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urm sein!" - Wolfgang Borchert zum G
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Wolfgang Borchert ist Ihnen sicher bekannt, möglicherweise schon aus der Schule. Er gilt als der meistgelesene Autor von Kurzgeschichten in der Schule und war und ist Gegenstand unterschiedlichster didaktischer Zugänge. Er ist auch in allen Lehrplänen der deutschen Bundesländer vertreten, zum Teil als Pflicht-, zum Teil als empfohlene Lektüre. Vergleicht man Borchert mit anderen Autoren der Nachkriegsliteratur, die oft ein weit größeres Werk aufzuweisen haben als seines - man denke z.B. an Heinrich Böll, Wolfdietrich Schnurre oder Alfred Andersen, ist er der am meisten gelesene.
Für viele Leser, auch für Autoren, gehört Borchert zur literarischen Sozialisation wie etwa Hesse, Brecht und Kafka. Dies gilt für ältere Schriftsteller wie Dieter Wellershoff, der in seiner Autobiographie Die Arbeit des Lebens schreibt: „Hier hatte sich einer aus der Verschüttung freigearbeitet, und damit grub er auch das Bewusstsein anderer frei." Peter Härtling berichtet in seiner Autobiographie Leben lernen, wie sehr er sich mit Borchert identifizierte, nachdem er 1947 das Hörspiel gehört hatte. Er hielt einen emphatisch begeisterten Vortrag über Borchert im Volksbildungswerk in Nürtingen. „Frosch", ein Deutschlehrer, der sich von der nationalsozialistischen Ideologie nicht abgewandt hatte, machte dann den Schüler, der sich für den "Deserteur Borchert" eingesetzt hat, in der Schule so fertig, dass dieser spontan den Unterricht verließ und die Schule nicht mehr besuchte. Als ein junger Schriftsteller der Gegenwart sei exemplarisch Benjamin Lebert angeführt, der mit 17 Jahren den Bestseller Crazy schrieb (erschienen 1999). Er bezieht sich auf Borchert als Vorbild. Der Schweizer Schriftsteller Peter Weber schildert in Die mitleidlosen Jahre (2007), wie ein Lehrer mit den gelangweilten Schülern in der Deutschstunde Borcherts Erzählung „Schischyphusch" durchnimmt und vorlesen lässt. „Die Heiterkeit übertrug sich. (...) Die Sätze berührten den Sprachnerv. Plötzlich war Deutsch ein Vivarium." Bezieht man die literarische Sozialisation in der DDR ein, war Borchert, obwohl man ihn für gegen den Westen gerichtete Antikriegspropaganda einzusetzen versuchte, ein Bezugspunkt für Dissidenten. Zum Beispiel richtete sich Jürgen Fuchs, der neun Monate inhaftiert war, bevor er 1977 abgeschoben wurde, an der Borchert-Lektüre auf: „Wir werden nie mehr antreten auf einen Pfiff hin". In dem Stasi-Film von Florian Henckel von Donnersmarck Das Leben der Anderen werden die Szenen, in denen der oppositionelle Dichter Dreyman seinen Artikel schreibt, untermalt von dem Gedicht „Stell dich mitten in den Regen", komponiert und gespielt von der Gruppe Bayon, einer Gruppe von Musikern, die sich schon in der DDR für Borchert eingesetzt haben. Da wir bei politisch-moralischen Konnotationen des Werkes Borcherts sind, sei abschließend an die dominante Rolle von Borcherts Antikriegsappell „Sag nein" in der Friedens- und Antiatombewegung der siebziger bis neunziger Jahre erinnert. Seinerzeit hat Ida Ehre, die Intendantin der Hamburger Kammerspiele, wo Borcherts Drama Draußen vor der Tür uraufgeführt worden ist, diesen Text im Volksparkstadion vor 25000 Demonstranten vorgetragen. Diese Aneignung des Autors hängt mit einer Spezifik der Borchert-Rezeption zusammen, die der leider schon verstorbene Hamburger Dichter Peter Rühmkorf, der auch sein erster Biograph war, einmal so zusammengefasst hat: ,,Wolfgang Borchert ist immer schon mehr und immer etwas anderes gewesen als ein Fall der Literatur oder ein Gegenstand der Literaturwissenschaft." Man „meinte die gemeinsame Sache! Und wo sich jemand auf die Sache berief, nahm er gleichzeitig auch den Menschen, die Person, für sich in Anspruch."
Nicht alle, die sich an ihre erste Lektüre Borcherts erinnern, können sich heute noch mit dieser identifizieren. Einer, der dies in Aufsätzen öffentlich gemacht hat, ist Jan Philipp Reemtsma. Er sei von Borchert begeistert gewesen, als er ihn als 16 jähriger Pubertierender gelesen habe. Doch seine erneute Lektüre unterzieht Borchert einer vernichtenden Kritik. Er sei mit seinen Figuren nicht aus der Pubertät herausgekommen, verharre im Selbstmitleid, fliehe vor wirklicher Verantwortung und habe nur sehr begrenzte politische Einsichten gehabt. Reemtsma kommt zu dem Schluss: „Man tut Borchert leider unrecht. Entweder über- oder unterschätzt man ihn."
Die deutschen Germanisten können übrigens meist mit Borchert wenig anfangen. „Den widerborstigen Schlacks kriegen und kriegen die Literaturwissenschaftler nicht, wie Dürrenmatt gesagt hätte, in eines ihrer Einmachgläser", spottete Rolf Michaelis 2002 in der Zeit. In der ausländischen Germanistik ist Borchert weit höher angesehen und er gehört oft zur Pflichtlektüre. Als ich 2010 eine Rundreise durch China machte, traf ich in der 20-Millionenstadt Chongking auf eine junge Chinesin, sie war gleichzeitig die Führerin. Sie bekannte, kein anderer Autor drücke ihr eigenes Lebensgefühl so aus wie Borchert. Inzwischen ist sie aufgrund ihrer Liebe zu Borchert Germanistin geworden.
Wolfgang Borchert hat 25 Kurzgeschichten geschrieben und das Drama Draußen vor der Tür. Diese Texte sind 1946/47 entstanden, und zwar auf dem Krankenbett, da Borchert sich im Krieg eine seinerzeit unheilbare Leberkrankheit zugezogen hatte. Sieht man genauer hin, muss man seine zahlreichen Gedichte einbeziehen, die er ab Ende der dreißiger Jahre schrieb und die nur zum Teil veröffentlicht sind, sowie seine drei Jugenddramen Yorick der Narr, Käse und Granvella- alle zwischen 1939 und 1941 entstanden. Die Jugenddramen, die im „Gesamtwerk" des Autors nicht enthalten sind, sind inzwischen in einer eigenen Publikation veröffentlicht. Die erste Aufführung von Käse fand vor einigen Jahren im Ernst Deutsch Theater statt - unter Mitwirkung von Sonja Valentin.
Noch einmal die Frage: warum sollen wir uns heute noch an Borchert erinnern? Diese Frage stellte sich mir Ende 2009, als es um das Problem ging, dass Borcherts Grab, das auf dem Friedhof Ohlsdorf in der so genannten „Dichterecke" liegt, nicht sehr weit von dem gerade renovierten Krematorium, möglicherweise aufgelassen werden könnte. Seit dem Tod Ida Ehres 1987 war kein Grab mehr in die Liste der von Stadt zu pflegenden Ehrengräber aufgenommen worden. Wie dafür argumentieren? Zum einen umweht Borchert die Aura des Heimatdichters. Kaum ein anderer hat Hamburg so besungen in Gedichten und Prosa wie er und das in einer Zeit, als die Stadt durch den Feuersturm 1943 in Schutt und Asche gelegt war. Das allein reichte zur Begründung allerdings nicht. Es kam hinzu, dass man aus Borcherts Geschichten lernen kann, in welchen Grenzsituationen sich die Menschen im und nach dem zweiten Weltkrieg befanden, wie sich Diktatur, Krieg und Hunger auf sie auswirken. Darüber hinaus sind seine Texte voller jugendlichem Elan. Er bemüht sich um eine Sprache, die jugendliches Lebensgefühl ausdrückt. Ferner ist Borchert ein Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, er musste drei Verfahren überstehen, ihm drohte mehrfach die Todesstrafe, er saß zweimal lange im Gefängnis. Und sein Grab bildet entsprechend einen Gedenkort, der sich mit anderen Gedenkorten in der Stadt verbindet. Dass das Grab immer viel besucht ist, was sich an abgelegten Blumen zeigt, ergab ein weiteres Argument. Bekanntlich ist dass Grab am 28.Februar 2010 in die Liste der Ehrengräber aufgenommen worden.
2011 war ein Borchert-Gedenkjahr. Borchert wäre 90 Jahre alt geworden. Es gab im deutschsprachigen Raum insgesamt sieben Aufführungen von Draußen vor der Tür an Theatern, und zwar in Saarbrücken, Freiburg, Schloss Maßbach in Franken, Hamburg, Bad Hersfeld anlässlich der Festspiele, Mainz und Salzburg. Hinzu kommen zahlreiche kleinere Aufführungen von freien Gruppen. Bemerkenswert ist auch die nach allem, was wir wissen, äußerst erfolgreiche Aufführung des Teatro Sergio Magana „Del otro Lado de la Puerta" 2010 und 2011 in Mexiko City. Sie basiert auf einer freien Adaption von Draußen vor der Tür in Verbindung mit einem Gedicht des peruanischen Dichters Cesar Vallejo. Ferner ist bemerkenswert der Zweiteiler des türkischen TNT-Fernsehens über Borcherts Leben und Werk. Der Dokumentär- und Spielfilm soll März 2012 ausgestrahlt werden. An allen Aufenthaltsorten Borcherts und im Borchertarchiv wurde gedreht.
Draußen vor der Tür behandelt einen Kriegsheimkehrer, der mit der von ihm empfundenen Schuld, in einen Vernichtungskrieg verwickelt gewesen zu sein, nicht fertig wird. Er geht in die Elbe, wird wieder an Land geworfen, In mehreren Stationen erfährt er, dass er in der Gesellschaft keinen Platz hat. Er steht letztlich immer Draußen vor der Tür . Mit dem Stück erinnert Borchert sein Publikum an die damals vorherrschende zwanghafte Verdrängung des eigenen Anteils an Diktatur und Krieg. Beckmann verkörpert als Träger der Gasmaskenbrille die „Wahrheit", die seine Mitmenschen nicht wissen wollen. Bekanntlich hat Borchert mit diesem Stück zunächst einen ungeheuren Erfolg gehabt. Zwar gab es gleich auch kritische Stimmen - von rechts etwa, wenn es als Diffamierung des deutschen Soldaten gelesen wurde und von links, wenn Beckmann als Sich selbst Bemitleidender gesehen wird, der vielleicht besser hätte zum Arbeitsamt gehen sollen. Die große Mehrheit aber gerade der jungen Leser und Zuschauer erkannte sich in der Figur wieder. Zusätzlich konnte das Stück als eine Anklage gegen die ältere Generation rezipiert werden, die Hitler gewählt und seine Gewaltherrschaft mit getragen hatte. Auch der Pazifismus Borcherts war seinerzeit sehr populär. Bereits 1948 folgten auf die Premiere am 21. Novmber 1947 über 30 Inszenierungen, zunächst in den Westzonen, dann auch im Ausland, zum Beispiel von Piscator Februar 1949 in New York. Hans Werner Richter lud Borchert zur zweiten Sitzung der Gruppe 47 ein. Die ersten Jahre der Gruppe 47 sind in ihrer Orientierung am Realismus der Trümmerliteratur deutlich geprägt vom Vorbild Borchert.
Das Stück hat sich bis heute auf den Theaterspielplänen gehalten. Es gibt jedes Jahr zwischen zwei und fünf Premieren. Das spricht für seine Anschlussfähigkeit. Es ist zwar aus den Erfahrungen des zweiten Weltkrieges erwachsen, aber er stellt diesen Krieg aus der Perspektive eines unteren Dienstgrades dar und vor allem fehlt jede genaue politisch-historische Verortung. Durch die Zeitlosigkeit tritt das Existenzielle der Grundproblematik klar hervor, das Ausgesetztsein des Einzelnen an die Todesdrohung im Krieg, an der er sich zugleich beteiligt. Und diese existenzielle Erfahrung ergibt sich bis heute immer wieder, obwohl sich die Kriegführung und -technik in vielerlei Hinsicht gewandelt haben. Darüber hinaus ist Beckmann, das hat schon Rühmkorf gesehen, eine paradigmatische Figur des Heimatlosen, der keinen Platz mehr auf dieser Welt findet. Heimatlose, zu Außenseitern Gemachte gibt es zu allen Zeiten und auch in unserer Gesellschaft.
In Hamburg gab es 1995 in den Hamburger Kammerspielen eine Aufführung von Ulrich Waller mit Ulrich Tukur in der Hauptrolle. Sie ließ Draußen vor der Tür in einem Zirkus spielen. Ausgedrückt wurde damit die ver-rückte Welt des Dramas. Es wurde eine Distanz zu Beckmann geschaffen, dessen Neigung zum Selbstmitleid mit sich selbst ins Komische gedreht wurde. Die Aufführung machte deutlich, wie viel an Groteskkomischen in dem Stück steckt. Beckmann muss nicht larmoyant gespielt werden.
Luk Percevals sehr sehenswerte Inszenierung am Thalia Theater, die am 11. Februar zum 25. Mal gespielt wird -Premiere war am 2. April 2011 - geht einen anderen Weg. Er bezieht die Band „My Darkest Star" ein, deren Sänger der Beckmanndarsteller Felix Knopp ist. Die laute Rockmusik auf der Bühne klingt aufsässig und der Zuschauer erlebt Felix Knopp als einen, dessen Suche nach sich selbst an der Engstirnigkeit seiner Umgebung scheitert. Dabei erweist sich die Sprache als nicht ausreichend, um die zunehmende Hoffnungslosigkeit Beckmanns auszudrücken. Dieser ist gefangen in den Traumata, die sich aus seinen Kriegserfahrungen ergeben. Aktuelle Anschlussmöglichkeiten ergeben sich für die in Afghanistan stationierten deutschen Soldaten, wobei dies nicht direkt in der Inszenierung angesprochen zu werden brauchte.
Die kriegsbedingte posttraumatische Belastungsstörung ist inzwischen in den USA als aus Kriegen resultierende Krankheit anerkannt. In Deutschland beschäftigt sich zum Beispiel das neu eröffnete Traumazentrum in Berlin damit. Der Regisseur hat sich im Gegensatz zum Autor von vornherein für den Suizid Beckmanns entschieden und die nachfolgenden, durchaus traurigen Begegnungen Beckmanns mit Menschen aus seinem vergangenen Leben werden als Erinnerungen dargestellt. Zugleich werden alle Personen, denen Beckmann begegnet, durch eine Schauspielerin verkörpert, durch Barbara Nüsse. Und behinderte Darsteller vom Eisenhans-Projekt vergegenwärtigen eine Gegenwelt zu Beckmann, die im Gegensatz zu seinem Gegenüber das Leben offen entgegennimmt, Empathie zeigt. Dass der Regisseur das Stück zwischen Realität und Traum spielen lässt, vergegenwärtigt auch der riesige Spiegel, in dem sich die gespielten Vorgänge verdoppeln.
Wichtig ist festzuhalten, dass Borchert nicht nur ein Autor von Antikriegsgeschichten und eines Antikriegsstücks ist. Er hat auch Geschichten geschrieben, die im Gefängnis spielen, ferner traurige Geschichten von Begegnungen junger männlicher Heimkehrer mit dem anderen Geschlecht, darüber hinaus Familiengeschichten, Hamburggeschichten. Wenig bekannt ist, dass er einen großen Sinn fürs Kabarettistische, fürs unterhaltsam Komische besaß. Ein Beispiel: die erste und dritte Strophe des Gedichtes „Norddeutsche Landschaft":
Stangenbeinig, stolz und stur
Stelzt stocksteif ein Storch
Fedherrngleich auf freier Flur.
Freche Frösche höhnen: horch!
Und auch Kühe kauen taktvoll träge.
Ringsherum prahlen pralle Fladen.
Käfer schielen schnell und schräge
Nach der Kuhmagd nackten Waden.
Borcherts Versuch, Strukturelemente der von ihm geliebten Swingmusik in die literarische Sprache zu übertragen, führt zu Experimenten, die seinen Sinn für Klangliches zeigen. Ein Beispiel, das vor allem den Anlaut betrifft:
„Wir: klein, kläglich, königlich, kurzlebig, krank, kolossal. Wir mit dem sehnsüchtigen Herzen, verraten an dämmernde diesige Ungewißheiten, ausgesetzt auf die grundlosen Wasser der Welt, kurslos, ohne Küste und Kompaß, ausgesetzt auf die zufällige schmale, schaukelnde Planke des Seins zwischen den schweigenden Uferlosigkeiten von Gestern und Morgen. -Gestern und morgen, unser Leben liegt dazwischen, kükenfederleicht, katastrophenträchtig, kostbar und kurz: dies Pusteblumendasein."
In diesen Zeilen finden Sie das Lebensgefühl ausgedrückt, das Borchert in vielen seiner Geschichten vermittelt: Lebensangst, Wissen um die Begrenztheit des Lebens, Ungewissheit, Suche nach Identität, zugleich Hoffnung, dass die Zukunft offen ist, Lebenshunger.
Warum sollen wir Borchert lesen? Wofür können wir ihn schätzen? Die Antwort darauf wird immer subjektiv bleiben, wenn man nicht rein gesellschaftlich-moralisch argumentiert. Macht man dies, stellt man Borchert als Antikriegsdichter heraus und als einen, der nach dem Krieg die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit fordert - am Anfang der Diskussion über die Schuldverstrickung unserer Nation, die noch heute nicht abgeschlossen ist.
Über Borchert lässt sich aber auch der eigene Sinn für Sprachliches entwickeln. Er sucht, wie gezeigt, neue Klänge, Wortzusammensetzungen und Bilder. Dies geschieht auch aus dem Zwang heraus, nach der Besetzung der Sprache durch die nationalsozialistischen Herrschaft jene neu zu erfinden. Doch bleibt dieses Experimentieren immer dem Leser zugewandt. Die sprachlich erzeugte Sinnlichkeit seiner Geschichten überträgt sich unmittelbar.
Ein weiterer Punkt ist die anrührende Mitmenschlichkeit von Borcherts Erzählungen: so wenn der alte Mann den Jungen, der seine Eltern verloren hat, vor dem sicheren Verhungern rettet durch die an kindliche Vorstellungen appellierende Notlüge, dass ..Nachts schlafen die Ratten doch". Der Junge ist dadurch bereit, die Trümmer des Hauses zu verlassen, unter denen die Leichen der Eltern liegen. Ein anderes Beispiel ist das Ehepaar in "Das Brot", wo er sie betrügt, indem er heimlich aus Hunger eine Scheibe mehr isst, sie das weiß und aus Großmut duldet, er zugleich sich schämt. Trotz des Betrugs bleiben beide zusammen.
Als Leser entwickelt man Empathie mit Borcherts Figuren, man versteht, dass sie in existenziellen Grenzsituationen nicht anders handeln können. Borchert reduziert geschichtliche Erfahrungen zudem meist auf eine kindliche Perspektive. Kindlichkeit wird gegen die Erwachsenenwelt ausgespielt, so in der Erzählung ..An diesen Dienstag", in der eine Schülerin zum Ärger der Lehrerin stets das Wort Krieg mit „g" wie Grube schreibt. Durch die nur scheinbar vereinfachende Kindlichkeit gelingt es, komplexe Erfahrungen und Befindlichkeiten überhaupt erst zu vergegenwärtigen. Dadurch vermitteln Borcherts Texte lebendige Geschichte. Sie vergegenwärtigen anders und mehr als historische Werke oder moralische Diskussionen, was Krieg, Diktatur und Schuldigwerden bedeuten und vor und nach 1945 bedeutet haben und wie bedroht das Individuum ist, das es zugleich zu bewahren gilt.
Hans-Gerd Winter ist emeritierter Professor für neuere deutsche Literatur (Institut für Germanistik, Universität Hamburg). Schwerpunkte: Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, Literatur nach 1945, Gegenwartsliteratur, Moderne Oper und Literatur, Literaturgeschichte Hamburgs, Literatursoziologie. Zu allen diesen Bereichen Publikationen. Betreuer der germanistischen Hochschulpartnerschaft mit der Universität "St. Kliment Ochridski" in Sofia, Bulgarien. Arbeit an der Mitherausgabe eines Handbuches zu dem Sturm und Drang-Autor Jakob Michael Reinhold Lenz; Vorbereitung einer Tagung der Internationalen Wolfgang-Borchert-Gesellschaft: 'Hamburg ist mehr als ein Haufen-Steine.' Hamburger Kultur (Literatur, Theater, Film, Rundfunk, Institutionen, Gruppen) 1945-1955 (November 2012). Vorsitzender der Internationalen Wolfgang-Borchert-Gesellschaft in Hamburg.
Hans-Gerd Winter