Ein Blick von a
ußen. Eröffnungsr
ede von Liao Yiwu

Sturmruhe

 

Sonntag 11 Uhr ist nicht die Zeit, zu der ich normalerweise überhaupt ansprechbar bin. Aber jetzt sitze ich hier, auf meinem Schoß Kopfhörer und Sender, und nehme zur Kenntnis, dass der Saal außerordentlich gut gefüllt ist. Dass die festlich-vorfreudige Spannung da ist, genau, wie wenn ich abends ins Theater gehe. Der gleiche Geräuschpegel, zusammengesetzt aus hunderten von murmelnd gehaltenen Gesprächen. Ich vergesse darüber ganz, dass ich eigentlich gern einen Kaffee hätte.
Liao Yiwu betritt die Bühne. Zuvor hat der Intendant Joachim Lux ein paar Worte zu den Lessingtagen, den Förderern und natürlich dem Dichter selbst gesagt hat. Liao Yiwu beginnt seine Rede. Es gibt Schwierigkeiten mit der Technik und der Simultanübersetzung über Kopfhörer. Die Rede wird abgebrochen. Alle lachen. Neuer Versuch. Jetzt kann die Schauspielerin Marina Galic, die die deutsche Übersetzung sprechen wird, den Dichter nicht hören. Das Publikum aber die Kommentare von Galic. Wieder lachen alle. Liao Yiwu steht die ganze Zeit über etwas verloren wirkend auf der Bühne, mit diesem schlichten Baumwollkittel, mit seiner ruhigen Art.
Dann scheint alles wieder zu funktionieren. In seiner Rede „Auf die Weltbühne geschneit“ schildert Liao Yiwu Eindrücke von seinen Reisen, von seiner Flucht aus der Heimat, spricht die Missstände in China an und inwiefern der Westen eine Mitverantwortung tragen muss und darüber, wo er sein Zuhause findet:
In einem Glas Schnaps.
Es fällt zugegebenermaßen nicht immer leicht, den Worten der Übersetzerin und somit dem Gesamtzusammenhang zu folgen. Sie spricht mit hoher Geschwindigkeit, um mit dem deutlich weniger Raum einnehmenden Chinesisch Schritt halten zu können. Für mich entsteht dadurch aber auch eine seltsam soghafte Wirkung, ein Strudel aus aneinander gereihten Geschichten, die mich von Los Angeles nach Mexiko nach Paris tragen, eine große poetische Kraft, die irgendetwas Undefinierbares in mir auslöst. Es ist eine wütende Rede, und eine Wut, die sich aus Ruhe speist.
„In meinem Herzen kehrt niemals Friede ein.“ So wird Liao Yiwu sie beenden.
Später, nach dem musikalischen Teil des Morgens, nach zwei Sekt und drei Häppchen, als ich den Senatsempfang im Mittelrang gerade verlassen habe, entdecke ich Liao Yiwu ein Stockwerk tiefer. Er sitzt da, für den Moment allein, abseits des Trubels.
Ich wüsste gern, wo er jetzt ist.

Rebecca Martin