Die Antig
one des Sophokles

von Univ.-Prof. Dr. Claudia Benthien

Der Mensch – fragil wie eine Seifenblase? Gotscheffs Inszenierung von Die Antigone des Sophokles

Dimiter Gotscheff hat im Thalia Theater Bertolt Brechts DIE ANTIGONE DES SOPHOKLES nach der Hölderlinschen Übersetzung für die Bühne bearbeitet inszeniert. Wie der lange Titel anzeigt, ist das Stück eine Auseinandersetzung mit der deutschen Übertragung von Sophokles’ griechischer Tragödie (um 442 v.u.Z.) durch Friedrich Hölderlin (1804). Brecht hat dessen Fassung 1948 in seine eigene Theatersprache übersetzt und eben dies tut der Regisseur Gotscheff nun mit dem Theaterautor Brecht. Wir erleben einen verschachtelten, mehrere Jahrtausende und unterschiedliche Künste umfassenden Übersetzungs- und Transformationsprozess eines antiken Mythos in die heutige Zeit – ein Palimpsest der Zeichen und Sprachen!

Brechts Anliegen besteht aber nicht in einer Aneignung und Vereinnahmung des Mythos. Im Gegenteil will er durch die (wie er formuliert) „historische Entrücktheit“ eine Identifizierung des Zuschauers mit der „Hauptgestalt“ verhindern. Er setzt daher episch-distanzierende Elemente ein und führt Hölderlins Sprache mit ihren „schröckfeierlichen Formen“ (so Hölderlins eigene Worte) als fremd und altertümlich vor. Insbesondere aber kritisiert er, wie man einer Selbstrezension entnehmen kann, die in dem Stück transportierte Vorstellung eines unaufhaltsamen fatum (‚Schicksal‘), wie sie im Altertum, aber auch um 1800 noch wirkmächtig ist: „Nach der Vorstellung der Alten ist der Mensch mehr oder weniger blind dem Schicksal ausgeliefert, er hat keine Macht darüber. Diese Vorstellung hat B. B. in seiner Nachdichtung durch die Meinung ersetzt, daß das Schicksal des Menschen der Mensch selbst ist.“ Der Mensch hat also selbst die Verantwortung für sein Leben und seine Zukunft zu übernehmen, weil der Glaube an mythische Mächte und waltende Götter im 20. Jahrhundert ausgedient hat. Brecht kritisiert so die Ideologie der Tragödie, die das historisch Kontingente in den Mantel von ‚ewiger Wahrheit‘ und ‚tragischer Unausweichlichkeit‘ hüllt, um die Menschen apolitisch zu machen und ihnen eine Haltung von Hoffnungslosigkeit, Fatalismus und Resignation einzuimpfen.

Gottscheff nimmt diese Impulse der Entideologisierung des Tragischen einerseits auf, indem auch er eine schonungslose Desillusionierung vollzieht: Seine Inszenierung zeigt eine statische Welt, in der keine Veränderungen erfolgen. So wird auch der Widerstand Antigones (Patrycia Ziolkowska) gegen das Verbot ihres Onkels König Kreon (Bernd Grawert), den toten Bruder zu bestatten, nicht psychologisch hergeleitet oder szenisch beglaubigt; er ist so fundamental, dass er einfach da ist und ihr Sein von Anfang an beherrscht: „Zum Hasse nicht, zur Liebe leb ich“, spricht sie an einer Stelle, ihre ganze Existenz der (über)menschlichen Aufgabe unterordnend: Dass ihr Bruder, der vom Herrscher persönlich als Kriegsdissident getötet wurde, nach dessen Willen unbeweint und unter offenem Himmel verwesen möge, kann und will sie nicht akzeptieren. Andererseits aber hat diese Inszenierung, insbesondere durch das Bühnenbild von Karin Brack, enge Bezüge zu einer Thematik, die tatsächlich als zeitlos und überhistorisch gültig bezeichnet wurde: die der menschlichen Vergänglichkeit, wie sie in fast allen Epochen der europäischen Kulturgeschichte zu finden ist, in der Zeit des Barock aber besondere Prominenz erlangt. So sind die konstant vom Bühnen-Firmament hinabregnenden trüben Seifenblasen ein solches vanitas-Symbol, ebenso wie der aus dem Boden aufsteigende Dampf und natürlich die Erde, mit der Antigone nicht nur ihren toten Bruder trotz des Verbots durch Kreon begräbt, sondern auch sich selbst und ihr wunderschönes blaues Kleid bedeckt und befleckt – ein mit Echoeffekten unterleger, höchst unheimlicher Klagegesang, mit dem sie symbolisch auch sich selbst beerdigt, ihren eigenen Tod antizipiert.

„Du sihst / wohin du sihst nur Eitelkeit auff Erden“, heißt es in Andreas Gryphius’ berühmtem Vergänglichkeitsgedicht Es ist alles eitell (1637). In diesem Sonett wird der „leichte Mensch“ explizit als „Wasserblaß“ (Seifenblase) bezeichnet, die aufgrund ihrer Fragilität nicht „bestehn“ kann, worauf die Klage folgt: „Ach! was ist alles diß / was wir vor köstlich achten! | Als schlechte Nichtigkeit? als Schatten / Staub Wind; | Als eine Wiesenblum / die man nicht widerfind“. Und in Gryphius’ Trauerspiel Leo Armenius finden sich die Verse „Sterbliche! was ist diß Leben | Als ein gantz vermischter Traum? | Diß was Fleiß und Schweiß uns geben. | Schwindet als der Wellen Schaum!“ – Kontrastierend zu dem so prominent in der Mitte von Bracks leerem Bühnenraum befindlichen Erdhaufen bilden sich im Verlauf des Abends kleine, glitzernde Schaumhügel, die nach und nach aus den ‚sterblichen Überresten‘ der geplatzten Seifenblasen entstehen. Ein sinnfälligeres Symbol für den Verlust von Träumen und des Vergehens von Zeit lässt sich schwerlich finden!

Der Bühnenraum bildet in Gotscheffs Inszenierung, ganz ähnlich wie im Barock, das sprichwörtliche ‚Welttheater‘ ab. Die Frontalität der Figuren, ihre geometrisch strukturierten Bewegungen und der dreidimensionale ‚Schauraum‘ verweisen auf das ins Vertikale gerichtete barocke Bühnenmodell. In diesem befindet sich oberhalb der sichtbaren Welt der Bühne die göttliche Sphäre – das Pneuma, Licht –, der Bühnenraum steht für das irdische Dasein und unterhalb dieser „Bretter, die Welt bedeuten“ (William Shakespeare) wird das Jenseits suggeriert, auf das auch Brechts Antigone-Text wieder und wieder hinweist. Der niedriger gelegene Zuschauerraum wird in Gotscheffs Inszenierung – auch dies höchst suggestiv –, wie die Unterbühne, mit dem Grab assoziiert. Dorthin geht Antigone ihren schweren Gang in den Tod, dorthin geht schließlich auch der sich mit ihr solidarisierende Königssohn Hämon (Thomas Niehaus); beide verlassen die Szene durch einen Ausgang im Parkett.

Den ästhetischen Verweisen auf die ewige Wiederkehr des Todes und die Omnipräsenz der Vergänglichkeitsthematik zum Trotz wird hier aber ein ganz konkreter Vorgang in Szene gesetzt und im Hier und Jetzt – an jedem Theaterabend wieder – durchgeführt: Die rituelle Bestattung eines Toten am helllichten Tag und die nachfolgende Verurteilung der ‚Täterin‘ zum schmachvollen, langsamen Tod. Antigone steht, als sie Kreons Todesurteil erhält, in äußerst provozierender Pose am vorderen Bühnenrand und blickt das Publikum frontal an, so als wollte sie zu jedem einzelnen der Zuschauer sagen: „Sieh her und schau mich an. Ich sterbe, weil Du nicht eingreifst, weil Du es geschehen lässt!“ Durch diese Adressierung des Publikums, das sich nach und nach als Schar passiver Mittäter fühlt, erhält Gotscheffs Inszenierung Brisanz und Aktualität. So dient auch der schöne Schein der theatralen Illusion mit seinen beruhigenden, kontinuierlich herabschwebenden Seifenblasen letztlich dazu, sich immer wieder schreckhaft bewusst zu werden, dass die Konzentration der Aufmerksamkeit auf diesen meditativen Theatereffekt ein Ablenkungsmanöver ist, dem man sich nur zu gern unterwirft, um die in diesem Stück behandelten politischen Dimensionen nicht sehen zu müssen.


Prof. Dr. Claudia Benthien