OTRO (or)
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Wenn wir uns bloß trauen wollen

 

Kennen Sie das Spiel in der Bahn? Jeder sitzt mit regungslosem Gesicht, sucht oder weicht den Blicken der Anderen. Markiert mit Ellenbogen sein Territorium. Was passiert, wenn ich jetzt einfach lächle?
Das Coletivo Improviso erkundet in seinem Stück OTRO Begegnungen im Alltag. In dem Ensemble kollaborieren acht Darsteller aus verschiedenen Disziplinen. Musiker, Tänzer und Schauspieler untersuchen Momente verschiedener Begegnungen. Denise Stutz, eine der Darstellerinnen, stellt es gleich klar: Wir sind hier, ihr seid auch hier und dort draußen vor der Tür ist Rio.
An einem anderen Ort, wo die Menschen Kokoswasser trinken, an der Copacabana entlang schlendern und inmitten von Schwierigkeiten Samba tanzen, dort stellen sich Menschen, Künstler, dieselben Fragen wie wir. Vielleicht weil das Ensemble aus einer was-weiß-ich-wie-viele-Millionen Stadt kommt, gleichen sich die Erfahrungen. Metropoliten leben ähnlich, inmitten einer Masse, zu der sie sich verhalten müssen. Wie in einer Großstadt verläuft vieles in dem Raum der Studiobühne parallel. Tanz, Bewegungen, Gespräche, Monologe, Musik, Projektionen. Da mein Portugiesisch nicht über ein „Obrigado“ hinausgeht, beschränkt sich mein Blick zu oft auf die Obertitel. Manches Mal löse ich mich, irgendwie müssen die jetzt anders mit mir kommunizieren. Ich habe keine Lust mehr Worten zu folgen, während Menschen vor mir agieren. Zwei Brasilianer treffen aufeinander. Der eine ansässig, der andere nach 20 Jahren wiedergekehrt, um seine Großmutter zu begraben. Er erzählt. Auf Englisch. Er gehört nicht mehr in die Stadt, in den Rhythmus Rios. Seiner brasilianischen Bekanntschaft bietet er seine Gastfreundschaft an. „Mein Haus ist dein Haus. Und wir werden Mauern herum bauen, um es zu beschützen.“ Thierry Tremouroux stimmt ein, erzählt, wie er Gast in dem Haus eines anderen war, den Raum einnimmt: „Ich wurde du.“
Auf der Bühne werden Bewegungen, Bilder, Videos, Worte, Musik fragmentiert. Identitäten zerlegt. So begegnen wir uns im Alltag immer nur in Bruchstücken; geben Facetten von uns preis und erleben Fragmente des Anderen. Die Regisseure Enrique Diaz und Cristina Moura legen den Fokus auf die Betrachtung des Fremden. Die Vorstellung ist eine Dokumentation dessen, was sich das Ensemble zuvor an Hand von Erlebnissen auf den Straßen Rios herausgearbeitet hat. Persönliches Material vermengt sich mit den Erfahrungen Anderer. Grenzen zwischen dem Fremden und dem Selbst verschwimmen. Hier ist nichts ausschließlich Brasilianisches. Ich identifiziere mich mit dem Dargestellten. Vielleicht suche ich auch nach mir. In dem Versuch, das Fremde poetisch darzustellen, begreift das Ensemble, dass das Andere nicht betrachtet werden kann, ohne das Selbst in den Prozess einzubinden.

Das Coletivo Improviso sucht nicht nach Antworten. Es hat vielleicht noch nicht mal gefragt. Es wollte experimentieren. Erleben. Manche Erkenntnisse gibt es ohne Fragestellung. Und so verlasse ich OTRO mit dem Bewusstsein, dass zwischen mir und dem Fremden immer Potential besteht. Im Nachgespräch zwinkert mir Renato Linhares, einer der Drasteller, zu. Ich muss lachen. Und auf einmal hat sich die ganze Dynamik zwischen uns verändert. Anspannung fällt ab. Was ein kleines Entgegenkommen doch bewirken kann. Wenn wir uns bloß trauen wollen. Obrigado


Derya Ekinci