One Sm
all Radio

Die Phantasie ist uns lieber als die Wirklichkeit

 

Die kleine Bühne ist minimalistisch ausgestattet, ein Bühnenbild, das aus den 20ern zu kommen scheint. Zwei silberne, stählerne Figuren, eine weiße Leinwand. Die Solokünstlerin des Stückes (Maya Novesselska) erscheint als eine Mischung aus Donald Duck und Charlie Chaplin mit drolliger Tierstimme plappernd und in pantomimischer Heiterkeit vor dem Publikum. Diese kuriose Gestalt befindet sich in einer Prüfung, der Prüfung zum Menschwerden. Die Stimme aus dem Off stellt die Fragen, sie antwortet: Was gehört zum Menschsein? Mit Gestik und Mimik werden Andeutungen gemacht: Krieg, Essen, Schlafen, Sex… Die Stimme fordert aber etwas Anderes: Sage mir ein Gedicht auf! So lautet die Aufgabe in bulgarischer Sprache, der Übersetzung folgen wir auf der Leinwand. Es folgt ein entengeplappertes Gedicht von Rainer Maria Rilke, ein Lied, Ballett. Soweit bestanden. Nun zum gewünschten Geschlecht: männlich oder weiblich? Es ertönt James Browns „This is a man’s world“ und nur mit Glück ist noch eine freie Stelle als Frau verfügbar.
Auf ins Abenteuer Menschsein! Die Frau befindet sich auf gefährlichem Gebiet zwischen Wirklichkeit und Phantasie: zwischen lärmendem, angsterzeugendem Schlaghammer auf der einen Seite und dem auf die Schauspielerin wartenden Publikum auf der anderen. Zwischen diesen Seiten sitzend, sagt sie „Ich bin nicht dort, nicht hier!“ und spielt eine Weile mit dem Rhythmus dieses Satzes.
Im Wechsel erscheint dem Zuschauer im Folgenden die Welt der Wirklichkeit und die der Phantasie: die Leinwand zeigt eine Reihe von Tieren, ein kauendes Kamel, das sich fragt, warum es bloß Mensch werden wollte. Wie ein harter Schnitt ist die Realität gleich darauf wieder präsent: Es müssen Rechnungen gezahlt, das Mikrophon erneuert, Glühbirnen gekauft und noch vieles mehr erledigt werden, alles „Kleinigkeiten“, die zeigen, dass die zur weiblichen Schauspielerin gewordene Gestalt nicht zurecht kommt, dass sie nicht recht in die Rolle des Menschseins passt und sich sowieso viel lieber in der Imagination aufhält als in der wahren Welt.
Das Radio, ihr Begleiter, wird sogleich eingestellt und bringt sie an all die Orte der Welt, an denen sie noch nie gewesen ist. Sie erzählt uns von der Begegnung mit Menschen, denen sie nie begegnet ist. Sie erzählt uns von Situationen, die ihr nie passiert sind. Es sei interessanter davon zu erzählen, wer und wo man alles sein wird, als von dem, was tatsächlich mit einem geschah.
So trifft sie einen Mann in Neapel, ein weißer Hut und weiße Schuhe reichen, um ihn leibhaftig und fast real vor unseren Augen auftreten zu lassen. In ihrer Träumerei zeigt die Leinwand sie mit einem Sänger bei einer großen Live-Show, beim nächsten Musikstück des Radios bricht sie aus dem verschlossenen, bulgarischen Durcheinander aus rumänischer Musik, serbischer Folklore und griechischem Sirtaki heraus und begibt sich nach Amerika, um dort den Traum von Freiheit, den American Dream, zu leben; Fetzen aus Bernsteins West Side Story, mit Luftgitarre gespielte Rockmusik und die Filmbranche der 20er Jahre lassen grüßen. Das Kino erhält als ein Ort, an dem es sich nach Herzenslust träumen lasse, eine besondere Stellung für die Protagonistin. Der Schutz des Imaginären ist für sie zentral und kulminiert in der Aussage: „Jeder übersetzt gern aus Sprachen, die er kann, ich übersetze lieber aus Sprachen, die ich nicht kann!“
Die Wirklichkeit als von Einsamkeit dominierte, schwarz-weiße Begegnung mit der Angst, in der Tiere durch den Fleischwolf gedreht werden und die Freiheit der fliegenden Vögel, die immer wieder wie ein Symbol, das für die Freiheit der Gedanken steht, auf der Leinwand erscheinen, durch einen Jäger-Schuss zerstört werden, wird der farbenfrohen und verspielt lebhaften, durch zahllose Musikstile geprägten, Traumwelt gegenübergestellt, in die das Radio uns einführt.
Auf äußerst humorvolle und virtuose Weise werden die beiden Welten des Menschseins von einer grandiosen Schauspielerin dargestellt, der es mit viel Witz und gestikulierender Übertreibung gelingt, dass man sich als Besucher ihrer musikalischen Phantasiewelt nur ungern wieder in die eisig steife Realität begibt.   


Viktoria Bauer