Von den Rhodopen in den Goldenen Käfig - Gotscheffs „frühe Jahre“

Ansprache anlässlich der Verleihung des Theaterpreis Berlin der Stiftung Preußische Seehandlung an die Gotscheff-Familie am 8. Mai 2011

Lieber Mitko,

über deine so genannten „frühen Jahre“ erzählen zu sollen – das klingt nach Theateranekdotik und Erinnerungsseligkeit älterer Herrschaften, also nach Verzichtbarkeiten. Dennoch: ohne Geschichte keine Gegenwart, dafür stehst du mit Deiner ganzen Künstlerexistenz.
Als Du vor über 25 Jahren nach Köln gereist bist, kam kein junger Mensch, sondern ein erwachsener Mann von 42 Jahren, jemand, der schon eine Biographie hatte und nicht erst eine schreiben wollte: Ein Mann, der in der Nähe des bergigen Grenzgebiets zwischen Bulgarien und Griechenland groß geworden war, ein Mann, der die Archaik abendländischer Mythen aufgesogen hatte, ein Mann, der in den Sechziger Jahren in die Fußstapfen seines Vaters treten und Veterinärmedizin studieren sollte, ein Mann, der stattdessen lieber in Ost-Berlin bei Benno Besson und Fritz Marquardt auf dunklen Probebühnen herumgelungert hatte, Büchner ins Bulgarische übersetzt hatte, die Nähe zu Heiner Müller gesucht hatte und schließlich in die bulgarische Heimat zurückgekehrt war.

„Quartett“ in Köln
Als Du dann später nach Köln kamst, war das keine Liebesheirat mit der bundesdeutschen Wirklichkeit, im Gegenteil. Du hast das an seiner eigenen Überheblichkeit erstickende Sendungsbewusstsein des Westens gespürt und liefst durch die Straßen wie ein gewaltsam entführter und widerrechtlich ans Licht gezerrter Grottenolm,- sich schützend: mit Whiskey und Wodka, einer schon damals imposanten Haargardine und (infolge von Magengeschwüren) oft tief gebeugtem Gang – ein Mensch, der überall sein wollte, nur nicht hier. Dabei hatte Dir der westliche Kulturbetrieb – vermittelt durch den Türöffner Heiner Müller – wahrlich den roten Teppich ausgerollt.

Deine erste Westinszenierung – Heiner Müllers „Quartett“ im Jahr 1985 – schlug ein wie ein Meteor. Deine Theatersprache war faszinierend, fremd, schwer lesbar. Hier formten sich Körper in einer Gipslandschaft zum Schrei, wie wir es nicht kannten: weder vom West- noch vom Ost-Theater, Brecht traf Artaud, das Gesellschaftliche den Schmerz des Individuums. Alle waren tief beeindruckt - außer Dir. Du fühltest Dich, so sagtest du, „wie ein Tier im Goldenen Käfig des Westens“ –möglicherweise kaum mehr als der dernier crie einer übersättigten Kulturgesellschaft, die einen neuen Affen am Ring durch die Manege führen wollte. Du verfielst in Schreckstarre, hast die „Kulturkakerlaken“, wie Du sie nanntest, vorüberziehen lassen und den wechselnden Markt der Moden auch…

DDR-Theater in der BRD
Trotzdem wäre es ungerecht, lieber Mitko, dem Publikum und den zahlreich angereisten Theaterintendanten nur Sensationsheischerei und Exotismus vorzuwerfen – nein, es war tatsächlich so, dass dem westlichen Theater Wesentliches fehlte. Es spürte, dass hier etwas anderes kam, etwas, das über reine Phänomenologie, über Nacherzählen, Psychologie und Wirklichkeitsdarstellung hinausging. Nicht dass Du Dich nicht für die Wirklichkeit interessiertest, aber du suchtest sie anders: Der Maler sucht sie über die Farbe und über den Pinselstrich, der Musiker über Klänge, der Theaterregisseur Gotscheff über Körper, Sprache, Raum. Kurz: Über die Autonomie einer Kunst, die nicht nur zeichnen, sondern auch bezeichnen will.

Die Achtziger Jahre waren eine Zeit, in der der Theaterbetrieb im deutsch-deutschen Kulturaustausch den Mauerfall quasi vorwegnahm. Viele DDR-Regisseure inszenierten im Westen: Manfred Karge und Matthias Langhoff, Achim Freyer, Thomas Langhoff, B.K. Tragelehn, Fritz Marquardt, Jürgen Gosch und andere. In Köln war damals der Intendant Klaus Pierwoß neu angetreten, und schuf mit Manfred Karge, Brigitte Soubeyran, Piet Drescher und Rolf Winkelgrund in seiner ersten Spielzeit gleich vier (!) Regisseuren aus dem Osten ein Forum. Und er holte als Notnagel in einer Nacht- und Nebelaktion Dimiter Gotscheff, der sich als Glücksfall erwies. Nach Deinem Westdebüt kamen ein Jahr später nur noch Einar Schleef, den Günther Rühle nach Frankfurt einlud („Mütter“,1986) und Frank Castorf, den – abermals Klaus Pierwoß – zu seiner ersten Inszenierung im Westen verführte („Hamlet“,1989). Wenige Monate später war die Mauer dann endgültig weg... All das ist längst Geschichte und auch Theatergeschichte…

Gotscheffs Schauspielerfamilie
Wie aber kann für einen durch Zufall weggespülten Fremden Heimat entstehen- im „Goldenen West-Käfig“? Durch Literatur: Durch „Deine“ Autoren Heiner Müller, Anton Tschechow, Georg Büchner, Bernard-Marie Koltes und natürlich durch den Bezug zur Antike. Aber Du brauchtest auch Stimmen, Körper, Räume. Diese Heimat musstest Du Dir erst langsam aufbauen. Mit Deinen Schauspielern. Mit einer „Familie“. Die es erstmal nicht gab.
Eine der ersten war Almut Zilcher, die später Deine Frau wurde, als Orsina in „Emilia Galotti“, in „Fräulein Julie“, als Marie im „Woyzeck“. Und dann war da noch jemand, mit dem Du seit damals viele Arbeiten gemacht hast – er fehlt heute. Er hat den Jean gespielt, den Woyzeck und in letzter Zeit am Hamburger Thalia-Theater König Ödipus und den Kreon in der „Antigone“. Wir sind froh, dass er den lebensgefährlichen Bühnenunfall überlebt hat. Gestern erhielt ich Nachricht, dass er vermutlich über den Berg sei. Dir, lieber Bernd Grawert rufe ich im Namen aller Anwesenden gute Genesungswünsche zu!- Schließlich ist von Samuel Finzi zu reden, der seit Anfang der Neunziger Jahre in allen wesentlichen Inszenierungen mit dabei war, als Gotscheff nicht mehr in Köln, sondern rheinabwärts bei Volker Canaris in Düsseldorf inszenierte.

So bildete sich langsam über die Kölner und Düsseldorfer Jahre ein erheblicher Teil der „Gotscheff-Familie“, die zurecht den Preis bekommt, denn ohne sie wäre Gotscheff viel weniger. Gotscheffs Heimat ist die Probe, seine Schauspieler, das gemeinsame Schweigen und das gemeinsame „Dichten“, wie er es nennt. Viele der besten Regieideen stammen nicht von ihm, sondern von seinen Schauspielern. So wurde z.B. der Mord von Woyzeck an Marie in einen Exzess der Körper überführt. Almut Zilcher und Bernd Grawert klappten ineinandergeschlungen ungezählte Male wie ein Messer auf und zu, bis Marie tot war – eine atemberaubende Übersetzung für das „blutig Eisen“, die soweit ich mich entsinne Samuel Finzi vorgeschlagen hat. Finzi konnte kaum deutsch, aber er war ein Motor für Gotscheff: etwa in der Doppelbesetzung der Artistin Carlotta und des alten Firs im „Kirschgarten“. Finzi radebrechte damals kaum mehr als das Wort: „Kierrrschen“ und aß sie aus einem Einmachglas auf – ein schlagendes Bild für die verzuckerte Kirschgartengesellschaft: der ganze Abend, gefangen in einem einzigen Bild.

Gotscheffs Kern
Es ließe sich von vielem Erzählen, von Gotscheffs Scheitern (auch an Schauspielern), von der Ignoranz der damaligen Berliner Großkritik (von Henning Rischbieter einmal abgesehen), vor allem aber von besonderen Aufführungen, die allesamt Unvereinbares zusammen denken wollen: das Formale und den Schrei der Körper, die Empathie für die Existenz und den bösen Blick auf die groteske Idiotie des Menschen, das Gesellschaftliche und das Ontologische, Brecht und Artaud, die Freiheit des Schauspielers und seine Dressur, den Wirklichkeitsbezug und die Autonomie der Kunst. Ganz zu sich selbst kommen seine Abende meist dann, wenn er seiner Familie den Raum lässt, freundschaftlich Widerstand gegen seine Regie zu leisten – das waren schon in den frühen Kölner und Düsseldorfer Jahren meist die besten Aufführungen. Er braucht von irgendeiner Seite den Befreiungsschlag. Er kann auch von der Musik kommen, wie im bereits erwähnten Düsseldorfer „Woyzeck“, in der Hamburger Aufführung von „Germania III“ oder in der Burgtheateraufführung des „Leutnant von Insihmore“.

Ich komme zum Schluß: Gotscheffs Heimat ist die Probe, die Arbeit mit Schauspielern. Und doch gibt es noch etwas anderes: Dieses andere ist ein unverrückbarer Kern, der sich der gegenwartsversessenen Augenblickskultur des Theaters widersetzt und darauf besteht, dass Theater jenseits aller Moden und Trends a u c h Erinnerungskultur ist, Menschheitsgeschichte, Archaik, Ritual. Ich wiederhole mich: Ohne Geschichte keine Gegenwart. Dies spüren alle, die mit ihm arbeiten.

Humus und Heimat, tiefste Prägung und Nährboden der Existenz ist ihm seine Biographie, seine Herkunft. Und so möchte ich noch kurz auf eine seiner ganz besonderen Aufführung hinweisen, auf Gotscheffs „Die vom Himmel Vergessenen“. Ein Abend, der auf der Basis von ethnologischem Material von über Hundertjährigen erzählte, die in den bulgarischen Rhodopen leben, im Grenzgebiet von Orient und Okzident, von Himmel und Erde, gespielt von jungen Schauspielern in Düsseldorf, Erzählungen von Menschen, die im Zwischenbereich von Leben und Tod, seit Jahrzehnten blind, mehr mit den Vorfahren als mit den Enkeln leben – ein ästhetisches und politisches Gegenprogramm zu den Einkaufspalästen nicht nur in Düsseldorf…

Gotscheff erzählte einmal von seiner Kindheit: „Drei Kilometer von Parmovai entfernt fließt die Marica. Orpheus soll in den Rhodopen gesungen haben. Es heißt, die Mänaden hätten ihn getötet und seinen Kopf in die Marica geworfen. Der Kopf von Orpheus soll nicht aufgehört haben zu singen, während er Richtung Lesbos trieb. Jedes Wochenende ging mein Großvater mit mir zur Marica. Wir wuschen uns im Fluss. Das taten alle, Frauen und Männer getrennt, denn die Wasserversorgung war katastrophal, es gab keine Duschen. Ich genoß die Fürsorge meines Großvaters, er seifte meinen Körper ein mit warmen Händen." Ich mache einen Sprung in die Gegenwart: Gerade hat Gotscheff in Paris jemandem getroffen, für den die Erzählung von Heimat, vom Verlöschen von Biographien, von übergeordneten Bedeutungsräumen ebenfalls eine große Rolle spielt: ich spreche von Peter Handke. Zwischen den bulgarischen Rhodopen und den Apfelwiesen des kärntnisch-slowenischen Jaunfeld scheint sich etwas zu spannen, eine unterdrückte europäische Erzählung von den Rändern und von Vernichtung, wie sie in den Sechziger Jahren bereits Pasolini in seinen „Freibeuterschriften“ begann. „Immer noch Sturm“ heißt Handkes Stück, das Gotscheff für das Thalia Theater bei den Salzburger Festspielen inszeniert. Dort heißt es am Schluß: „Vor nicht langer Zeit war ich in einem ehemaligen Goldgräberdorf in Alaska. Jetzt ist das ein Touristenort, dichtbevölkert taglang von den Besuchern aus der ganzen Welt. In dem Massengeschiebe ein paar Ureinwohner, oder Angestammte, in dem Fall Indianer, vom Stamm der Athabasken. Die sind auch daran zu erkennen, dass sie sich nicht bewegen, sondern sitzen, hocken, kauern, und zwar auf dem bloßen Erdboden, und zwar ein jeder der paar Übriggebliebenen fürs sich, weit weg vom jeweils andern, und nur von Zeit zu Zeit stehen die paar, wie auf ein gemeinsames Zeichen auf, und winken einander von ferne, über die Touristenköpfe hinweg, kurz zu:
He, ich bin noch da! -
Und ich auch! -
Und ich auch!, und dann hocken sie sich wieder hin.“

Rhodopen – Jaunfeld – Alaska - der nimmer endende Sturm der Geschichte, wie ihn König Lear auf der Heide erlebt, interessiert Gotscheff immer noch mehr als der Parcour von Mode und Zeitgeist. Mehr als der „Goldene Käfig“, der der Westen vermutlich immer noch für ihn ist, auch wenn er sich längst ins Weltumspannend-Unendliche gedehnt hat. Die Regiegeneration, die dies mit ihm vertrat, ist verstummt oder gestorben. Nach dem Tod von Einar Schleef und Jürgen Gosch ist er einer der letzten, die noch da sind. Veterinärmediziner der Kreatur, wie sein Vater, zwischen Empathie und Nihilismus. Die Bitterkeit des Naturwissenschaftlers Büchner ist auch die seine: „Die Fische sterben… und die Götter erfreuen sich am Farbenspiel ihres Todeskampfes. „ Was ihn hält, ist die Lebendigkeit seiner Schauspieler. Stellvertretend für andere sind dies: Almut Zilcher, Samuel Finzi und – seit Gotscheffs späterer Zeit in der Angst-Haß-Liebe-Stadt Berlin – auch Wolfram Koch.


Joachim Lux