La Int
itulada

Harte Schnappschüsse aus Bogotá

 

Acht Menschen liegen auf dem Boden. Die meisten von ihnen sind Kinder. Ihre Köpfe stecken in Seilen, die sich wie eine hungrige Schlange um ihre Hälse gewickelt hat. Wehmutige Musik erfüllt den Saal. Diese Szene war die erste, die ich heute in der Inszenierung „La Intitulada“ gesehen habe.
Das Ensemble „Wuatapuy“ aus Bogotá, Kolumbien, schreit im Stück „Ohne Titel“ (deutsche Übersetzung) vom bitteren Schicksal der Menschen im Herzen Südamerikas: Leben unter der Armutsgrenze...Gewalt...Hoffnungslosigkeit...Selbstaufgabe...Das menschliche Leben ist nicht den einzigen Cent wert...Es werden sowohl Erwachsene, als auch Kinder ermordet... Menschen werden aus dem Haus vertrieben... Selbst für die Darsteller gehört dieses Thema zur eigenen Realität. Im Nachgespräch erfährt das Publikum, dass einige dieser Kurzgeschichten Schnappschüsse aus dem eigenem Leben der Schauspieler sind.
Eine weitere Geschichte drängt sich auf die Bühne und will erzählt werden: Eine Schülerin verdient ihr Geld für das Essen mit Prostitution, denn ihre Eltern können nicht für sie sorgen: Die Mutter ist behindert und kann nicht arbeiten; den Vater gibt es nicht. Das heißt, es gibt keinen richtigen Job und kein Geld. Aber Hunger. Das letzte Wort aus ihrem Monolog bleibt während der ganzen Szene auf dem Bildschirm mit den deutschen Untertiteln, als ob es eine Überschrift dazu wäre:
Scheißleben...
...heißt es auf Deutsch.
Die Theatruppe „Wuatapuy“ ist ein Projekt der Organisation Laudes Infantis, die versucht, den Familien aus Bogotá ein Leben ohne Armut zu ermöglichen. Auch das Auftreten in Theaterstücken dieser Art leistet Hilfe für die Darsteller. Denn dadurch erleben sie ihre Geschichte aufs Neue und lernen dabei, mit diesen Erlebnissen umzugehen. Es gibt in der Aufführung auch Szenen, die positive Momente aus dem Leben in Bogotá darstellen. Menschen tanzen, gekleidet in bunte Kostüme; es spielt Karnevalmusik. Jedoch empfand ich diesen Auftritt eher als seltsam. Der Wechsel von Freude und Trauer war für mich etwas scharf. Allerdings war es zum Vorteil, denn das schärfte auch meine Sinne. Auch Musik im Stück ist vielfältig. Mal - ein trauriges Lied, mal - eine lebendig klingende Melodie. Der Chorsatz „O fortuna“ aus Carl Orffs musikalischem Werk „Carmina Burana“ ist in einer Szene zu hören.
Zweifelsohne war diese theatralische Darbietung für mich ungewöhnlich und interessant – schockierend. Das Schauspiel war stark emotional geladen. Ich durfte heute am Wiederaufleben persönlicher Geschichten der Darsteller teilnehmen und mitfühlen. Ich glaube, dass die Inszenierung „La Intitulada“ eigentlich Probleme auch vieler anderer Länder anspricht und mittels einer Schocktherapie Menschen dazu antreibt, ihre Augen auf diese Realität zu öffnen. Es ist einfach gut, dass es dieses Stück gibt.


Vera Makarenko