Vergesst Deutschla
nd. Eine patriot
ische Rede. Von N
avid Kermani

Die Eröffnungsrede von Navid Kermani

 

„Die Rede ging weit über den Anlass der Lessingtage und Hamburg hinaus, sie erläuterte die Grundsätze über das Zusammenleben in Deutschland.“ So kommentierte die Kultursenatorin Barbara Kisseler die Rede Kermanis im Nachgespräch mit uns, den Thalia Pfadfindern.

Gerade für eine Stadt wie Hamburg, die sich für weltoffen hält, gelte es, sich der Gefahr der Blindheit bewusst zu werden und die Deutungshoheit nicht den Stammtischen zu überlassen. Die Grenzen aufzuzeigen, sie zu überschreiten, dies sei Aufgabe der Kunst und so könne diese besser für einen angemessenen Umgang mit dem Fremden sorgen, als es der Verfassungsschutz tue.

Auch Carl Hegemann sprach mit uns in einem kurzen Plausch, der allerdings durch
Unterbrechungen gekennzeichnet war, vom gelungenen Aufbau der Rede, ihrer
rhetorischen Stärke und davon, dass sie durch die biographischen Bezüge eine starke Aussagekraft erhalten habe. Er sagte, dass Kermani uns gezeigt habe, wie man von Lessing heute noch lernen könnte: „Das Umdrehen von dem, was stattfindet, die Ansicht, das Fremde bedrohe uns. Man sollte das Eigene in Frage stellen und das Fremde nicht eliminieren.“

Joachim Lux kündigte den Gast der heutigen Veranstaltung als „vollständig
verschnupften Menschen“ an und auch Senatorin Kisseler verwies auf seine
„eingeschränkte Leistungsfähigkeit“, denn Navid Kermani hätte beinahe in letzter
Minute die lang ersehnte Eröffnungsrede zu den diesjährigen Lessingtagen aufgrund
seiner Erkältung abgesagt. Zum Glück musste es dazu nicht kommen und so erhielt das Publikum eine etwa einstündige Rede, die einen Zusammenhang zwischen dem 1759 von Lessing veröffentlichten Trauerspiel Philotas, in dem es um einen jungen Prinzen geht, der sich für sein Vaterland opfert, und den Nazi-Morden im Jahre 2011 herstellte. Es wurde ein großer Bogen gespannt, der die deutsche Geschichte mit dem Fokus auf Patriotismus und Verhältnis zur eigenen Nation, auf den Umgang mit dem Fremden in unserem Land und die jüngsten Vorfälle als Anzeichen von andauernder Fremdenfeindlichkeit betrachtet.

Zunächst richtet Kermani das Augenmerk auf die Köpfe des Terrornetzwerks von
Zwickau und sieht eine Parallele zur Terror-Zelle in Hamburg, die für die Anschläge des 11. September verantwortlich war. Die Köpfe stammten jeweils aus gebildeten und integrierten Familien, sie kamen also aus der Mitte der Gesellschaft und waren nicht etwa randständige oder Angehörige einer Minderheit. Sie werden von ihren
Mitmenschen als liebenswerte Personen beschrieben und alle stehen vor dem Rätsel, wie diese Menschen zu Terroristen werden konnten. Auch Lessings Philotas wurde nicht als Wahnsinniger dargestellt, sondern als nachdenklicher Mensch, der ein politisches Ziel verfolgt.

Bei den Terroranschlägen der heutigen Zeit handelt es sich laut Kermani um einen
neuen Typus von politischer Gewalt, die mit der aus Lessings Zeit nicht vergleichbar ist. Der Rechtspopulismus habe in der westlichen Welt eine lange Tradition und äußere sich in unterschiedlichen Weisen. Vertraut man empirischen Studien, die einen Blick in das Meinungsbild der Bevölkerung wagen, so ähneln die Einstellungen der deutschen anderen westlichen Gesellschaften in großem Maße. Und wie es in anderen Ländern schon lange der Fall ist, „so müsste auch das Verhältnis der Deutschen zur eigenen Nation endlich wieder normal und unverkrampft“ werden. Denn schon immer hat der Mensch wie zu seinen eigenen Eltern ein Gefühl von Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft entwickelt, in der er geboren und aufgewachsen ist. Eine besondere Bindung zu deren Sprache, Bräuchen und Festen zu fühlen sei nichts Verwerfliches, sondern in hohem Maße Natürliches. Auch Lessing habe in seiner Zeit die deutschen Traditionen des Dichtens gegen die französische Kunst verteidigt. Doch war bei Lessing
das Vaterland noch keine Nation, es war ein gemeinsames Bewusstsein, ein deutscher Sprachraum, eine Gemeinde und diese hatte auch nicht die historische Realität des Nationalsozialismus erlebt, die heute auf unseren Schultern lastet.

Auch Kermani musste die leidvolle Erfahrung machen, dass in seiner Nachbarschaft in Köln, unweit vom Kindergarten seiner eigenen Tochter, die Tochter eines iranischen Ladenbesitzers durch eine in einer Keksdose versteckte Bombe schwer verletzt wurde. Diese Erzählung zeigt, aus welcher Nähe er selbst Gewalt gegen die Eigenschaft, eine Ausländerin, Iranerin, Muslimin zu sein, erlebt hat.

Kermani stellt fest, dass es die Struktur des Diskurses ist, die auf der ganzen Welt die gleiche ist, wenn es um Fremdenfeindlichkeit geht. „Das Wir ist stets das Bedrohte.“ Und wodurch wird es bedroht? Durch das Fremde, in Deutschland sei dies der Einwanderer, der Muslim, der Osteuropäer. Je nachdem wo wir uns befinden, nimmt das Fremde eine andere Form an und muss bekämpft werden. Lessing ist der, der uns lehrt, ein Weltbürger zu sein. Er spreche sich gegen die Dichotomie des Eigenen und des Fremden aus. „Wir – das ist für Lessing jeder.“

In seiner Rede unterstreicht Kermani, dass er sich keine kulturell homogene Gesellschaft zurückwünscht, die Buntheit mache Deutschland interessanter, menschenfreundlicher und liebenswerter. Und auch Lessing betone, dass der Patriot in ihm selbst vielleicht gar nicht ganz erstickt sei – allerdings „das Lob eines eifrigen Patrioten, nach meiner Denkungsart, das allerletzte ist, wonach ich geizen würde; des Patrioten nämlich, der mich vergessen lehrt, dass ich ein Weltbürger sein sollte.“

Auf die Frage danach wer er sei, würde Kermani heute antworten: „Ich bin ein Mensch.“


Viktoria Bauer