Das dritt
e fröhliche Re
ich des Spiels und d
es Scheins

Erschienen im Magazin des steirischen Herbst 2011

„Das dritte fröhliche Reich des Spiels und des Scheins“
Über Schillers Ästhetik  
 
Das habe ich in der Schule nicht gelernt: In seinen 1794/95 unter dem Eindruck der französischen Revolution und der deutschen Philosophie entstandenen „Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen“ bastelte Schillerr offenbar an einem ästhetischen Immoralismus, als sei er der Vorläufer Nietzsches:   „Mitten   im furchtbaren Reich der Kräfte und mitten im heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten, fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im Physischen als im Moralischen entbindet.“     
Die Entbindung von allem, was Zwang heißt, sowohl im Physischen als im Moralischen, das schreibt Schiller tatsächlich. Was ist da los? In diesem dritten Reich? Sprengung der Grenzen von Raum und Zeit? Sodom und Gomorrha? Die Antwort kann nur lauten: Ja, auch das ist dort möglich und erlaubt! (Und Schiller nutzt das in seinen Stücken weidlich.)   Das ist nämlich Kunstfreiheit. Der Künstler ist in seinen Werken völlig frei, nicht nur vom Markt sondern auch von allen Beschränkungen der alltagspraktischen Vernunft. Aber diese Freiheit von allen Zwängen ist teuer erkauft. Das moralfreie Spiel der Kunst findet in einer „Scheinwelt“ statt, auch das steht in dem oben zitierten 27. Brief zur ästhetischen Erziehung. Während das Reich der Kräfte und Naturgewalten mit dem Reich der politischen und moralischen Gesetze im Clinch liegt, ist in der Scheinwelt der Kunst alles möglich und alles erlaubt, solange es Schein ist und damit reversibel, folgenlos, nicht wirklich wirkend – jedenfalls nicht direkt.
Die Parallelwelt der Kunst ist in ihrer grenzenlosen Freiheit eine Illusion, die sich als solche weiß. Nur als diese Illusion ist sie wirklich, nur als ästhetischer Schein ist sie mitten in der Welt. Diese Kröte mussten die maximalistischen Revolutionäre nach 1968/78 schlucken, die nicht wie Joschka Fischer in die Realpolitik gingen, sondern im Bereich der autonomen Kunst (in Literatur, Film und Theater) die Möglichkeit zu der großen Umwälzung sahen, die politisch nicht zu realisieren gewesen war. Bertolt Brecht, auch ein gescheiterter Revolutionär, der letztlich die Kunst der Revolution vorzog, war eine Generation früher schon den gleichen Weg gegangen. Anfang der 70iger Jahre wurde der Cellist und SDS-Vorsitzende Frank Wolff allen Ernstes von seinen Genossen aufgefordert „sein Cello zu verbrennen und sich ganz dem Klassenkampf zu widmen“.  Die Freiheit der Kunst gegenüber den politischen Freiheitskampf stark zu machen, galt damals als Verrat. Heute scheinen wir nicht nur von einem zielgerichteten politischen Kampf sondern auch von der Realisierung dieser unbeschränkten Freiheitsmöglichkeiten der Kunst sehr weit entfernt zu sein. Und zwar, kurz gesagt, deshalb, weil allgemein gilt, dass „zwar jede Idee erlaubt“ ist, „aber von Innovation nur gesprochen werden kann, wenn sie denn auch marktfähig ist“, wie der Vorsitzende der Deutschen Kreativitätsgesellschaft Joerg Mehdorn unter ausdrücklicher Einbeziehung des Subsystems Kunst in der FAZ feststellte.
 
Das fröhliche Reich des Spiels und des Scheins unterwirft sich deshalb den Kräften des Marktes und folgt den Gesetzen der Welt, über die es sich eigentlich erheben wollte.
Die Kunst wird aber durch die Preisgabe ihrer eigenen Sphäre, durch die Durchlöcherung ihrer „Reichsgrenzen“ und das sich Einlassen auf die ökonomischen Notwendigkeiten und gesellschaftlichen Konventionen nicht wirkmächtiger oder realitätsnäher. Sie bewegt sich weiter im Schein, bleibt Spiel. Nur eben ein langweiliges und angepasstes, dass  marketingstrategisch und politisch richtig zu spielen versucht und bloß keine Fehler machen will, als wäre es gar kein Spiel sondern Teil des mittelständischen Unternehmens, das dieses Spiel produziert oder des politischen Apparats, der es verwaltet.  
   
Weil wir uns zu diesem in seiner moralischen Indifferenz an Nietzsche erinnernden aber auf die Ästhetik beschränkten Kunstbegriff aus Schillers Zeiten nicht mehr durchringen können, haben wir nun weder Revolution noch Kunst, sondern Kunstkacke und Kitsch und Pädagogik (ich habe nichts gegen Pädagogik). Weil der Geschäftsbereich „Kunst“ Kunst produzieren muß, die wie Kunst aussieht, das heißt so wie das, was man sich unter Kunst vorstellt, wird Kunst gewöhnlich, man braucht gar nicht mehr hinzukucken. Man sieht etwas und weiß sofort: „ahh das ist Kunst“, und damit haben wir zwar ein identifizierbares Produkt aber eben keine Kunst, denn dieses Produkt muß ja auch für irgendetwas gut sein, wenn es marktfähig sein will. Deshalb müssen sich solche Produkte pädagogisch und politisch und ökonomisch legitimieren, ihren gesellschaftlichen Stellenwert reflektieren und Steuergelder nicht verschwenden.
Nun stecken wir in der Sackgasse, wir können unser Handwerk, aber mit Kunst haben wir nichts zu tun, höchstens mit „Kochkunst“.
Aber  „Kunst kommt nicht von Können sondern von Künstler“ sagt der frühere Leiter der Frankfurter Städelschule Christoph Ammann. Das klingt erstmal bedrohlich nach Willkür und Dilettantismus, nach narzisstisch autokratischem Regietheater: Kunst als Entfaltungsraum für eigenartige Menschen, die das Funktionieren der Institution gefährden, in der sie arbeiten?
Aber obwohl er wie eine Rechtfertigung für Nichtskönner und Gestörte klingt, hat dieser Satz etwas Zwingendes. Ein Können setzt nämlich voraus, dass man weiß, wie es geht. Das heisst, dass man die Spielregeln voraussetzt, die anerkannt sind. Der Künstler zeichnet sich aber im Gegensatz zum Koch ja gerade dadurch aus, dass er nichts voraussetzt. Er darf keine fixen und bereits allgemein anerkannten Maßstäbe haben. Etwas Neues entsteht nur, wenn man das Vertraute über Bord schmeißt. Hier liegt die Voraussetzung für jede Innovation nicht nur in der Kunst. Kunst, die nicht Museum oder Gewerbe ist, definiert sich nach Niklas Luhmann „durch die Unwahrscheinlichkeit ihres Entstehens“.
Bei Luhmann ist zwar alles unwahrscheinlich: die Evolution, die Gesellschaft und die Selbstorganisation ihrer Teilbereiche, aber all diese Bereiche definieren sich durch ihre Funktionen und nicht durch diese Unwahrscheinlichkeit ihres Entstehens. Letzteres tut nur die Kunst.
Christoph Menke, der sich schon in seinem Buch „die Gegenwart der Tragödie“ als höchst kompetenter ästhetischer Theoretiker gezeigt hat, fasst das in seinem Buch „Kraft – Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie“ prägnant und paradox zusammen: „Der Künstler kann das Nichtkönnen“. Er ist in Bereichen kompetent, in denen es keine Kompetenzkriterien gibt. Der Koch kann kochen und der Künstler kann das Nichtkönnen.
Was Luhmann und Menke zu diesem Punkt sagen, liest sich wie ein Appendix zu Schillers drittem fröhlichen Reich in dem Formtrieb und Stofftrieb eins werden als ästhetischer Schein. Und das Spiel des ästhetsichen Scheins in der Kunst ist immerhin mehr als eine bloße Illusion und weniger als eine Täuschung (Goffman).
Das Nichtkönnen können – ist die Fähigkeit sich diszipliniert zu entgrenzen, die Identität von Autonomie und Hingabe. Solcherart selbstwidersprüchliche Vermögen konstituieren das Spiel der Kunst und verweisen gleichzeitig auf die Selbstwidersprüchlichkeit unserer Existenz, in der wir das Können und das Nichtkönnen gleichermaßen brauchen und anstreben., ähnlich wie es auch die Gegensätze von Leiden und Tun, Bindung und Freiheit usw. verlangen Solange man lebt, befinden sich beide Seiten im Kampf und sind doch wechselseitig von einander abhängig, nur im Reich der Kunst sind sie harmonisch vereint und substituierbar.
Kunst generiert eine Welt, wo keine Gesetze gelten, ohne dass diese deshalb im Geringsten außer Kraft gesetzt würden. Praktiken der Kunst im außerästhetischen Bereich zu etablieren aber ist – wie Schiller sagt - keine Kunst sondern „Betrug“ und Lüge. Und das ist der Grund warum die Kunst verdächtig ist, denn sie kokettiert natürlich immer mit der Realität und würde sich immer gern vom Spiel in Ernst verwandeln. Sie hat die Möglichkeit dazu, aber im Moment wo sie ihr Reich verläßt, löst sie sich auf und unterliegt schlagartig den Bestimmungen des Strafgesetzbuchs.
Hier steckt das gegenwärtige Dilemma der Kunst, als eigener Sphäre, wenn sie es sich in der Kunst gemütlich macht, kann sie noch so Unwahrscheinliches hervorbringen, es wird sofort Wahrscheinliches, weil die Hervorbringung von Unwahrscheinlichem in Rahmen der Kunst, ja das Wahrscheinliche ist.
 
 
Aber auch wenn sie es sich in ihrem eigenen Reich gemütlich macht, scheitert Kunst, daran, dass sie nichts Unwahrscheinliches mehr hervorbringt, denn das Unwahrscheinliche gilt innerhalb der Kunst als wahrscheinlich. Wenn man in dieser Situation nicht im rückwärts gewandten Schillerkult erstarren, aber auch nicht im freien Spiel der Kreativwirtschaft verschwinden will, stellt sich die Frage nach einer Alternative. Diese Alternative muesste vor allem zwei Dinge leisten: Die Durchlöcherung der „Reichsgrenzen“ der Kunst verhindern und gleichzeitig die Unwahrscheinlichkeit von Kunst in ihrem Entstehen durch ihre Verbindung mit Nichtkunst ermöglichen.
Das wäre ein paradoxer Weg und hätte zu Konsequnez, die ästhetische Einstellung auch in der Sphäre der Lebenswelt beizubehalten, das Spielerische und Scheinhafte nicht zu leugnen, sondern in aller Offenheit auszustellen.
Das Offenlegen der Lüge, während man lügt und das Akzeptieren des Scheins, wie wir es im Theater gewohnt sind, auch in der wirklichen Welt zu betreiben, könnte vielleicht so etwas auslösen wie eine Explosion der Kunst. Schiller ist in seinen Briefen tief in die Problematik der ästhetischen Freiheit eingedrungen und seine Reflexionen erfassen noch große Teile unserer Gegenwart, aber auf die Idee, dass man das Ästhetische außerhalb der Kunst zur Anwendung bringen könnte, ist er nicht gekommen. Das konnte er sich nicht vorstellen. Dass der ästhetische Schein und das Spiel sich vom Theater sozusagen aufschwingen könnten, um in die  Realität der Welt zu gehen, war ein Gedanke, der ihm völlig fern lag. Schiller hat gedacht, wenn ästhetischer Schein überhaupt in der wirklichen Welt vorkommt, dann geschieht das immer in einem Kunstkontext, als Beschäftigung mit dem Schönen und mit dem Naturschönen, allenfalls noch marginal als Hinwendung zu Schmuck, Putz, Etikette oder Höflichkeit, als Schein eben, der „weder Realität vertreten will, noch von derselben vertreten zu werden braucht“. Andernfalls verwandele sich der ästhetische Schein in Lüge und Betrug. Wenn es bei Sheryl Crow in einem ihrer Songs, heisst : “Lie to me, I promise, I’ll believe”, beschreibt das ziemlich genau die Haltung des Theaterzuschauers  gegenüber dem, was auf der Bühne passiert. Man weiß genau, da oben auf der Bühne wird von den Schauspielern eine Scheinwelt präsentiert, und ich als Zuschauer glaube ihnen pro forma wider besseres Wissen für die Zeit der Vorstellung, weil es sonst keinen Spaß macht. Wenn diese ästhetische Theaterhaltung jetzt aber ins Leben überschwappt, dann haben wir ein neues Phänomen, ein Sichtweise, die für Schiller offenbar noch unvorstellbar war,  während sie für Sheryl Crow offenbar schon selbstverständlich ist. Die Kunst verläßt ihr Reich, ohne sich in Lüge und Betrug zu verwandeln! Diese Ästhetisierung der eigenen Realität außerhalb der Kunst taucht in der Musik schon bei Zarah Leander auf, vielleicht zum ersten Mal überhaupt. In dem Film „Es war eine rauschende Ballnacht“ singt sie das berühmte von Theo Mackeben komponierte Lied „Nur nicht aus Liebe weinen“. Dieses Lied besingt eine Situation, die in die offen gelegte Lüge investiert, genauso wie man es im Theater tut, nutzt das aber für die Realität des Leben. Das sind die entscheidenen Textzeilen:   „Und darum will ich heut dir gehören, du sollst mir Treue und Liebe schwören, wenn ich auch fühle, es muss ja Lüge sein, ich lüge auch, und bin dein.“ Diese kleine Geschichte bringt den ästhetischen Schein scheinbar in die wirkliche Welt. Als ästhetischen Schein. Eine Lüge, die man als Lüge markiert, ist keine Lüge mehr. Dieser Vorgang, den man zu Schillers Zeiten, offenbar nur vom Theater her, nur aus der Kunst kannte, aus der eigenständigen Welt des ästhetischen Scheins eben, bestimmt jetzt möglicherweise zunehmend unser Leben, indem wir sagen, wir machen uns zwar was vor, aber wir machen uns nicht vor, dass wir uns nichts vormachen. Und damit schließen sich Theater und Leben kurz, die Welt wird ästhetisch.
“Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein”, lautet eine prägnante Zusammenfassung Adornos. Für die Kunst stellt sich die Frage und zwar nicht nur theoretisch: kann und soll man diese aufgeklärte Magie ins Leben übertragen?