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Zwei Mädchen, die unterschiedlicher nicht sein könnten

 


Imra ist ein türkisches Mädchen, trägt Kopftuch und hat einen starken Glauben, der sie beschütze und ihr Sicherheit gebe.
Tess ist eine kaugummikauende Blondine, die kein Blatt vor den Mund nimmt, schon ein paar mal von der Schule geflogen ist und behauptet, dass es sie frei macht, an nichts zu glauben.
Was diese beiden verbindet, ist, dass sie erlebt haben, was es heißt von Mitschülern gemobbt, verachtet und getreten zu werden. Die eine aufgrund ihrer sichtbaren Religionszugehörigkeit, die andere wegen ihres auffälligen Sozialverhaltens. Nun passiert etwas, das beide noch näher zusammenrücken lässt: Imra kriegt im Einkaufszentrum zufällig mit wie Tess ein iPod in die Tasche gesteckt wird und sie deshalb wegen Ladendiebstahls verhaftet wird. Der Täter ist ausgerechnet Boas – der 22jährige Freund der 15-jährigen Tess.
Das Stück der niederländischen Autorin Monika The (deutsche Übersetzung von Maarten Bakker) fokussiert sich auf das Zusammentreffen dieser unterschiedlichen Charaktere und offenbart in den Dialogen der beiden gleichaltrigen Mädchen ihre Hintergründe. Das Ganze wurde mitten ins Klassenzimmer gesetzt und die 8. Klasse, die zuschaut, ist hautnah dabei. Sie unterhalten sich über Jungs, den ersten Kuss, über Sex. Tess ist über ihren deutlich älteren Freund Boas in die Prostitution abgerutscht und spricht davon, dass sie mit 13 keine Jungfrau mehr war. Seitdem steckt sie tief im Dreck und steht nun auch noch vor Gericht. Die schüchterne Imra dagegen träumt von wahrer Liebe, vom Heiraten und erzählt von ihrem Bruder, der sie vor Jungs beschützen will. Tess will auf der einen Seite, dass Imra gegen ihren Freund Boas aussagt, hat aber auf der anderen so große Angst vor ihm und seinen Freunden, dass sie keinen Ausweg weiß. Es entwickelt sich eine Freundschaft zwischen ihnen, in der sich beide verstanden fühlen, aufeinander eingehen, sich Dinge beibringen, den anderen verteidigen, zusammen herum pöbeln und laut sind, aber auch einfach nur herumalbern und sich auf den Boden schmeißen, um ihr Lieblingslied aus Herzenslust dröhnend in den Raum zu grölen. Zum Schluss sind sie ein richtiges Team, das sogar einen Namen trägt: IT (gesprochen wie das englische ET) und sind damit Außerirdische, die sich von den anderen abheben wollen.
Im Nachgespräch dürfen sich die Achtklässler zum Stück äußern und es wird schnell deutlich, dass die beiden Schauspielerinnen, Nisan Arikan (alias Imra) und Alena Oellerich (alias Tess), für echte Schülerinnen gehalten wurden, denen genau das Verhalten, das sie gespielt haben, auch im Alltag zugetraut wurde. „Wart ihr früher auch so drauf?“ möchte einer der zuschauenden Schüler wissen. Ein anderer Junge fragt sich, warum die Mädels denn da überhaupt auf dem Boden herumlagen, als sie zusammen das Lied gesungen haben. „Macht ihr Jungs das anders?“ kontert der Theaterpädagoge Herbert Enge. Die Themen Liebe, Freundschaft und Religion stehen im Vordergrund und werden von den Schülern und ihrem Lehrer diskutiert und reflektiert. Diese Aspekte des Erwachsenwerdens wurden zu ihnen ins Klassenzimmer gebracht und werden nun in diesen jungen Köpfen verarbeitet und mit dem eigens Erlebten abgeglichen. „Gibt es bald die Fortsetzung?“ möchte einer von ihnen wissen und sie lassen sich dazu einladen, über mögliche Fortführungen der Geschichte zu phantasieren, was zu skurrilen, amüsanten, aber auch ernsthaften Vorschlägen führt und die Diskussion zu einem runden Abschluss bringt.
Auch Intendant Joachim Lux war mit von der Partie und hat sich im Nachgespräch mit uns Thalia-Pfadfindern positiv über die Darbietung geäußert: „Die Geschichten sind einfach, aber genau da ist es schwierig, sich nicht nur mit Klischees herumzuschlagen. Ich denke, es ist ihnen gelungen, sich tiefergehend mit der Thematik auseinanderzusetzen.“ Besonders beeindruckt haben ihn die Direktheit und das unbefangene Spielen der beiden Darstellerinnen so nah am Publikum dran, zu welchem normalerweise eine gewisse Distanz durch die Bühne geschaffen wird. Auch Alena Oellerich berichtet davon, dass es eine andere Nähe zu den Zuschauern ausmacht, wenn man mitten unter ihnen sitzt, sie sogar mal im Weg sind, wenn man die Stimme nicht in einer besonderen Weise anpassen muss, und die Schüler durch ihre direkte Reaktion auf provokante Szenen auch mal ins Geschehen eingreifen. Nisan Arikan spricht auch davon, dass es schwerer falle, eine Illusion herzustellen, da das Set der Klassenraum ist, in dem die Schüler normalerweise ihren Unterricht haben und es auch noch um die Geschichte zweier Altersgenossen geht. Bei der Vorbereitung auf ihre Rolle musste die 20-jährige sich die Sprache der Teenies antrainieren und herausfinden, was im Moment eigentlich so „in“ sei.
Die Kontrastierung der zwei Schülerinnen war äußerst authentisch und hat genau die Themen angesprochen, die der Zielgruppe der Achtklässler nahe gehen, mit denen sie sich nach Aussage ihres Lehrers täglich beschäftigen und die sie nun auch im Rahmen eines Theaterstücks auf besondere Weise in Erfahrung gebracht haben.


Viktoria Bauer