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„Sire, geben Sie Gedankenfreiheit.“

Schillers „Don Carlos“, kurz vor der Französischen Revolution in Hamburg uraufgeführt, verlegt den Widerstand gegen absolutistische Fürsten in Deutschland an den spanischen Hof im 16. Jahrhundert. Ein politischer Kunstgriff, wie er in der Weltliteratur immer wieder vorkommt, aber Schiller ging es um ein Fanal gegen Herrschaftsverhältnisse, Willkür und Zensur an deutschen Höfen. Der Geist der Freiheit regte sich. Das Stück ist deshalb zeitlos. Schillers Aufruf zählt nicht allein in Europa. Was anders fordern die Menschen ein in Tunis, Kairo, Bahrein, Libyen und im Jemen als: „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit.“ Ein hochaktuelles Stück also in diesen Wochen: Freiheit versus Staatsräson, wie diese sich versteht, „top down“! Zudem der Plan einer militärischen Intervention in fernen Provinzen durch eine große Macht, die über Leichen zu gehen bereit ist; auch das nicht frei von heutigen politischen Assoziationen, wie immer man dazu steht. Daneben (aus meiner Sicht: nur daneben!) Liebe und Eifersucht, Freundschaft und Treue, Vater und Sohn.

Man betritt das Thalia-Theater also aus mehreren Gründen besonders gespannt. Außerdem haben Hamburgerinnen und Hamburger meiner Generation ja den Don Carlos zum ersten Male vor bald 50 Jahren an der Kirchenallee gesehen, Gustaf Gründgens als Philipp II. in seiner letzten Rolle. Wie wird Jette Steckels Inszenierung, wie das Bühnenbild, wie die Darsteller dieser – im Zeitpunkt der Vorbereitung des Spielplans und während der Probenarbeit nicht vorhersehbaren - weltpolitischen Aktualität gerecht? Inszeniert Jette Steckel Schiller oder im Sinne des Regietheaters „nach“ Schiller? Die Wahrheit liegt auf der Bühne. Sie spricht eine eindeutige Sprache. Eine wunderbare Inszenierung! Eigenständig, aber man kann Schiller „wiedererkennen“. Nach dreieinhalb Stunden mochte ich kaum eine Minute missen, sieht man von einigen wenigen Längen ab. Das Publikum, vermutlich viele Abonnenten darunter, jubelte; ein eindeutiges Zeichen.

In kühler Schlichtheit ganz wunderbar Florian Lösches Bühne. Schmale hohe schwarze Felder bilden klar gegliederte Wände, in vielerlei Richtungen beweglich, die sich zu immer neuen Räu-men fügen – schwer durchschaubare Strukturen am Hofe der spanischen Großmacht König Phi-lipps. Die Bühne als Symbol für Verwicklungen und Verflechtungen von Macht und Menschen. Jette Steckels Inszenierung setzt programmatisch mit einem brandaktuellen, sicher weltweit in den Hauptstädten zähneknirschend kontroversen Zitat von Julian Assange ein. Im Laufe der Aufführung lässt sie sich hingegen immer stärker von der emotionalen Seite des Schiller´schen Dramas einfangen, von Liebe und Eifersucht in der komplexen Vierer-Beziehung zwischen König, Prinz, Königin und Eboli - deutlich stärker als von dem Freundschaftsthema zwischen dem Infanten und Marquis Posa. Von den aufständischen niederländischen Provinzen zurückkehrend sucht Posa den dortigen Aufstand für Freiheit und Menschenrechte seinem Jugendfreund Carlos noch in Aranjuez nahe zu bringen. Doch verliert sich der Kronprinz in dieser Inszenierung ich-bezogen, welt- und pflichtvergessen allein in die Leiden des aussichtslos Liebenden. Spiegelbild-lich treten die aufklärerischen Ideale Posas im Laufe der Aufführung in den Hintergrund. Liebe, Leid und Eifersucht gewinnen die Oberhand über das Freiheitsfanal – dieser Schwerpunkt vielleicht eine Generationenfrage?

Jens Harzer gibt den Aufklärer und Revolutionär, der im Zentrum der Macht zum Intriganten wird, alles wagend, alles verlierend, den König und den Freund manipulierend, die Sache der Freiheit in den Abgrund reißend. Herausfordernd lässig tritt er auf. Seiner schleppenden Sprech-weise gelingt es, Schillers Verse dem heutigen Alltag anzupassen. Harzer deklamiert nicht, und das ist gewollt. In Stimme und Artikulation erinnert er an den jungen unverschämten, nicht selten zynischen Hanns Lothar auf derselben Bühne, den er nicht im Ohr haben kann. Mit diesen Mitteln, er als einziger inmitten des wunderbaren Ensembles, setzt er das Signal: Mit mir zieht die neue Zeit. Der Jubel dankt es ihm. Mirco Kreibich als Don Carlos hat eine ungemeine Bühnenpräsenz und darf brillieren - in der von der Regie gewünschten Anlage der Rolle. Das klingt wie eine Einschränkung und ist es auch, ohne dass sie ihm gelten soll. Denn in dieser Anlage der Rolle wird Don Carlos zur ebenso verliebten wie selbstverliebten fast schon störenden Nebenfigur des Stücks, unreif, nicht erwachsen, gefährlich für sich und seine Umwelt, Ernst und Chance der Aufgabe und des großen Augenblicks nicht erkennend, daran gar nicht interessiert. König Philipp verweigert ihm also Reich, Heer und niederländische Provinzen. Welcher Zuschauer würde in dieser Inszenierung anders entscheiden? Ob eine solche Identifikation im Publikum Schillers Hoffnungen trifft? Hans Kremer ist Philipp II., der Staat und Räson, wie er sie sieht, allem anderen voranstellt, auch der Vaterpflicht, um wie viel mehr dem Vaterherzen. Streng gegen sich und andere in gefasster Würde dient der Herrscher seinem traditionellen Verständnis von Thron und Reich als Teil einer langen historischen Kette, in der er seinen Sohn nicht anerkennen kann und will. Nicht auf die Menschen, nicht auf Freiheit und Rechte kommt es ihm an, nicht auf die Schonung, Förderung seiner blühenden niederländischen Provinzen. Sondern auf demütige Kontinuität in Ewigkeit, gottgewollt. Ein jeglicher an seinem Platz. Hat man ein solches Amts-, ein solches Staatsverständnis nicht auch in unseren Tagen immer noch zu beklagen, beinahe überall auf der Welt? Hans Kremer gelingt es eindrucksvoll, den Herrscher als Pflichtmenschen, gefangen in seiner Rolle, erlebbar zu machen. Wandelt sich Posa im Laufe der Aufführung vom idealistischen Aufklärer zum Marionettenspieler, so wandelt sich Philipp vom Despoten in einem kurzen retardierenden Moment zum zweifelnden, irrenden Menschen. „Der König hat geweint.“ Am Ende siegt die Staatsräson, nicht der König. Hans Kremers Philipp – nach meinem Eindruck die zentrale Leistung des Abends. (Danach kein Gedanke mehr an 1963, Chapeau!) Auch ihm galt der Jubel des erstaunlich jungen Publikums, vielleicht etwas verhaltener als gegenüber Carlos und Posa – naturgemäß. Lisa Hagmeister und Alicia Aumüller als Elisabeth und Eboli – zwei wunderbare Schauspielerinnen, ohne deren Leistung der emotionale Handlungsstrang des Stücks und der Inszenierung – Liebe, Leidenschaft, Eifersucht, Tragik, Tod – das Publikum nicht so stark im Innersten berührt, es mitgenommen hätte. Lisa Hagmeister als Königin im goldenen Käfig des einschnürenden spanischen Hofzeremoniells lässt ahnen, wie sie den Verlust an Respekt und Selbstbestimmung der Prinzessin des französischen Hofs erleidet. Alicia Aumüller überzeugt in jeder Weise. Ihren Ausbruch zerstörerischer Rachsucht in verletzter Liebe als getäuschte Frau vergisst man nicht. Gut auch Andre Szymanski als gleichmütig-seelenloser Funktionierer in der kleinen Rolle des Großinquisitors, Victoria Trauttmannsdorff mit verschlagener Schläue als Domingo und Matthias Leja als Herzog Alba, sein Feldherr und Minister zu Beginn starr und machtbewusst - überzeugender als der intrigante Höfling später im Laufe der Aufführung.

Nach dreieinhalb Stunden gespannter Aufmerksamkeit trampelt und jubelt das begeisterte Publi-kum. Die Aufführung muss man gesehen haben.


Henning Voscherau