Thalia Theaters i
n St. Petersbur
g und Moskau

Erlebnisbericht von Joachim Lux. Erschienen im Hamburger Abendblatt am 27./28.102012

„Der Kirschgarten“ und „Othello“ in St. Petersburg und Moskau
Von Joachim Lux

„Nach Moskau, nach Moskau!“ heißt es in Tschechows „Die drei Schwestern“. „Paris! Paris!“ schallt es bei Bulgakow. „Nichts wie weg, egal wohin!“ verkündet nahezu jedes Roadmovie. Auch das Thalia Theater ist gerade wieder einmal on the road, Trucks und Menschen machen sich quer durch Europa auf den Weg. Mal spielt das Thalia „Caligula“ in Shanghai, „Invasion!“ in Paris, „Hamlet“ und „Draußen vor der Tür“ in Peking oder Jelineks „Die Kontrakte des Kaufmanns“ in Avignon. Jetzt also Russland: St. Petersburg und Moskau. Aber warum eigentlich? Der Reiz des Anderen war schon immer der entscheidende Motor fürs Reisen in ferne, andere Welten, von Goethes „Italienischer Reise“ bis hin zu Tschechow („Wenn man im Ausland war, sieht man die Heimat anders“), und er ist es auch heute, bei uns wie auch bei den uns einladenden Gastgebern. Die Festivals in St. Petersburg und Moskau erhoffen sich wie wir neue Impulse, aber ausgerechnet mit Tschechows „Der Kirschgarten“, dem Klassiker der Russen? Wir haben durchaus mulmige Gefühle. Ob man den deutschen Tschechow in Russland mögen wird? Ist hier mehr als Höflichkeit zu erwarten? Zu unserer eigenen Überraschung treffen wir sowohl in Petersburg wie auch in Moskau auf ein aufgekratztes Publikum, das hellwach jede Pointe aufspürt und sein Einverständnis mit Bravos
und minutenlangem rhythmischem Klatschen quittiert.

Die zentrale und sehr schöne Erfahrung der derzeitigen Thalia-Reise ist, dass wir offenbar trotz zahlloser Differenzen tatsächlich in einem einzigen europäischen Kulturraum leben. Dass das Andere gar nicht so anders ist. Zwar sind uns altrussisch anmutende Premierenfeiern mit Reden, Toasts, Tusch, Wodka und Preisverleihungen (der Leonid-Popov-Preis ging an unsere Andrejewna Ranjewskaja Barbara Nüsse) in etwa so fremd wie einem Mongolen ein bayerisches Bierzelt, aber das macht nichts. Bedenklicher stimmt da schon die möglicherweise sentimentale Beobachtung, dass sich an den Ausfallstraßen in St. Petersburg wie Moskau die gleichmachende Globalisierungsoberflächengemeinschaft aus Mediamarkt, Obi, Samsung, Mc Donalds und anderen genauso tummelt wie in Hamburg und allen anderen Metropolen auf der Welt. Aber gab es das nicht früher auch schon? Das Singer-Haus des berühmten deutschen Nähmaschinenfabrikanten steht bis heute am Newski-Prospekt – Zeichen und Sinnbild dafür, wie innovative Technologien schon immer steinreich machten und globale Märkte eroberten... St. Petersburg ist zweifelsohne die europäischste aller russischen Städte, der Humus einer gemeinsamen Kulturgeschichte ist unverkennbar – zwei entscheidende Jahrhunderte lang war St. Petersburg Hauptstadt des russischen Zarenreichs: absolutistisch wie die entsprechenden Herrscherhäuser in Paris oder Wien, von einer deutschstämmigen Zarin und italienischen Architekten geprägt. Die Romanows adaptierten und modifizierten in ihren Palästen und Sommerresidenzen barocke und klassizistische Baustile aus Europa, saugten mitteleuropäische Kunsterzeugnisse von Rubens und Rembrandt bis hin zu den Impressionisten auf und entwarfen Prachtboulevards wie den Newski-Prospekt, der es mit „Unter den Linden“ leicht und locker aufnehmen kann, vielleicht sogar mit der Champs-Elysee… St. Petersburg zog als Kulturstadt Künstler und Literaten an, wie z.B. Dostojewski, die wir als die eines gemeinsamen europäischen Erbes betrachten dürfen. Insofern steigt tatsächlich eine Art Verwandtschaftsgefühl auf, wenn man vom ehemaligen Heumarkt ausgehend durch den Bauch von St. Petersburg streunt, und auf Raskolnikow und Dostojewskis „Brüder Karamasow“ (demnächst im Thalia Theater) stößt. St. Petersburg ist bis heute von einer imperialen Erhabenheit ohnegleichen. Die Deutschen haben sie nicht zerstören können, als sie die Stadt drei Jahre belagerten und eine Millionen Menschen verhungern bzw. sterben ließen, unter ihnen auch Dichter wie den genialen Daniil Charms. Die deutsche Schuld wiegt schwer, ein Symbol für ihre Schwere ist das von den Deutschen gestohlene Bernsteinzimmer, unlängst durch die Ruhrgas AG als Geste der Versöhnung rekonstruiert. All das steht in jedem Geschichtsbuch, aber es ist eben doch etwas anderes, es sich vor Ort zu vergegenwärtigen. Wer sind wir, die wir hierher fahren? Kann Kultur, kann ein Theater wirklich Brücken bauen? Vermutlich gibt es immer noch Russen, die beim Klang deutscher Stimmen zusammenzucken, wie es umgekehrt auch in unserer Reisegruppe Menschen gibt, die der Anblick russischer Uniformen an einen längst vergessen geglaubten Schmerz erinnert. Auch das Trennende verbindet, kettet vielleicht sogar aneinander. Kultur kann – und das sehen unsere russischen Theaterpartner genauso – eine Chance sein. Auch das Thalia versucht im Rahmen der Lessingtage immer wieder einiges, unlängst mit Lew Dodin und im Januar 2013 mit Andrej Mogutschis hinreißendem „Circo Ambulante“.

Auf der Zugfahrt von St. Petersburg nach Moskau fliegen draußen russische Steppe und Wälder vorbei, während drinnen manche von heftigem Erbrechen und Durchfall heimgesucht werden; wir fürchten um unser Gastspiel… In Moskau dann Smog, Staus und Häusermeere – auf den ersten Blick eine seelenlose, rohe Metropole, kreisförmig um die Festung Kreml herumgebaut, mit verschlossen wirkenden Menschen. Nicht „Moskau! Moskau!“ denken die meisten, sondern, besonders die Erkrankten, „Nach Hause! Nach Hause!“ Nach der weißen Perle nun der Moloch? Es ist in der Tat eine Stadt für den zweiten Blick. Beim Begrüßungstoast nach der Premiere von „Der Kirschgarten“ wird ein Brief Tolstois an Stanislawski zum
Besten gegeben: Shakespeare sei grauenhaft, aber noch grauenhafter sei Tschechow… Wir lächeln etwas mühsam, denn wir sind zwar mit vier Vorstellungen der entscheidende Festivalschwerpunkt in Moskau, aber was nutzt das, wenn alle krank werden? Am Folgetag ist es dann trotz ärztlicher Notdienste soweit: Der Intendant muss ran und eine stets schlecht ge3 launte und nur mäßig gut angezogene Tschechow-Figur spielen. Es gilt zu retten, was zu retten ist. „Unvorstellbar“ ist das erste Wort des Abends, und der Intendant muss es sagen. Der künstlerische Mehrwert dieser Übernahme ist sicher überschaubar, und ich kann also nur von einem Kuriosum berichten, das den Hamburgern Gott sei Dank vorenthalten bleibt. Aber egal: Die Vorstellung ist gerettet und die Zuschauer sind nicht böse.
Zum Abschluss dann der skandalumwitterte, weil in rüder und sexistischer Militärsprache gegebene „Othello“. Die Aufführung ging zehn Jahre lang um die halbe Welt, und hier in Moskau sind nun die letzten zwei Vorstellungen. Sind die Moskauer so etwas gewöhnt? Nein, sie sind es nicht, aber sie sind auch nicht geschockt. Wirklich reagiert wird auf Textpassagen, die hier plötzlich einen politischen Kontext bekommen: Szenenapplaus bekommt zum Beispiel der Satz: „Was berufst du dich immer auf den Staat, du bestehst doch nur aus Komplexen!“ Und auch der Satz: „Die Freunde des Aufbruchs sind die wahren Herren des Vaterlandes“ löst Jubel aus – was auch immer die Applaudierenden mit dem „wahren Aufbruch“ in Russland meinen mögen.
Man spürt in Moskau tatsächlich viel Aufbruch, ob es der von den Menschen ersehnte ist, sei dahingestellt. Die Moskauer selbst sagen, St. Petersburg sei die Kulturhauptstadt Russlands, Moskau dagegen die Hauptstadt des Geldes. Der Druck des Geldverdienen-Müssens sei ungeheuer und ein täglicher Kampf. Es gibt kaum jemanden, der nicht drei oder vier Jobs habe, vielfach auf einem staatlich nicht kontrollierten Zweitmarkt. Seit meinem letzten Aufenthalt vor 17 Jahren ist Moskau zu einer boomenden kapitalistischen Stadt geworden. Man restauriert die Ringstraßen-Boulevards, die Gegend um das Künstlertheater, wo Tschechows „Die Möwe“ uraufgeführt wurde etc.
Tschechows Stücke, insbesondere „Der Kirschgarten“, erzählen vom Untergang der alten Bourgeoisie vor der russischen Revolution von 1917, im heutigen Moskau steigt unverkennbar eine neue auf. Und der St. Petersburger Putin trägt mit dirigistischen Ansagen in Moskau wie in seiner Heimatstadt dazu bei, dass beide Städte immer mehr im Glanz erstrahlen: Man zeigt, was man hat, und spürt als Gast den Wechsel in eine neue Zeit, in der sich Imperiales und Frühkapitalistisches mischen und der soziale Ausgleich bei horrenden Mieten hinten runter fällt. Hierzu kann die Kultur wenig beitragen, zum Dialog der Völker und Kulturen dagegen
viel – darin sind sich die deutschen und die russischen Kulturschaffenden einig, die den Kontakt wechselseitig fortsetzen möchten.