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„Alles ist so niedrig, schmutzig und gemein“ – Platonow im Thalia Theater als Lehrstück über pathologischen männlichen Narzissmus

Von Prof. Dr. med. Michael Schulte-Markwort

Die Schmetterlinge an der Wand zeugen von einer besseren Zeit, einer Zeit, in der das Gut der Generalin noch schuldenfrei der großzügige Mittelpunkt der ländlichen russischen Gesellschaft sein konnte. Jetzt ist es nur noch eine fahrbare Datscha, ein russisches Gegenstück zu den heruntergekommenen amerikanischen Wohnwagenparks, die so tun, als könnten sie jederzeit wieder an den Glanz vergangener mobiler Tage anknüpfen.
Der lange, dunkle Winter ist vorüber und man trifft sich wie früher, um zu reden und zu feiern, der eigenen Sehnsucht nachzuspüren und an frühere Beziehungen anzuknüpfen.
Platonow ist ein Frauen- und Männerheld. Die Gesellschaft erwartet ihn, mag ihn, fragt ihn nach seiner Meinung, streitet mit ihm. Schnell dreht sich Vieles um ihn. Es könnte ein Abend wie früher werden, wenn nicht alles verschuldet wäre und wenn Platonow nicht schon längst gescheitert wäre: er hat sein Studium abgebrochen, lebt mit seiner Frau Sascha und seinem kleinen Sohn Nikolka als Lehrer unzufrieden vor sich hin. Mehr noch: er ist abgekapselt, isoliert und dies nicht nur in einem sozialen Sinn eines Mannes, der mit seiner Frau aus dem russischen Winterschlaf auftaucht, sondern in einem psychischen, autistoid anmutenden Sinn. „Andere Menschen: was ist das?“, lässt uns Platonow gleich zu Beginn wissen und leitet damit die nachfolgenden Beziehungsdramen des Stückes ein. Das Kennzeichen dieser Beziehungen ist der vollständige und gleichzeitig hilflose Selbstbezug eines durch und durch narzisstischen Mannes. Geht jemand auf ihn zu, interessiert sich eine Frau für ihn, so ist er abweisend, verletzend und überheblich. Zieht sie sich zurück, kann sie sich wie z. B. Sofja vermeintlich gar nicht mehr an eine frühere Beziehungsepisode mit Platonow erinnern, so beginnt er zu locken, zu gurren und zu befehlen, bis die Frauen wieder so an ihn gebunden sind, dass sie ihrerseits bereit sind, alles für ihn aufzugeben. Ein tödlicher Kreislauf beginnt.
Platonow ist ein Mann, der nicht nur „ohne Mutter und Vater“ aufgewachsen ist, sondern einer, der mit einem so abgrundtiefen Hass auf seinen Vater ausgestattet ist, dass er diesem noch im Jenseits gebrochene Knochen wünscht – ein vaterloser Sohn, der sich Zeit seines Lebens damit abmüht, Beziehungen zu finden und zu halten, die nicht nur von Leblosigkeit und Verachtung gekennzeichnet sind. Er ist ein emotionaler Analphabet, einer, der nicht weiß, wie man eine Beziehung lebt, ihr Halt und Verlässlichkeit gibt. „Ich zerdenke mein Gehirn“ – damit versucht Platonow die emotionalen Lücken zwischen sich und den Menschen, den Frauen, zu füllen. Längst reicht der sexuelle Erfolg nicht mehr aus, „ich verliere meinen Umriss“, lässt er uns wissen, um im nächsten Moment in der nächsten Verführungssituation dem Mechanismus von Anlocken und Entwerten, von Verführen und Zurückstoßen erneut zu erliegen. Immer tiefer gerät Platonow in diesen Strudel, in dem er am Ende mit allen Frauen gleichzeitig verabredet ist in eine neue, gemeinsame Zukunft, die es nie geben wird, nie geben kann. Der vergebliche Versuch, durch narzisstische Werte emotional gefüllte Beziehungen zu ersetzen, scheitert, muss scheitern und kann am Ende nur tödlich enden, weil die Kehrseite dieses Narzissmus abgrundtiefer Hass auf alles Lebende ist. Am Ende überlebt nur der Bauer und Kaufmann Bugrow, dem aufgrund seiner Schläue und seiner Abgegrenztheit von der bourgoisen Gier nach Glanz und Leben am Ende alles gehört.
Platonow kann nicht lieben und er kann nicht nein sagen, er versucht, die innere Leere durch immer neue Versprechungen aufzufüllen und zerstört dabei alles, was er hatte – am Ende sich selbst und ohne jede Verantwortungsübernahme für seine Frau und seinen Sohn.
Narzissmus ist ein grundlegender und notwendiger Bestandteil unseres Seelenlebens – ohne ausreichende, gesunde Eigenliebe wären wir nicht lebensfähig. Bei Platonow hat sich als innere Gegenbewegung zum Selbsthass, vermittelt durch fehlende bzw. zerstörerische Mutter und Vater eine völlig übersteigerte Selbstbezogenheit und Selbstüberzeugtheit herausgebildet. Solange Platonow sich der Liebe und Bewunderung anderer Menschen, Frauen, sicher sein kann, so lange muss er nicht die Einsamkeit und Leere spüren, die er aus seiner Kindheit mitgebracht hat.
Jens Harzer spielt den Platonow mit allen Facetten, die es braucht, um uns den pathologischen Narzissmus vor Augen zu führen: er ist herrisch, genervt, bestimmend, lockend und verführend – und gerät zunehmend unter Selbstzweifel, zerbricht, „zerdenkt“ sich und muss immer wieder fragen: „Was ist das?“ (niemand kann diese Frage so aussprechen und betonen wie Jens Harzer). Der Versuch, alle Zweifel und Brüche im Alkohol zu ertränken, verstärken die nicht zu verbindende Dichotomie des „außergewöhnlichen Menschen“ oder des „Nichts“, wie die Grekowa, das junge Mädchen, das vergeblich versucht, sich gegen Platonow zu wehr zu setzen, einmal treffend zusammenfasst.
Und die Frauen? Warum liefert Tschechow die Frauen seinem Platonow immer wieder aus? Warum funktioniert dieses Spiel – und wir haben nicht den Eindruck, es sei falsch? Der pathologische männliche Narzissmus funktioniert nur mit einem Pendant. Nur, wenn Frauen psychisch darauf angewiesen sind, dass ein großartiger Verführer Erlösung von der enttäuschenden Realität verspricht, finden sich immer wieder ausreichende Verstärkungen für die Zerstörungskraft des Platonow. Sogar dann, wenn in der Figur der Grekowa eigentlich ein Widerstand angelegt ist, dieser aber am Ende durch eine kleine Verführung des Narziss, die in diesem Fall sogar eine Anerkennung Platonows für die Gegenwehr der Frau enthält, in sich zusammenfällt – wie immer zugunsten der unrealistischen Hoffnung auf Befreiung und Beziehung.
In seiner sozialpsychologischen Untersuchung „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ (1963) hat Alexander Mitscherlich auf die fatalen Folgen der Vaterlosigkeit der Nachkriegsgeneration hingewiesen. Er bezog sich dabei auf die dramatischen Konsequenzen für eine Generation, deren Väter Soldaten gewesen waren und im Rahmen dieser Schuld nicht mehr für fürsorglich-väterliche Strukturen stehen konnten. Darüber hinaus macht Mitscherlich die arbeitsteilige Produktion der Nachkriegsindustrie mit ihrer Anonymität verantwortlich für Strukturen, die nur noch vaterlos waren. „Die Vater- und Mutterlosigkeit der Kindheit aber, welche die nämlichen gesellschaftlichen Prozesse verfügen, kann nichts heilen.“ ... „Das vaterlose (und zunehmend auch mutterlose) Kind wächst zum herrenlosen Erwachsenen auf...“ (Mitscherlich, 1983, S.331)
Anton Tschechow hat das Theaterstück Platonow auch “Die Vaterlosen“ genannt. Geschrieben hatte er es für die von ihm verehrte Schauspielerin Marija Jermalowa, die am Maly-Theater in Moskau gerade ihre grandiose Karriere begann. Das Maly-Theater hat das durch den Bruder von Tschechow vorgelegte Theaterstück abgelehnt. Wir wissen nicht, welche Parallelen es gibt zwischen dem jungen Schriftsteller Tschechow, seiner Liebe zu Marija Jermalowa – und Platonow. Auf jeden Fall muss Tschechow ein Mann gewesen sein, der sich auskannte mit den männlichen Zuständen der Leere und das tiefen Zweifels und des Versuchs, dies durch grandiose Phantasien auf Erfüllung in der Beziehung zu kompensieren.
Die Bühne von Stephane Laimé folgt der zunehmenden Entstrukturierung des Protagonisten Platonow durch eine parallele Aufhebung der Struktur. Ist es zu Beginn noch das „Gut“, die spießige Datscha mit dem Glanz vergangener Tage und schon komprimiert auf wenige Quadratmeter, so wird es der Vorplatz vor dem gewendeten und nun keine Einsicht mehr gewährenden Wohnwagen: schwarz-grauer Schotter, der vergeblich durch warme Stehlampen umrankt wird und schließlich nur noch der innen ramponierte Wagen, der zum Haus des Platonow geworden ist und nun auf seine völlige Zerstörung wartet, um am Ende nur noch der schlecht und falsch beleuchtete Schotterplatz zu sein, auf dem Platonow sterben muss.
(Eine ausgesprochen witzige Episode mit dem Bühnenbild ereignet sich gleich zu Beginn der Vorstellung am 04.01.13: Der zum Zuschauerraum offene Wagen wird an der offenen Seite durch zwei Stahlstützen stabilisiert. Als Victoria Trauttmansdorff mit Christoph Bantzer den Wagen betritt und dies feststellt, sorgt sie mit unnachahmlicher Professionalität und Witz dafür, dass schließlich zwei Bühnenarbeiter – mit viel Mühe – die Stützen entfernen, um das Spiel zu ermöglichen.)
Ein grandios aufspielendes Ensemble zisiliert das Psychogramm des Platonow so, dass man (n) aufgewühlt und ein wenig beschämt nach Hause geht. Die 4 Stunden Spiellänge, die von mancher Kritik als unnötige Länge gerade nach der Pause gerügt wurde, hat dann keine störende Bedeutung, wenn man sich einlässt – auch auf die quälende Dauer der zerstörerischen Prozesse, die sich entwickeln müssen, weil sie sonst nicht
prozesshaft, sondern lediglich unterhaltend gewesen wären. Und ein Lehrstück – in einem subtilen psychologischen Sinn – kann nicht unterhaltend sein.


Literatur
Mitscherlich A (1983) Gesammelte Schriften, Band III, Sozialpsychologie I, Suhrkamp, Frankfurt

Prof. Dr. med. Michael Schulte-Markwort
Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf 

Er ist zudem seit 2008 Thalia Freund. Sein Impulsreferat "Warum das Theater der Seele gut tut – Hat diese Insel der Phantasie in unserer Gesellschaft Platz?" eröffnete die Mitgliederversammlung der Thalia Freunde 2012.


Prof. Dr. med. Michael Schulte-Markwort