Was ist eigentlich ein multi-musikalischer Integrations-Diskurs und wie funktioniert der und was gibt es Neues aus der Produktion?

Probentagebuch "Integrier mich, Baby!"

 

Es gibt zwei Bilder, die sich für die Beschreibung dessen anbieten, was hier seit drei Wochen passiert:

1.Das Boot

Alle sitzen drin; es drängen sich Sentenzen auf wie „Wir sitzen alle im selben Boot.“ Und man fragt sich, wer sind ‚Wir‘? Die Menschheit, der Westen, …? Aber weil das doch sehr abgedroschen ist und den „Wenig-originell“-Abwehrreflex hervorruft, wende ich mich doch lieber gleich zu

2.Die WG (Ist eigentlich ein Selbstläufer)

Was allen Wohngemeinschaften gemeinsam ist: Man muss irgendwie miteinander, kann aber aus dieser Not natürlich auch eine Tugend machen. Hier aber handelt es sich um einen Spezialfall: Kulturkreise treffen aufeinander, Sprachen vermengen sich solange, bis vermutlich irgendwas herauskommt, das der Idee von Esperanto recht nahe ist, Völkerverständigung im Kleinen. Man trinkt und isst gemeinsam – und, ja… damit ist die Essenz schon erfasst. Die Bewohner der „Integrier mich, Baby!“-WG halten sich nämlich vorwiegend in der Küche auf, zwischendurch und immer wieder werden unterschiedlichste Weisheiten feilgeboten (türkische Sprichwörter von Ali etwa: „Das deutsche Wetter ist wie die Frauen hier: beiden kann man nicht vertrauen“). Und natürlich wird selbstlos geteilt, wie es sich in einer vernünftigen WG gehört: gegen das Rezept von Tiroler Knödeln aus der Heimat Marinas, gibt es den kolumbianischen Cumbia-Tanz von Rosmery, selbstverständlich gemeinschaftlich getanzt; Grüne Soße (aus dem Hessischen, von Christoph), Musik (deutsch, türkisch, deutsch-türkisch, kolumbianisch, christlich-nigerianisch) und Zigaretten (global) werden ebenso gehandelt wie Sprachkurse und Gottesdienste (mit dem pastoralen David). Man singt und lacht und weint zusammen. Und ehe man es sich versieht, ist aus der WG eine Kommune geworden. Denn bisweilen geht es doch recht politisch zu: wenn etwa Marina entflammt und von der Frauenbewegung (damals wie heute) spricht oder von Kriegen die Rede ist. Oh, und Rituale und Traditionen gilt es aufrechtzuerhalten oder zumindest zu erinnern: David erzählt von der Fattening of the Maiden (eine Art dreiwöchige Mast der Braut vor der Hochzeit), wie es in Nigeria üblich ist, Ali von alevitischen Bräuchen und Rosmery vom sanguinischen kolumbianischen Wesen. Und Geschichten, immer wieder Geschichten. Von Glück und Leid, von Not, Flucht und Hoffnung, von Familie und Heimweh, Verzweiflung und Liebe. Pausenlos reist man, indem man lauscht und manchmal selbst erzählt. Von einem Ende der Welt zum anderen. Von Leben zu Leben. Solange, bis man überall war, um schließlich nirgendwo zu sein. Wer sich danach fragt: „Wer zum Henker bin denn dann eigentlich Ich?“, hat alles richtig und vielleicht schon einige Schritte auf dem Weg zur eigenen Identität gemacht.


Ron Mieczkowski