Wie man d
em toten Hase
n die Bilder erklärt

Das Theater NO99 aus Talinn ist zu Gast in der Gaußstraße

 

Der Titel des Theaterstücks zitiert die berühmte Performance von Joseph Beuys aus dem Jahr 1965. Beuys ging drei Stunden lang mit einem toten Hasen auf dem Arm durch eine Galerie, während die Vernissage-Gäste von draußen durch das Fenster beobachteten, wie er ihm seine Bilder erklärte. Fast genauso lange geht heute die energiegeladene Gruppe von 10 Schauspielern der Frage nach der Notwendigkeit von Kunst nach.
Das Bühnenbild will selbst improvisiert wirken. An den Wänden sind verschiedenen Farbtöne ausprobiert und nicht zu Ende gestrichen worden. Die spärlichen Möbel wirken zusammengewürfelt und zweckorientiert. Auf dieser Bühne stecken die Schauspieler den Rahmen fest in dem sie entwickeln, verwerfen, Fragen stellen und sich an ihnen abarbeiten. Sie meinen es erst. "Wie sehr wollt ihr das, was ihr macht?". Und die Schauspieler unter der Regie von Tiit Ojasoo und Ene- Liis Semper machen es sich nicht leicht, diese Frage zu beantworten. Es geht auch um die Unmittelbarkeit des Theaters und die Unmöglichkeit, dass jede Vorstellung mit der gleichen Dringlichkeit beim Publikum ankommt. Weil das Spiel sich abnutzt. Aber was kann der Schauspieler dagegen tun? Spielen. Improvisieren. Sie nutzen alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel. Video, Musik und vor allem den eigenen Körper.
In ihrem Schaffensprozess werden die Schauspieler immer wieder von der estnischen Kulturministerin besucht. Frau Hase. Sie will Ergebnisse sehen. Sie gibt selbst zu, dass es mit ihrem Kunstverständnis nicht weit her ist. Sie weiß nur, dass das Geld knapp ist und man sparen muss.
Die Momente, in denen Frau Hase die Schauspieler aufsucht und in ihrem Spiel unterbricht, erinnert mich an die typische Situation im Kinderzimmer. Die Kinder bauen sich ihre Fantasiewelt auf, alles ist in sich stimmig und funktioniert nach ganz eigenen Regeln. Und dann geht die Tür auf. Ein Erwachsener will wissen, was das soll und plötzlich funktioniert das Spiel nicht mehr. Dennoch stellt niemand in Frage, dass es wichtig ist, dass Kinder spielen.
In einer Szene kommen drei Schauspieler im Hasenkostüm auf die Bühne. In der Hand haben sie ein Beiblatt zu den Bildern, die sie sich an der Wand ansehen. Sie blicken oft ratsuchend auf diese Zettel. Man sieht ihnen ihre Ratlosigkeit an. Vor allem aber auch ihr Interesse. Für mich ist diese Szene die Schlüsselszene des Abends. Es werden nicht die Menschen bloßgestellt, die keinen Zugang zur Kunst haben. Man muss nicht alles verstehen, aber man sollte es deshalb auch nicht gleich abschaffen wollen.
Während der Vorstellungen verließen einige Zuschauer den Raum. Ich finde es äußert bemerkenswert, dass dieses Stück es schafft, die Frage nach der Kunst zu stellen und in der Antwort selbst Kunst schafft. Sie muss eben nicht jedem gefallen. Aber ich finde sie großartig, wenn sie wie hier Stellung bezieht.


Chantal Maquet