Jud
asevangelium oder Verr
at ist deine Pass
ion

Distanzen im Theater

Die Frage nach den Distanzen hat das Theater und seine Anhänger seit jeher beschäftigt.Wie viel Distanz zwischen dem Geschehen auf der Bühne und der Rezeption durch den Besucher ist zuträglich? Wie viel von sich selbst dürfen Schauspieler nach außen kehren, um die Distanz zwischen sich und der Rolle zu überbrücken? Wie viel Distanz darf die Regie zum Autor aufnehmen, ohne ihn bis zur Unkenntlichkeit zu verstümmeln? Wie viel dieser Distanz muss aber auch gewonnen werden, um die eigentliche Absicht eines Theaterstücks in einem sich ständig wechselnden Umfeld deutlich machen zu können?

Einen Streit um die richtige Antwort halte ich so lange für müßig, wie er von festgefügten Positionen her geführt wird. Ich halte jede Antwort für legitim, die in sich glaubwürdig bleibt, gerade wenn sie uns mit neuen Sichtweisen auf das Theater konfrontiert. Und auch die merkwürdigen Modewellen in der Regie schaffen derartig fest gefügte Positionen, mit denen ich wenig anfangen kann.

Derzeit scheint sich eine derartige Modewelle vorzubereiten. Sie setzt auf eine möglichst geringe Distanz zwischen Bühne und Zuschauerraum. Auf eine sehr zurückhaltende, damit wiederum distanzierte Weise ist uns das mit „You Are Here“ diesen Sommer in Salzburg angeboten worden. Viel direkter, wenn nicht brutaler geht Kornél Mundruczó bei seinem Stück „Das Judasevangelium“ in der Gausstraße vor. Der eigentliche Zuschauerraum ist aufgehoben; wir werden direkt in die Wohnung gebeten, in der sich die Handlung wirbelnd und verwirbelnd abspielt. Es gibt Aktion, die direkt vor unseren Füßen in dem Zimmer stattfindet, in dem wir gerade sitzen. Es gibt aber auch per Bildschirm übertragenes Geschehen in den anderen Räumen, und man weiß als Gefangener des Medienzeitalters nicht, welche der beiden Handlungen denn nun die authentischere ist. Ein verwirrendes, faszinierendes, virtuoses Spiel auf zwei Ebenen, das dadurch noch komplizierter wird, als das Stück selbst „Theater im Theater“ ist.

Es ist wohl zum einen diese Virtuosität, die die Zuschauer mit langem, aufrichtigem Beifall bedacht haben. Er galt aber ebenso der Truppe, die die spezifischen Schwierigkeiten einer derartigen Regie souverän gemeistert und eine bemerkenswerte Leistung abgeliefert hat. Hier ist niemand herauszuheben und jede/jeder zu loben Es ist zu spüren, dass sich beim Thalia in erstaunlichem Tempo wiederum die Chance auf ein erstklassiges Ensemble eröffnet.

So weit, so gut. Das Stück selbst hält nach meiner Auffassung nicht das, was der Titel verspricht. Ja, der verborgene Bezug muss gegen Ende sogar in einer gequälten, holzhammerpädagogischen Weise jedem verdeutlicht werden. Es gibt Szenen von großer Dichte, ja sogar zarter Intimität, aber auch solche von erheblicher Banalität. Und wo Blut, Schrei und Obszönität zum Selbstzweck degenerieren, da schalte ich Ohren und Augen auf Durchzug. War es nicht als Selbstzweck gedacht? Das mag sein. Dann jedenfalls – Lars von Trier lässt grüßen – bleibt zu hoffen, dass nicht auch noch der „Antichrist“ in der Gausstraße seinen Einzug hält.

Kornél Mundruczó hat uns einen interessanten und spannenden Beitrag zur ersten der eingangs genannten Distanzen geliefert. Er und sein Team sollten die Möglichkeit erhalten, in der Auseinandersetzung mit einem nicht von ihm selbst stammenden Stück auch eine Antwort auf die beiden anderen anzubieten.

Manfred Lahnstein ist Kuratoriumsvorsitzender der ZEIT-Stifung und lebt in Hamburg.


Manfred Lahnstein