Zerbrochnen Krug“ – ebenfalls von Kleist, wo Evchen „schreit“, um noch einmal die Geschichte von unserer Witwe zu zitieren. Hier wie in Shakespeares „Maß für Maß“ kann nur ein deus ex machina das Schlimmste verhindern. Die Weltordnung kann auch in Huisum zerbrechen.
Ein deus ex machina ist aber leider nur auf dem Theater möglich. Und selbst hier nur in Komödien. Im Leben ist er nicht vorgesehen. Aber in der Bibel! Gott rettet. Er rettet die in ihn vertrauende Witwe – nicht mit einem Trost fürs jenseits, sondern explizit im Hier und Jetzt. Und er verwandelt die größte Katastrophe, die Karfreitagstragödie in die Theodizee, in die Harmonie – jedenfalls für den, der die Osteridee aufrecht erhält. Sie feiert  den Sieg über den Tod. Sie geht davon aus, dass es nicht beim Kreuz bleibt, sondern dass die Auferstehung folgt – das ist die Hoffnung. Und die größte Unwahrscheinlichkeit im Christentum zugleich.

Was aber bedeutet die Geschichte von der Witwe für uns? Wer sind wir eigentlich in der Geschichte? Witwen oder Richter? Opfer oder Täter? Ich vermute, dass die meisten von uns hier heute Vormittag weder böse Täter noch arme Opfer sind, weder Richter noch Witwen, oder anders gesagt: in wechselnden Situationen mal das eine und mal das andere, also beides zugleich. Damit ist mehr und anderes gemeint als die aus dem Theater bekannten „gemischten Charaktere“. Es gibt im Leben ein Kippen von der Täter in die Opferrolle und umgekehrt, mal so, mal so, je nach Situation, Zusammenhang und Interessenlage. Im Theater nennt man das „Kippfiguren.“ Das sind wir. Wie soll man das verstehen?
Innerhalb unserer deutschen Wohlstandsgesellschaft fühlen sich die meisten von uns als kleine Nummern, eher Opfer, kleine Leute, Witwen. Und klagen in dieser Rolle über das Steuersystem, das andere bevorteilt, über entgangene berufliche Aufstiegsmöglichkeiten, über Mobbing ausgerechnet gegen uns, über politische Zumutungen, über den Schwund unserer Spareinlagen infolge der Finanzkrise (dass wir selber herumspekuliert haben, lassen wir gern unter den Tisch fallen) etc. Wenn die Kraft der Witwe uns Vorbild ist, die Kraft einer Frau mit „Gottvertrauen“, die protestiert und Einspruch erhebt, sollten wir uns fragen, ob wir selbst genug „schreien“ bzw. warum wir es nicht endlich tun. Und warum wir die Schreie anderer in unserer Gesellschaft nicht genügend unterstützen. Gleichzeitig sind wir aber, wenn vielleicht auch meist in bescheidenem Rahmen, auch Täter: als Vorgesetzte, als jemand, dem es besser geht als jemand anderem, der stärker ist etc. Geopolitisch schließlich sind wir als politische Mitglieder einer der reichsten Mächte des Erdballs a l l e  glasklar Täter, Schuldige, und zwar ziemlich genau im biblischen Sinne: „Da war ein Richter in einer Stadt, der hatte keine Ehrfurcht vor Gott und keinen Respekt vor den Menschen.“ Das sind zweifelsfrei wir. Wir, die wir in unfassbarem Ausmaß aufkosten anderer leben. Mit jedem Handykauf verlängern wir Ungerechtigkeit und Billiglöhne anderswo, mit den allermeisten Textileinkäufen laden wir Schuld auf uns, als Ausbeuter und Profiteure von Sweatshops und Kinderarbeit. In juristischen Begrifflichkeiten wäre hier von Vorsatz und von niedrigen Motiven, nicht aber von Fahrlässigkeit zu sprechen, - im Rechtswesen wesentliche Unterscheidungen, die beispielsweise die Differenz zwischen Tötung und Mord markieren. Wir wissen genau, was wir tun, auch politisch im übrigen: Unsere Regierungen setzen hohe Zölle an, um Rohstoffe statt Produkte zu importieren, damit der heimische Arbeitsmarkt gestützt und gesichert wird. Ob infolgedessen anderswo Arbeitslosigkeit und Armut grassieren, ist uns egal. Wir bekämpfen die so genannten somalischen „Piraten“. Man könnte sie genauso gut „Widerstandskämpfer“ nennen, denn es sind ihre Fischgründe, die wir vorher leer gefischt haben. Schließlich werden mit unseren Steuergeldern und unserem Einverständnis alljährlich an den Grenzen von Schengen, an der Grenze zwischen Afrika und Europa, Tausende in den Tod geschickt. Jeder kann diese Liste selbst verlängern. Wir haben - Zitat Bibel – „keinen Respekt vor den Menschen“. Nur eines ist sicher: irgendwann kommen die „Witwen“, also die Armen und Entrechteten, mit oder ohne „Gottvertrauen“ und jagen uns zum Teufel. Mit der biblischen Ohrfeige, die ja dort auch nur befürchtet wird, geht das dann nicht mehr ab. Unsere moralische Integrität steht also auf dem Spiel. Denn was tue ich denn? Das muß sich jeder fragen. Auch: Wo bin ich selbst Richter, wo Witwe? Wie können wir die Schuld, die wir auf uns laden, wenigstens teilweise in Gerechtigkeit verwandeln?

Von den politischen Konnotationen dieser Beinahe-Widerstandsgeschichte zurück zu ihrem religiösen und philosophischen Kern, zur Frage nach unserer Freiheit. Es geht um den „Schrei“, wie es in der Kirchentagsübersetzung heißt. Um den Schrei, zu dem Jesus die Witwe aufruft, um den Schrei, den er in seiner Todesstunde selbst ausstößt. Der Text suggeriert, Gott könne zu unserem Gunsten direkt eingreifen. Mit diesem Gedanken haben wir Mühe, deutlicher: wir glauben das nicht, aber wir wollen diesen Kinderglauben trotzdem unbedingt behalten. Zugleich aber sind wir in die Idee verliebt, wir seien frei. Dass beide Menschheitsträume einander ausschließen, liegt auf der Hand. Denn wenn Gott eingreifen könnte und dies auch täte, bräuchten wir unsere Freiheit nicht und wären das paradiesisch instinktgeleitete Wesen der Vorzeit. Außerdem: Wenn Gott eingreifen kann, es aber nicht tut, wäre er ein schlimmer Gott, denn warum tut er es nicht und verhindert all die Menschheitskatastrophen? Und wenn er nichts tut bzw. tun kann, dann brauche ich ihn nicht, weil er mir nicht hilft. Dann bin ich entlassen in die Freiheit, die ihrerseits nicht existiert, weil ich das Allermeiste gar nicht beeinflussen kann.  Die Gerechtigkeitsfrage führt also direkt in die Theodizee.
Wenn aber unsere Haupterfahrung die des Unrechts ist, wie soll man dann Gottvertrauen aufbringen können? Ehrlich gesagt: ich weiß es nicht. Die Kirchen vollziehen alle möglichen Verrenkungen um dieses Grundparadox in eine „Freiheit in Gott“ aufzulösen. Wahrscheinlich ist dieser theologische Trick Spiegel des privatpsychologischen Herumgemurkels jedes  Einzelnen, der die Gottes- und die Freiheitsfrage ebenfalls mit der Gerechtigkeitsfrage übereins bekommen möchte – koste es, was es wolle, Hauptsache, ich darf mir diese Kindlichkeit erhalten. Persönlicher und einfacher gesagt: Ich habe das Glück, einigermaßen mit dem Urvertrauen ausgestattet zu sein, dass alles gut werden könnte. Ob das mit Religion zu tun hat oder mehr mit einer psychischen Disposition, mit Gott- oder Urvertrauen, will ich gar nicht so genau wissen. Es lebe die Unschärfe.
Die Geschichte von der Witwe erzählt, dass Gott denen, die glauben, Recht verschafft im Hier und Jetzt. Für den, dem gegeben ist, dies zu glauben, kann das sehr wohl so sein. Denn der imaginäre Beistand Gottes wird für die Witwe vielleicht zu einem tatsächlichen.Hören wir uns die Geschichte kurz vor Ende dieser Bibelstunde noch ein zweites Mal an: (LESUNG DES BIBELTEXT)

Die Geschichte formuliert die Erwartung eines Mindestmaß an irdischer Gerechtigkeit – das ist eine Erwartung an Gesellschaft und Politik, eine Erwartung natürlich vor allem an die Rechtsprechung. Darüberhinaus richtet sie sich natürlich völlig systemunabhängig an den Mitmenschen. Vor allem aber an uns selbst.  Denn wir sind gewohnt, reflexartig und selbstbezogen Gerechtigkeit vor allem für uns selbst zu fordern, anstatt im „Respekt vor den Menschen“ in ihrer Vielfalt, uns selbst also relativierend. 
All das sind allgemeine Forderungen und Notwendigkeiten, sie haben mit Religion noch nichts zu tun, jeder Politiker und jeder Gesellschaftswissenschaftler würde das auch unterschreiben. Für die Religion sind das allenfalls notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen.

Wir müssen noch einen Schritt weiter gehen. Religion ist ja nicht nur angewandte Gesellschaftswissenschaft. Religion kommt in säkularen wie postsäkularen Gesellschaften erst durch andere Dinge ins Spiel: durch die Entschiedenheit eines Gefühls, das nicht mit sich selbst allein ist und sich nicht nur aus der Gesellschaft speist. Durch einen Enthusiasmus, der seine Quelle woanders hat oder wenigstens sucht. Auch durch den „Schrei“. Ihn fand ich am faszinierendsten an der Geschichte – auch wenn er möglicherweise vor allem einer akrobatischen Kirchentagsübersetzerleistung zu verdanken ist. Es ist übrigens schon der Schrei Dostojewskis in seinen „Brüdern Karamasow“. Wenn „Schrei“ gleich Beten und Beten gleich „Schrei“ ist, dann betet Dostojewski 800 Seiten lang. Die Frage nach der Sinnhaftigkeit des menschlichen Leids wird hier nicht geklärt, sondern sogar zugespitzt auf das unfassbare Leid unschuldiger Kinder. Ob man es „Schrei“ oder „Beten“ nennt, beides ist unabdingbar für Religion.
Aber zur Religion gehören neben einer existentiellen Unbedingtheit auch noch andere Dinge wie Ritus, Geruch, Musik, Licht. Hierin sind sich der Katholik und der Theatermensch in mir einig. Gehen wir noch einen weiteren Schritt: Tatsächlich braucht es auch „Ehrfurcht vor Gott“, wie es ebenfalls in der Geschichte heißt. Eine schwierige Voraussetzung in der Moderne. Im Urindogermanischen bedeutet Gott sprachethymologisch übrigens „Himmel“, die Personifizierung als Vater erfolgte erst später. Himmel steht da, nicht Papa! Anderswo ist dann allgemein von „einem anzurufenden Wesen“ die Rede. Wir müssen durch diese Schichten durch, zurück und uns von Dogmatik ebenso lösen wie von der reinen Entmythologisierung in Richtung pastoraler Gesellschaftswissenschaft. Christoph Schlingensief, mit dem mich eine gemeinsame katholische Messdienervergangenheit verband, hat gesagt: „Kunst wird erst dann interessant, wenn wir vor irgendetwas stehen, das wir nicht restlos erklären können.“
Das ist in der Tat ein Punkt, der Kunst und Religion verbindet. Beides sind Versuche, die Welt zu begreifen, ohne sie restlos zu verstehen. Wir müssen sie nicht restlos verstehen, ja, wir haben sogar mehr von ihr, wenn wir ihr ein Geheimnis lassen. Es geht um den Kosmos, in dem wir leben. Und um unsere Achtung und unseren Respekt davor.
Wir am Thalia Theater versuchen auf unsere Weise zu begreifen, was die Religionen leisten, geleistet haben und vielleicht immer noch leisten können und veranstalten alljährlich eine „Lange Nacht der Weltreligionen“. Da ereignet sich eigentlich nichts, als dass wir die Texte der Weltreligionen zueinander ins Verhältnis setzen und als Literatur ernst nehmen, als philosophische und religiöse Gerüste, als Jahrtausende alte Versuche der Menschen, sich selbst ihren Charakter, ihre Umwelt, ihre Zivilisation zu erklären, vorstaatliche Regeln zu erfinden, soziale und psychologische Überlebenstechniken zu entwickeln etc. In diesen frühen Zivilisationstechnologien sind die Völker gar nicht so unähnlich. Natürlich, die Gewichtungen sind verschieden: Hier wird mehr das Kontemplative betont, dort mehr das Aktive, hier ist das Soziale wichtiger und dort mehr die Versenkung des Ichs, hier ist die Autonomie des Menschen stärker, dort seine Geworfenheit etc. Aber das sind nur Unterschiede in Gewichtungen, sie berühren nicht das Zentrum. Ähnlich ist es bei den religiösen Kernthemen: Auch da stellt sich heraus, dass die Vorstellungen von den entscheidenden Dingen in den Völkern ähnlich sind, umso ähnlicher, je tiefer und weiter man zurückgeht. Nirgends kann sich der Mensch damit abfinden, dass nach dem Tod alles zu Ende sein soll. Nirgends verzichtet er auf den Gedanken, dass es eine Instanz geben müsste, die außerhalb seiner selbst ist, nirgends verzichtet er darauf, moralische Codici zu entwickeln, die ihre Kraft aus der Verankerung in der Transzendenz beziehen. Und überall versucht er auch, dem Menschen den Schrecken zu nehmen, den die Überforderung, mit den Zumutungen des Lebens klarzukommen, erstmal bedeutet.
Natürlich kann man die jeweiligen Erscheinungsformen belächeln, wie zum Beispiel die Ewigkeitsvorstellungen der Völker. Auch der Phantasieaufwand, der überall auf dem Globus betrieben wird, um der Befürchtung der eigenen Vergänglichkeit einen utopischen Raum entgegenzusetzen, lässt einen schmunzeln. Die Indianer gehen „in die ewigen Jagdgründe“, die Pharaonen haben sich einbalsamieren lassen, um nicht zu vergehen, andere haben ihre Ritterrüstungen für das Leben im Jenseits mitgenommen, der erste chinesische Kaiser hat eine ganze aus Ton nachgebildete Terrakotta-Armee mitgenommen. Und wir glauben traditionell, im Himmel säßen in einer patriarchal-aristokratischen Ordnung die Engel und Heerscharen zur Rechten des gütigen Gottes, begleitet von denen, denen das ewige Leben gewährt wurde, während andere in der Hölle schmoren oder im Fegefeuer auf Bewährung hocken. Die Hinduisten der Upanishaden glauben dagegen an viele, viele Stufen der Wiedergeburt, die sogenannte Reinkarnation, und Dichter wie Dante haben eigene Varianten darauf notiert und nennen sie dann „Göttliche Komödie“. Ja, sind wir noch zu retten, hier kulturelle Dogmatik, hier Bilderhoheit walten zu lassen?
Der für mich faszinierendsten Vorstellung von einem Leben hier und einem Leben dort bin ich vor vielen Jahren durch das Buch einer bulgarischen Ethnologin begegnet. Sie hat in einem Grenzgebiet, wo sich türkisch-islamische und griechisch-orthodoxe Vorstellungen synkretistisch mischen, mit über Hundertjährigen gesprochen. Sie lebten in den bulgarischen Rhodopen, einem Gebirgszug. Und sie lebten in einem In-between – nicht hier, nicht dort, sondern, wie es in einer dieser Geschichten heißt: „im Nebel“. Sie waren zum Beispiel seit 30 Jahren blind oder taub, und bekamen Besuch von ihren Enkeln, die von neuesten Errungenschaften wie Kühlschränken oder Autos berichteten - Errungenschaften, die für die Uralten keinerlei Rolle spielten. Gleichzeitig sprachen die Hundertjährigen nachts mit ihren Ahnen, die sie am sternenübersäten Himmel wähnten und dort mit diesen zu einer Einheit verschmolzen. Die Hundertjährigen waren vom Leben wie vom Tod gleichweit entfernt. Aber die Erinnerung der Hundertjährigen an ihre Ahnen machte diese unsterblich. Und sie schnupperten – selbst im Transit vom Leben zum Tod -  an einer Ewigkeit, von der sie nicht wussten, ob es sie später im Tod auch noch geben würde. Aber es gab sie jetzt. Vielleicht ist das die ganze Wahrheit.

Wir können und wir wollen uns nicht mit dem Tod abfinden. Wir wollen und wir brauchen ein Reservoir an Utopie. Warum? Weil wir als einzige Lebewesen auf der Erde wissen, dass wir sterblich sind, sind wir auch die, die sich damit nicht abfinden können. Warum soll nicht auch tatsächlich die Metamorphose von Fleisch in Staub begleitet sein von einer zweiten Metamorphose, die den Anteil des Geistes nicht vernichtet, sondern transformiert? Die Idee davon hilft uns zu leben, wenn wir Ungerechtigkeit erleiden und beispielsweise zum xten Mal zum Richter gehen müssen. Sie hilft uns, die Hoffnung nicht beerdigen zu müssen.

Die Natur darf jedes Jahr wiederauferstehen. Warum nicht auch wir?
Manchmal umweht uns die Erfahrung vermeintlicher Zeitlosigkeit sogar im Hier und Jetzt, in der Liebe zum Beispiel, oder auch in der Kunst, im gelungenen Augenblick, in der Begegnung, in der Natur. Ein Vorschein dessen, was wir erhoffen, auch wenn es sich vielleicht nie ereignet.
Jesus Schrei am Kreuz war Protest gegen die Ungerechtigkeit. Und er war vergeblich. Allerdings nicht folgenlos. Nach christlichem Glauben folgt Ostern. Über Ungerechtigkeit, Leiden und Tod hinwegzukommen ist trotz aller Kosmologie oder pantheistischen Anwandlungen schwer. Georg Büchner hat, kaum über 20 Jahre alt, seinen Grundzweifel in „Dantons Tod“ auf den Punkt gebracht: „Man kann das Böse leugnen, aber nicht den Schmerz. Warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus.“
Die vom Schmerz der Ungerechtigkeit befreite Witwe in der Bibel kann sich glückselig bei Tanz, Gesang und Wein um sich selbst drehen. Sie ist noch einmal davongekommen. Und die Bibel an dieser Stelle eine Komödie. Dank ihres selbstbewussten Schreis. Möglich war er – laut Bibel – durch ein das Ich stärkendes Vertrauen in Gott.

Ich bin ein Mensch des Theaters. Und habe tagtäglich mit Geschichten zu tun, mit der Frage, wie man sie erzählt, und was dahinter stecken könnte, an Schicksal, an Bedeutung. So habe ich mich heute vormittag von der kleinen Geschichte dieser Witwe weit treiben lassen, in der Hoffnung, Sie ein wenig ins Ungefähre der Zwischenbedeutungen verführt zu haben.

Dabei ist im übrigen ein Fehler passiert: Ich habe mich mehr mit der Witwe identifiziert, obwohl ich, wie das Auditorium, vermutlich eigentlich auf der Seite des Täters, des Richters, des Unsympathen zu suchen bin. Aber vielleicht hat ja der Evangelist Lukas gar nicht recht? Vielleicht ist der Richter ja gar kein Menschen und Gott verachtender Zyniker, sondern ein ehrenwerter Mann? Ein Römer, der sich mit dieser Frau wirklich die allergrößte Mühe gegeben hat. Vielleicht ist die Frau gar keine kleinasiatische Jeanne d’Arc, keine Widerstandskämpferin, sondern tatsächlich eine Wadenbeißerin, eine Bißgurn, eine Querulantin?
Wahrscheinlich ist das nicht, möglich aber schon. Aber das wäre eine andere Geschichte, auch interessant, aber nicht so erfolgreich auf dem Theater. Und in der Bibel auch nicht.
Deshalb hat wahrscheinlich die Geschichte vom bösen Richter Bestand – eine mit Tricksereien gerade noch vermiedene theologische Katastrophe. Denn der Richter bzw. der Vater als Institution ist in den überlieferten Geschichten von der Bibel bis zu Kleist oder Dostojewski immer für die irdische Gerechtigkeit zuständig. Wenn er als Vertreter des ewigen Richters, als Vertreter von Gottvater versagt – oder wie hier sozusagen nur noch aus Versehen das Richtige tut, zerbricht im Kleinen, im Hier und Jetzt der große theologische Kosmos. Und das ist die wahre Katastrophe. Sie ereignet sich tagtäglich….

 Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.