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Letter of Intent

 

Der Fremde
Bühnenfassung Thalia Theater Hamburg

Jette Steckel und Katrin Sadlowski (die eine Magisterarbeit über Camus’ Theorie des Absurden verfasst hat) haben den Roman für die Bühne als eine Art Nahtoderlebnis konzipiert. Zu Beginn fällt der Schuss und in diesem Moment spielt sich der gesamte Roman im Kopf des Täters ab. Drei Schauspieler und eine Schauspielerin verfolgen sozusagen die Denkwege (oder den „Film“), die sich in dem Augenblick, in dem die Kugel in der Luft ist, abspielen. Der Text wurde deshalb auf eine assoziative nicht chronologische Weise kompiliert, die der eigentümlichen Logik des assoziativen Denkens oder Träumens nachempfunden ist. Gibt es in dem Roman zwei Erzählungen, in zwei Teilen, so werden im Bühnenmanuskript die beiden Erzählungen in jeder Szene direkt miteinander kombiniert und aufeinander bezogen. Das spiegelt einen intensiven Denkvollzug in absoluter Gleichzeitigkeit wider, so wie er von Menschen, die ein Nahtoderlebnis hatten, berichtet wird und führt gleichzeitig zu ungewöhnlichen und überraschenden Dialogen und einer Aufwertung der Positionen der anderen im Roman vorkommenden Personen. An die Stelle der einfachen Romanstruktur, in der ein großer Teil B einem großen Teil A folgt, entsteht so ein permanentes Changieren zwischen beiden Teilen: b a /b a/ b a/b... . Diese anspruchsvolle Art, den Aufführungstext zu strukturieren, machen es vielleicht möglich, die teils trivial, teils sentimental wirkenden Vorgänge spannungsvoll und nachvollziehbar und auch in den Brüchen genau zu inszenieren, so dass sie sich wechselseitig durchdringen. Die Gedanken des Protagonisten angesichts des unmittelbar bevor stehenden Endes könnten dadurch dynamisch und evident werden, ohne platt oder berechenbar zu sein.

Auf der Bühne fügt sich das Leben eines Menschen zusammen, der den Tod in Kauf nimmt, für ein auch von ihm als sinnlos empfundenes Verbrechen, das er aber nicht bereuen kann und will. Er fühlt keine Reue sondern „Verdruss“. Sein Ethos gilt nach Camus der Wahrhaftigkeit. Meursault macht die selbstverständlichen Lügen und Konventionen, die man von ihm erwartet, nicht mit. Insofern stirbt er, „völlig unheroisch für die Wahrheit“ und ist für Camus – wie ironisch auch immer – eine Art Christusfigur. Meursault ist aber weder ein Revolutionär noch ein genereller Feind der Gesellschaft, er möchte ganz normal leben, aber seinen Eigensinn nicht zu Gunsten unglaubwürdig gewordener Konventionen unterdrücken, er versucht etwas vielleicht Unmögliches: zu sagen, was er wirklich denkt. Und er geht davon aus, dass sich sein Denken nicht sehr von dem anderer Menschen unterscheidet. Das wirkt auf die einen erotisch (Marie), auf die andern bedrohlich (Richter, Anwalt, Priester...). Sein Bericht konstruiert eine scheinbar unmittelbare, unzensierte Denkbewegung, die dem Antihelden und auch dem Zuschauer (sogar heute noch) einen anderen (intimen) Bick auf die Sub-Realität unseres strukturell endlichen Lebens werfen lässt. Selbst wenn heute der pure Wahrhaftigkeitsanspruch Meursaults auch schon wieder wie eine Masche oder ein Script erscheint, als eine neue Konvention, die die alte ablöst.

Niemand kommt lebend aus dem ausbruchsichersten Gefängnis, das es gibt: die Welt. Und jeden, der in dieser Welt lebt, erwartet, unabhängig von seiner Schuld, am Ende die Todesstrafe. Diese unüberwindbare Einsicht ermöglicht Handeln ohne Strategie, weil keine Strategie etwas daran ändern kann. So entsteht ein profanes Ritual der willkürlichen Alltäglichkeit, auf einer ständig kreisenden sonnenhaften Drehbühne (von Florian Lösche), das uns Camus’ Gegensatzdenken, die Gleichzeitigkeit von Glück und Tragödie als Option gegenwärtig macht. Die Anwesenheit von vier Darstellern, die alle zwischen Meursault und den anderen Personen changieren, entspricht in etwa der Tagebuchnotiz von Camus: „Meursault baut sich aus drei Gestalten auf: zwei Männer (einer davon bin ich) und eine Frau.“ Man könnte die vier Personen auf der Bühne auch so charakterisieren, wie Camus die Narren im König Lear: „Vier verwirrte Körper, vier unaussprechliche Gesichter einer und derselben conditio.“ Mit diesem Stück von Shakespeare hat „Der Fremde“ überdies die zentrale paradoxe Themenstellung gemein: Wer sagt, dass er seinen Vater nicht mehr liebt als es der Anstand gebietet (Lear), wer es nicht für erklärungsbedürftig hält, wenn er bei der Beerdigung seiner Mutter nicht geweint hat (Der Fremde) – muss mit Enterbung (bei Shakespeare) oder mit der Todesstrafe (bei Camus) rechnen.

Carl Hegemann - Anfang September 2011 an die Rechteinhaber


Carl Hegemann