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Scherbengericht. Bastian Krafts Inszenierung von Der zerbrochne Krug. Von Prof. Dr. Marion Albers,  Dr. Jörn Reinhardt und Anna Schimke

Kleists Rechtskomödie Der zerbrochne Krug ist ein Stück Gerichtstheater und ein Stück über den Gerichtsprozess als eine Form des Theaters. In diesem Prozess wird sehr viel Theater gespielt, insbesondere von Dorfrichter Adam. Von Beginn an fällt er aus der Rolle und muss ohne seine Perücke, dem charakteristischen Requisit des Richters, auskommen. Dies beeinträchtigt die Autorität des Gerichts sichtbar – und macht zugleich deutlich, in welchem Maß diese auf inszenierte Äußerlichkeit angewiesen ist. Üblicherweise führt Der zerbrochne Krug die „Kammerspieldimension“ (Cornelia Vismann) des gerichtlichen Prozesses vor: die Einheit von Raum, Zeit und Handlung, die Theater wie Gerichtsverhandlung ausmacht. Die Hamburger Inszenierung von Bastian Kraft zeichnet sich dadurch aus, dass sie diese theatralische Dimension des Gerichthaltens unterläuft und auch in anderen Hinsichten das klassische Stück neu präsentiert.

Die Inszenierung beginnt, anders als das Stück, damit, dass Eve in einem den Zuschauern und Zuschauerinnen zugewandten Monolog die Ereignisse erzählt, die zum Zerbrechen des Kruges führten. Diese Einführung wirkt wie eine objektive Schilderung des tatsächlichen Geschehens – und doch ist am Ende klar, dass es sich auch hierbei um die individuelle Beschreibung einer Beteiligten aus ihrer Perspektive handelt. Gegen diesen Monolog grenzt sich der anschließende Dialog über Adams Verletzungen ab, der zwischen Adam und dem Gerichtsschreiber Licht stattfindet. Adam gelangt zu immer neuen Darstellungen und Erklärungen, deren Wahrheit er nicht nur seinem Gegenüber, sondern auch sich selbst zu versichern versucht. Die Selbstinszenierungskomponenten werden veranschaulicht, indem Adam nicht den Schreiber Licht an-, sondern in eine Kamera schaut und Videoprojektionen ihn beim Erzählen zeigen – eine Veranschaulichung, die das Stück für Assoziationen zu den allgemeinen Veränderungen gesellschaftlicher Kommunikationen auf Grund neuer sozialer Medien öffnet. Die schon damit vermittelten Eindrücke werden nachfolgend noch gesteigert, indem an die Stelle eines geordneten Gerichts- und Bühnenraums käfigartige, über- und nebeneinander angeordnete und miteinander verbundene Parzellen treten, in die die Protagonisten zu Prozessbeginn verbannt werden. Die räumliche Anordnung des Bühnengeschehens symbolisiert die Störung der Ordnung, in welche die Tat des Dorfrichters Adam das Recht, vor allem aber den Glauben an die Institutionen des Rechts, gestürzt hat. Indem Adam zwei zentrale Rollen des Gerichtsschauspiels – den Beschuldigten und den Richter – zugleich inne hat, sind die Verfahrenskoordinaten gestört. Der Prozess verläuft auf wackeligem Grund. Die räumliche Anordnung lässt sich zugleich als eine Metapher dafür lesen, dass jeder Prozess durch eine unauflösbare Perspektivität der Positionen gekennzeichnet ist. Den Parteien fehlt es bereits hinsichtlich elementarer Geschehens- und Handlungsabläufe an einer gemeinsamen Wahrnehmung. Konsequenterweise können sie nicht auf einer allseits geteilten Grundlage zielführend miteinander kommunizieren. Da ihre Räume miteinander verbunden sind, können sie sich – durch mehr oder weniger unkonventionelle Manöver – allenfalls irritieren. Besonders Adam hangelt sich an dem Geländer mal zu dieser, mal zu jener Seite vor, um die Dinge in seinem Sinn zu beeinflussen. In dieser Gemengelage von widerstreitenden Interessen und Rücksichtnahmen scheint die Sache, die verhandelt wird, unweigerlich in den Hintergrund treten zu müssen. Ganz so ist es aber denn doch nicht.

Es ist der – in der Inszenierung bewusst als weibliche Rolle angelegten und besetzten – Gerichtsrätin Walter vorbehalten, Adam immer wieder zur Ordnung zu rufen. Die von Sabine Orléans gespielte gestrenge Revisorin aus Utrecht soll das juristische Alltagsgeschäft in der niederländischen Provinz überwachen und kommt für Richter Adam zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt ins Spiel. Sie verkörpert ein Rechtsverständnis, das Adam fremd ist. Tradiertes Gewohnheitsrecht und positiv geschriebenes Recht, „eigentümliche“ sowie „durch bewährte Tradition“ überlieferte Statuten von Huisum und geschriebene Gesetze, die hier „wie anderswo in den vereinten Staaten“ gelten, stehen sich gegenüber. Adam reagiert auf die Anforderungen mit der Versicherung, er sei mit beiden Arten des Rechtsprechens – der überkommenen ebenso wie der neuen – vertraut. Damit erweist er sich als eine Richterpersönlichkeit, die alles dem eigenen Beurteilungsvermögen unterordnet, und zum Entsetzen Walters nicht einmal in der Lage ist, die grundlegenden Unterschiede im Rechts- und Rechtsprechungsverständnis zu erkennen.

Adam:
„Ich kann Recht so jetzt, jetzo so erteilen.“
Walter:
„Ihr gebt mir schlechte Meinungen, Herr Richter.“

Vor dem Hintergrund des Übergangs vom überkommenen zu einem neuen Rechtssystem ist das Stück eines über die Wahrheitsfindung; ein Thema, das Kleist tief beunruhigt hat. Die Wahrheit der Gerichtsprozesse ist eine, die durch forensische Regeln bestimmt ist und nicht unabhängig von ihnen erläutert werden kann. Keiner muss dies so erfahren wie Richter Adam, der trotz Einsatzes aller ihm zur Verfügung stehenden Mittel nicht verhindern kann, dass sich das Verfahren allmählich aber sicher gegen ihn selbst wendet. Die Regeln und Grenzen, auf deren Einhaltung die Gerichtsrätin Walter besteht, dürfen nicht nur als Beschränkungen verstanden werden. Dass die jeweiligen Rollen und Positionen eingehalten und nicht ständig überschritten werden, ist Ausdruck einer eigenen Verfahrensrationalität des Gerichtsprozesses. Dass diese im Verlauf des Stückes die Oberhand gegenüber der von Adam erzeugten Unordnung zurückgewinnt, wird durch verschiedene Elemente angezeigt: die Perspektiven reduzieren sich, indem Kameras und Mikrofone an Bedeutung verlieren; die Käfige werden aus den schwankenden Höhen auf den sicheren Bühnenboden zurückgeholt. Sogar die Rolle des Richters und des Beschuldigten werden ein Stück weit getrennt: Adam bleibt, nicht zuletzt weil Gerichtsrätin Walter unbeirrt an die Autorität der rechtlichen Institutionen appelliert, vordergründig Richter. Der Täter Adam rückt allerdings ein Stück weit aus der Richterfigur heraus und kann mit Hilfe von schwarz-weiß gehaltenen Videoeinspielungen als Subjekt, über das geurteilt wird, sichtbar gemacht werden. Es ist eine besondere Pointe dieser Gerichtskomödie, dass sich das Verfahren in dieser Weise gegen Adam selbst wendet. Insoweit besteht eine Parallele zu Sophokles´ Richter-König Ödipus, die Kleist in einer Vorbemerkung zum Stück herstellt. Ödipus wie Adam sitzen einem Verfahren vor, das sie nicht beherrschen und das sie auf ihre eigene Tat zurückführt. Zugleich wird im Zerbrochnen Krug aber immer auch deutlich, dass die Rationalität eines modernen Gerichtsverfahrens ihrerseits Voraussetzungen und Grenzen hat. Paradigmatisch zeigt dies die Kernszene, in der Frau Marthe den Krug mit seinen Abbildungen und seiner Geschichte beschreibt und trotz Walters Mahnungen, auf den Punkt zu kommen, gar nicht versteht, was in dem von ihr angestrengten Gerichtsverfahren relevant und was irrelevant ist. Das Alltagsverständnis wird in spezifische Formen gezwängt; das Gerichtsverfahren erzeugt seine eigene Beschreibung der Wirklichkeit.

Daher ist mit dem Zerbrechen des Kruges auch das Zerbrechen eines Weltbildes verbunden, das eine im Prinzip heile Ordnung zu Grunde legt. Dieses Weltbild kann nicht wiederhergestellt werden. Das lässt die Hamburger Inszenierung die Gerichtsrätin Walter als diejenige Person erfahren, deren Bestreben der Integrität des Ganzen, dem Vertrauen in die juristischen Formen und dem Glauben an die Objektivität und Unparteilichkeit des Gerichts gilt. Ihre Versicherung, das Schreiben, dessen Inhalt, Eves Verlobter Ruprecht werde zum Militärdienst nach Ostindien geschickt, alles in Gang gesetzt hat, sei eine arglistige Fälschung des Richters Adam, wird von Eve nicht mehr vorbehaltlos geglaubt. Walters „Glaubst Du mir?“ wird von Eve im Sinne eines zögerlichen, hin und her schwankenden „Ich glaube es, Ich glaube es nicht“ beantwortet. Dieser kurze Dialog zwischen Walter und Eve wird in der Inszenierung in einer Dauerschleife bis zum Ende wiederholt. Alle Beteiligten des Prozesses stimmen nach und nach darin ein. So schwillt das Ganze zu einer Art antikem Chorgesang an und der Zweifel verstetigt sich. Richter Adam ist es in der Inszenierung vorbehalten, den Schlusspunkt zu setzen. Mit einem trotzigen: „Ich glaube es nicht!“ zerschlägt er noch einmal den Krug mit dem Hammer, also mit dem Instrument, das eigentlich dazu da ist, die Ordnung im Gericht zu wahren. Die Perücke zersaust auf dem Kopf, ansonsten fast nackt, erscheint er allerdings nur noch wie eine archaische Figur, die aus der Zeit gefallen ist.

Prof. Dr. Marion Albers, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Informations- und Kommunikations- recht, Gesundheitsrecht und Rechtstheorie/ Dr. Jörn Reinhardt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter/ Anna Schimke, M.A. Studentische Mitarbeiterin
Fakultät für Rechtswissenschaft Universität Hamburg