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Nine Eleven - Ein Thema für die Gaußstraße?

Die Bearbeitung von Sandra Strunz ist eine der ersten theatralen Auseinandersetzungen mit dem 11. September 2001. Sie hat den 2007 erschienenen Roman „Falling Man“ von Don De Lillo nun für die Bühne eingerichtet und lässt ihre Protagonisten überwiegend wortgetreuen Roman-Text sprechen. Die Figuren sprechen über und mit sich selbst, wechseln bisweilen auch mal die Rollen, reden scheinbar mit- und doch aneinander vorbei, auch übereinander, sind irgendwie ge- und verstört. Weshalb?

Die Erschütterung, das unbegreifliche Geschehen, der absolute Schrecken, bleibt draußen vor der Tür. Das Stück ist, allein schon durch die vorgegebene Spielstätte, ein Kammer-Spiel. Keith, die Hauptfigur, soeben einem der Türme des World Trade Centers entronnen, taucht zu Beginn aus dem Dunkel vor der Bühne auf, durchstößt mit dem Kopf eine weiße quer über die Bühne gespannte Plastikplane und zieht sie dann mit sich in den Innenraum, die Wohnung seiner Ex-Frau. Diese, Lianne, lebt dort schon seit Jahren allein mit dem gemeinsamen Sohn Julian. Nach dem Suizid ihres an Alzheimer erkrankten Vaters hat sie einen Patienten-Gesprächskreis gegründet und fürchtet sich zugleich selbst vor einer entsprechenden Diagnose, während umgekehrt ihr Ex-Mann sein soeben erlittenes Trauma erst einmal vergessen will und muss. Dann ist da noch Liannes Mutter Nina, eine emeritierte Kunstprofessorin, die ihren Schwiegersohn noch nie leiden konnte und deren Lover einst zum Umfeld der deutschen Terroristenszene gehörte. Sie glaubt nicht an irgendwelche Auswirkungen dieses Attentats, während ihre Tochter Lianne noch in einem Stillleben von Morandi die beiden Türme zu sehen glaubt. Der 10-jährige Justin tobt im Indianerkostüm auf die Bühne, trägt im Stakkato Terroristenideologie vor und Keiths schräge Pokerrunde gibt einen Kurzauftritt als Rückblende. Diese öde und deshalb zugleich ihn stabilisierende einzige Regelmäßigkeit seines Lebens kann künftig nicht mehr stattfinden, da zwei ihrer Mitglieder bei den Terroranschlägen umgekommen sind.

Auf der Bühne wird, nach etwas schleppendem Beginn, einiger Aktivismus geboten, zumal die Personen ihre von Beginn an nicht vorhandenen Persönlichkeiten irgendwie beschäftigen müssen. Im Hintergrund führen sechs Leitern nach oben, auf denen die Akteure immer wieder mal hinauf- und hinabklettern. Vor allem Rumsey, der von Keith zu Anfang stets erneut aus der Szene katapultiert wird, und der, gleich einem untoten Forrest Gump, mit einem Zählzwang behaftet (immer nur bis 10!), durch das Stück geistert, ist, wie sich am Ende herausstellt, der im Turm umgekommene Arbeitskollege Keiths, an den zu erinnern sich Keiths Gehirn lange Zeit geweigert hatte. Zwischendurch wird grauer Staub aufgewirbelt, (nach Eintritt auf die Szene hatte Keith als erstes Asche auf sein Haupt gestreut), geredet wird über dies und das, und man kann wohl sagen und sehr deutlich erkennen, dass die schon vor Jahren zerrüttete Familie selbst durch einen unfassbaren Gewaltakt draußen vor der Tür in ihrem Kern nicht wieder zusammenfindet. Bleibt die Binsenweisheit, dass jeder für sich allein lebt und stirbt? Am Ende sind die Leitern an der Rückwand verschwunden, Keith steckt von innen den Kopf durch die Plane, die er nun wieder nach vorn zieht und dorthin zurückhängt, wo er sie zu Beginn entfernt hatte.

Ob Zuschauer, die das Buch nicht kennen, immer verstehen, worum es hier geht, lässt sich schwer beurteilen. Aber selbst wenn, bleibt immer noch die Frage: wozu? Was hat die Bühnenbearbeitung mit dem Roman, was hat dieser, was hat darüber hinaus der Terror-Anschlag des 11. September 2001 zehn Jahre später mit uns zu tun?

Sandra Strunz, so heißt es, lasse sich gerne durch Prosa-Vorlagen inspirieren. In diesem besonderen Fall liegt hinter dem Roman „Falling Man“, einer Fiktion also, die zweite Schicht eines tatsächlichen, konkreten und welterschütternden Ereignisses, auf dass der New Yorker Autor Don de Lillo mit den Mitteln seiner Kunst, der Prosa, reagiert hat. Vor allem die amerikanischen Fans hatten sich viel erwartet von seiner Bearbeitung des Themas „Nine Eleven“ und waren, trotz mancher Erschütterung, nach der Lektüre eher enttäuscht. Mussten sie dies nicht auch sein, angesichts eines so schwer fassbaren Themas?

Was Strunz veranlasst hat, ausgerechnet den „Falling Man“ als Vorlage für ihr Theaterstück zu nehmen, kann man nicht wissen. Warum sie die Wirkung des Romans, der mit Sicherheit weder auf das Groteske noch allein auf die Zerstörung der Familie abzielt, durch ihre Interpretation konterkariert, bleibt unklar.

Die Stadt New York spielt im Roman naturgemäß ebenso eine Rolle wie auch die Attentäter aus der Marienstraße (bei Strunz komplett gestrichen) und viele andere Personen, Ein- und Anwohner Manhattans, die irgendwie auf ein Attentat reagieren müssen, mit dem in der amerikanischen Bevölkerung seit Pearl Harbour wohl niemand mehr gerechnet hatte. Namensgeber des Romans (hier bereits eine Verfremdung, da es sich ursprünglich um die Bezeichnung eines berühmt gewordenen Fotos von Richard Drew handelt) ist bei DeLillo ein Aktionskünstler, der sich an verschiedenen Schauplätzen Manhattans von unsichtbaren Seilen gehalten immer wieder in die Tiefe stürzt, bevor er drei Jahre nach dem Anschlag an einem Herzleiden stirbt.

Im Show Down des letzten Kapitels, schlicht „In the Hudson Corridor“ betitelt, vereint der Autor schließlich seine Hauptfigur mit dem Attentäter, der im Passagierraum sitzend in den Nordturm hinein geflogen wird, wo soeben Keith, neben Rumsey sitzend, seiner Arbeit nachgeht.

Verblüffend bleibt die Tatsache, dass trotz des Originaltextes Strunz tatsächlich einen anderen Stoff erzählt hat. Ein Kunststück an sich?

Verstehen wir die Inszenierung doch als Anstoß für eigene Gedanken zum 10-jährigen Erinnern am 11.09.2011. Auf die häufig gestellte Frage: Wo warst du damals? folgt im Zuge der Zeit die Frage nach dem „Was war das damals“ im Sinne eines Versuchs, Unbegreifliches zu begreifen und der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen damals und heute.

Was könnte , was sollte das bedeutende Werk über Nine Eleven sein, auf das in den USA bis heute noch gewartet wird?

Die bisherigen künstlerischen Versuche sind auch 10 Jahre nach dem Anschlag überschaubar. Da gibt es den Roman von Jonathan Safran Foer „Extrem laut und unglaublich nah“, in dem ein altersweiser kleiner Junge versucht, den Tod seines am 11. September pulverisierten Vaters zu verarbeiten.

Es gibt das Foto von Richard Drew, Falling Man betitelt, dass einen von den Bürotürmen herabstürzenden Büroangestellten zeigt. Viele New Yorker empfanden seinerzeit dieses Bild als obszön, während De Lillo die Bezeichnung Falling Man für seine fiktive Figur, den Aktionskünstler David Janiak, verwendet . Der Mann wird immer wieder von der Polizei verhaftet, macht aber unentwegt weiter und beabsichtigt im Grunde, eines Tages ohne Halteseile zu springen, verstirbt zuvor aber eines „natürlichen“ Todes.

Nur einmal verhaftet (und zwar real) wurde Philippe Petit, ein realer „Aktionskünstler“, nachdem er auf wundersame Weise am 8. August 1974 zwischen den noch jungfräulichen Türmen ganz oben ein Seil spannte und achtmal hin und hergeeilt war. Seine Geschichte ist zu sehen im Dokumentarfilm von James March Man on Wire (2008).

Diesen ungewöhnlichen Vorgang wiederum nahm Column McCann zum Ausgangspunkt seines 2009 erschienenen Romans: Die große Welt, in dem von unterschiedlichen New Yorker Bewohnern erzählt wird, die an jenem Tag den Seiltänzer bei seiner spektakulären Aktion beobachtet haben. Die berührenden Geschichten aus der Zeit des Anfangs jener Türme, die weniger als dreißig Jahre später am Mittag eines wunderbaren Septembertages in sich zusammenstürzen werden, wurden von vielen Amerikanern als bester Roman über Nine Eleven verstanden. McCann selbst allerdings äußerte die Ansicht, dass es noch weitere 10 Jahre brauchen wird, bevor es den großen Roman über Nine Eleven geben könne.

Der für seinen „Maus“-Cartoon berühmt-berüchtigte Art Spiegelman veröffentlichte 2004 einen Comic mit dem Titel: „In the shadow of no towers“. Stellvertretend für viele New Yorker Juden, deren Holocaust-Erinnerung auf grausame Art wieder sehr gegenwärtig wurde, konnte Spiegelman, wie er sagt, nun erst wirklich die Äußerung seines Großvaters verstehen, der Geruch der Asche von Auschwitz sei unbeschreiblich gewesen. Unbeschreiblich, so Spiegelman, war der Aschegeruch auch des 11. September.

Der Aschestaub, auch bei Foer ein hervorstechendes und sehr konkretes Sinnbild, ist, zumindest visuell, gegenwärtig in der Dokumentation der Brüder Jules und Gédéon Naudet, dem einzigen Film, der das Ereignis sozusagen „life“ begleitet hat. Wie realistisch aber kann ein noch so wirklichkeitsnaher Mitschnitt sein? (Wir erinnern uns an die nach dem Irakkrieg 2001 neubelebte Debatte unter Kulturtheoretikern über Wahrheit und Simulation.)

Wie real ist die Wirklichkeit? Wie fassbar das Unfassbare? Nine-Eleven, Tsunami, Fukushima?

Gerhard Richter hat, als bildender Künstler, mit seiner Technik des Übermalens (zur Zeit im Hubertus-Wald-Forum und Bucerius Kunst Forum zu sehen) eine probate Methode entwickelt, das scheinbar Eindeutige der Fotografie immer als ein Unscharfes, Vorläufiges und Vages zu entlarven.

In seinem – aus dem New Yorker MoMa entliehenen - jetzt in Hamburg gezeigten Zyklus über die RAF zerstört Richter mit seiner Unschärfe-Technik jede Eindeutigkeit –selbst und gerade auch eine über Terroristen. (Eine Studie zu Stammheim hat er gar seitenweise eingeschwärzt).

Was in der Bildenden Kunst die Übermalung, mag in der Literatur zum einen Verbergung durch die Wahl der Sprachmittel, eine Veränderung der zeitlichen Bezüge oder auch gleich die komplette Aussparung sein.

Letzteres gilt für einen Roman, der möglicherweise bis heute noch nicht die ihm zustehende Wertschätzung gefunden hat. Es handelt sich um Paul Austers Brooklyn Revue von 2006, wo der Autor zu einem für ihn ungewöhnlichen erzählerischen Mittel greift: er erzählt zum Teil banale, bisweilen leicht verrückte, in jedem Fall aber eher leichte und heitere Geschichten über einzelne Bewohner Brooklyns. Dem Stadtteil, in dem Auster selbst wohnt und der Manhattan direkt gegenüberliegt. Schon wenige Stunden nach dem Attentat gab er die ersten Interviews. Wiederum war es diese humanoide Aschewolke, die, neben der Abwesenheit der Türme, die Wahrnehmung am stärksten erschüttert hat, als sie, zur großen Wolke aufgestiegen, nach Brooklyn hinüberzog.

So mancher hat sich während der Romanlektüre gefragt, was diese verrückten Brooklyn-Geschichten eigentlich sollen und den Schluß empfanden viele Leser und Kritiker als gesucht und aufgesetzt.

Diese letzten beiden Seiten des Romans von Paul Auster könnten durchaus aber der Grund und die Erklärung für die vielen hundert Seiten davor sein. Der Autor braucht die fast geschwätzige Schilderung eines bei allen Querelen und Irritationen dennoch gesicherten Lebensalltags als Vorlauf für eben diesen einen strahlend blauen Septembermorgen, an dem der Protagonist, soeben dem Herztod entgangen, das Krankenhaus hinter sich lassend, mit einem tiefen Glücksgefühl die Straße betritt. Wie Auster das formuliert in seinem berührend trockenen Ton, wie knapp, bitter und hoffnungsvoll zugleich die letzten Zeilen sind, gehört vielleicht zum Eindrucksvollsten, was literarisch zu Nine Eleven bislang gesagt worden ist.

Zur theoretischen Beschäftigung mit der Auswirkung weltweiter Katastrophen auf die Empathiefähigkeit ist zu empfehlen das Buch von Henning Ritter: Nahes und Fernes Unglück. Versuch über das Mitleid, C.H. Beck 2004

Eva Bonacker ist freiberufliche Kulturwissenschaftlerin und Kommunikationstrainerin. Sie ist langjähriges Mitglied des Thalia-Freundeskreises und Inititatorin eines privaten Theatersalons.


Eva Bonacker