"Verrücktes B
lut" von Nurkan
Erpulat un
d Jens Hillje

Sie sind gekommen, um für uns zu spielen. In ihre Kanaken-Rollen zu schlüpfen.

 

Sie warten schon auf uns, bereiten sich abseits der Bühne vor und sitzen auf solchen Stühlen, wie ich sie aus meiner Schulzeit kenne. In Kostümen betreten nun die acht Darsteller die Bühne; den Ort, an dem wir uns amüsieren, und lachen über die Dinge, welche wir im Alltag fürchten. Nicht Dinge, Menschen. Da stehen die acht jungen Leute in ihren Trainingsklamotten am Bühnenrand und bespucken und beschimpfen uns. Erst akzentuiert, mit Pausen zwischen jeder Frechheit. Dann geht eine Handlung in die nächste über und verwandelt sich von überspitzter Darstellung in scheinbare Realität.

Die Lehrkraft (Sesede Teriyan) ist frustriert. Statisch platziert in irgendeiner unbedeutenden Ecke der Bühne versucht sie ihren Schülern die Ideale Schillers zu vermitteln. Doch sie hören nicht, bewegen sich unstrukturiert durch den Raum und sind mit sich selbst beschäftigt. In einem kurzen Gerangel zwischen zwei Jungen (Gregor Löbel und Emre Aksizoglu) entdeckt die Lehrerin eine Schusswaffe. Mit Kaliber und Modell bin ich überfragt, aber sie knallt. Oft. Auf jeden Schuss folgt Gehorsam und so nähern sich die Schüler den Figuren aus Schillers „Die Räuber“ und „Kabale und Liebe“ an.
Den schwebenden Flügel über der Bühne bemerke ich erst, als das erste Lied angestimmt wird. Davor bin ich so vom Geschehen auf der Bühne eingenommen, dass mein Blick einfach nicht hin wandern wollte. Das Licht nun orange fordert die Schauspieler zum Singen auf; schöne deutsche Heimatlieder. Die Handlung wird nicht nur vom Gesang, sondern auch von Szenen aus den Stücken Schillers unterbrochen. Im blauen Licht legen die Schüler jegliche Hemmungen ab und verlieren sich in den Charakteren. Der Text sitzt plötzlich und Emotionen werden auf die Rollen umgeleitet. Wer hätte gedacht, dass die inneren Dränge und Zerrissenheit junger Proleten mit schlechter Aussprache in den Figuren eines klassischen deutschen Dramatikers wiederhallen. Mit diesen Unterbrechungen erinnert uns der Regisseur Nurkan Erpulat stetig, dass wir etwas Künstliches betrachten; eine vielschichtige Inszenierung, die keinen Lösungsweg aufweisen möchte. Nein, Waffen sind tatsächlich kein legitimes Mittel, um Abtrünnige auf den rechten Pfad der Bildung zu weisen. Wir verfolgen ein Spiel. Und die Worte Schillers, der Mensch sei „nur da ganz Mensch, wo er spielt“ (Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), 15. Brief) bekommen einen bitteren Beigeschmack: die Lehrerin spielt mit der Waffe, den Schülern und ihren Leben. Zu Anfang verschüchtert und autoritätslos kann sie nun ihrer Frustration Ausdruck verleihen. Ihrer Frustration, oder der wahren Beschaffenheit des Menschen? Wie tolerant sind wir, wenn wir uns in einer überlegenen Position sicher fühlen, ohne Angst? Sie hat gute Absichten, die Lehrkraft; die freie Entfaltung möchte sie erzwingen. Und tatsächlich wird aus der Stuhlreihe im Hintergrund ein Stuhlkreis, wie wir ihn selbst einst in der Klasse anordneten, um besser miteinander kommunizieren zu können.
Jeder der acht Protagonisten entwickelt sich, und wir observieren. Also doch die Waffe als Symbol der Befreiung? Nein, eher ein Symptom oder Reaktion auf eine Gewalt, die wir nicht wahrnehmen. Auf eine strukturelle Gewalt, die einige Menschen in unserer Gesellschaft vernachlässigt. Aber „den Schuldigen finden wir heute eh nicht mehr.“ Und somit entlässt Sesede Teriyan ihre Schüler aus dem Unterricht, aus der Rolle, von der Bühne. Nun sind alle acht raus. Verlassen ihre Charaktere. Und was passiert abseits der Bühne? Einen Schüler (Erol Afsin) lässt es nicht los. Die Waffe fest umklammert fragt er weiter: „ Wie viele Erfolgskanaken erträgt das Land?“ Die Waffe ist auch auf mich gerichtet. Eben hatten wir alle noch gelacht.


Derya Ekinci