BÜRGERTHEATE
R: Hansestadt – Pfe
ffersack

50 Jahre Thalia seit dem Wiederaufbau
Rede von Dr. Henning Voscherau anlässlich der Jubiläumsfeier im Thalia Theater am 3.12.2010

 

Meine Damen und Herren, dieses traditionsreiche Bürgertheater, 1843 am Pferdemarkt direkt hier gegenüber gegründet von Cheri Maurice, macht im gesamten deutschen Sprachraum von sich reden. Mehrfach „Theater des Jahres“ - ihren Teil der Voraussetzungen für künstlerische Erfolge muss die Stadt auch künftig gewährleisten, wie am Gerhart-Hauptmann-Platz so an der Kirchenallee.
Dass ich hier das Wort ergreifen darf, ist für mich ein sentimentaler Anlass. In dem 1945 ausgebombten Haus wurde nach der Notlösung „Thalia Schlankreye“ ein gutes Jahrzehnt lang auf einer provisorischen Bühne vor dem Eisernen Vorhang gespielt. Die endgültige Wiederherstellung zog Ende der 50er Jahre eine Übergangslösung im Theatersaal des Gewerkschaftshauses am Besenbinderhof nach sich. Und dann die freudige Rückkehr 1960. Alle, die damals dabei waren, Willy Maertens - der „Chef“, wie ihn alle respektvoll nannten - seine Frau Charlotte Kramm und die damalige Thalia-Familie – mit meinen Augen war sie das wirklich - darunter mein Vater, alle sind sie längst verblichen. Ich vermute, Peter Maertens und ich sind die einzigen im Haus, die vor 50 Jahren auch dabei waren - und Sigrid Steffen, wenn sie heute im Haus ist.
Vermutlich ist nur noch wenigen Hamburgern bewusst, dass ich die Wunderwelt der Kollegen meines Vaters und meines Onkels schon als Kleinkind bei Richard Ohnsorg und als Junge und Jugendlicher im Thalia Schlankreye nach dem Kriege bei Willy Maertens kennen- und lieben gelernt habe. Sonore Stimmen schwerer Helden mit Zwerchfell-Stütze auf der Probe, z.B. der wunderbare Heinz Klevenow; Salondamen in der Maske, bevor sie strahlend verwandelt auftraten, z.B. Gisela Peltzer - ich höre noch „O mein Papa“ in Feuerwerk; die junge Inge Meysel, die sich in einer Inszenierung von der Garderobiere in ihr Kleid einnähen ließ. Später unter den Nachwuchs-Stars der von uns bewunderte Hanns Lothar. Die erste Vorstellung, an die ich mich bewusst erinnere, war 1949 „Das kleine Hofkonzert“. Immer wieder Anekdoten, Lachsalven, die einer der Darsteller in der 57. Wiederholung einer Inszenierung aus schierem Schabernack (oder infolge des Genusses geistiger Getränke, so etwas gab es damals noch) provozierte, so dass nichts mehr half, kein plötzlicher Abgang, sondern der Vorhang musste fallen.
Vor 50 Jahren saßen mein Bruder und ich mit den beiden von der Mehden-Söhnen Tonio und Andreas, mit Gaby Blum, Lotti Schellenbergs Tochter, mit Astrid Klevenow ganz oben im zweiten Rang. Max Brauer, Paul Nevermann, Adolph Schönfelder, verlässliche Verteidiger der Kultur gegen mancherlei finanzielle Anfeindungen und alle drei bekennende Freunde des Thalia, in vielen Premieren in der Senatsloge präsent, waren bestimmt dabei. Ob Helmut und Loki Schmidt 1960 wie immer wieder vorn rechts Reihe 1 im Saal saßen – ich weiß es nicht mehr. Alle dem Theater verbunden, habe ich sie in diesem Hause schon als Junge kennen gelernt und „genervt“ daneben gestanden, wenn sie mit meinem Vater sprachen. Jetzt Schluss mit sentimentalen Reminiszenzen. Die Vorstellung vor 50 Jahren hat mir übrigens nicht besonders gefallen.
Bürgerstolz, Kultur und Mäzenatentum - ein spannendes Thema in einer Phase weitreichender Sparvorschläge vor einem Doppelhaushalt, deshalb stehe ich ja wahrscheinlich hier. Verabredet haben wir das unter Koalitionsbedingungen, die seit fünf Tagen nicht mehr bestehen. Auf der Bühne darf man ja den Faust zitieren. „Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft. Was ist mit diesem Rätselwort gemeint“? Ich werde es nicht lüften, meine Damen und Herren, und nicht einmal, dass das Zitat so gar nicht stimmt, aber das haben Sie sofort bemerkt. An finanzpolitischen Gegebenheiten ändert sich durch Änderung der politischen Verhältnisse allerdings nichts, mal sehen, was 2011 aus den Nöten der Kultur und aus der Verantwortlichkeit der Stadt für ihre Künstler wird. Mein Freund Jürgen Flimm, immer für eine Schlitzohrigkeit gut, hat kürzlich „Rabatz“ vorgeschlagen; welcher Art der sein würde, hat er vermutlich nicht vorausgesehen.
Hartnäckig hält sich landauf – landab die Meinung, die stolze Hansestadt Hamburg sei ein Hort schnöder amusischer Pfeffersäcke, stets auf den Gewinn bedacht, ihre Großen aus Literatur und Musik aus den Mauern treibend, mit Wissenschaft und Künsten nichts im Sinn. Wenn aber doch, dann wegen ihrer Nützlichkeit als weicher Standortvorteil; Kunst beileibe nicht um der Kunst willen. Bekanntlich ist nichts klebriger als ein Vorurteil; man wird es nicht los. Manchmal befördern wir es selbst mit unbedachten ironischen Anekdoten, die außerhalb der Stadt ernst genommen werden. „Junge, du gehst studieren. Für Kaffee bist du zu dumm.“ Schlimmer noch wenn der Junge für Kaffee nicht zu dumm ist, aber partout Schauspieler werden will. Denn früher war ja die Überlieferung aus der Zeit der Wanderbühnen allpräsent: „Junge, nimm die Wäsche von der Leine, die Schauspieler kommen“. Und doch kommt es auch in hanseatischen Großbürgerfamilien vor: Der Junge will nicht ins Kontor, sondern auf die Bühne. „Nachdem der Vorhang aufgegangen war, wusste ich, dass dies das höchste Glück war und ich bis an mein Lebensende spielen wollte." So wird ein Großer des Thalia-Theaters zitiert, unser im vorigen Jahr hochbetagt verstorbener Manfred Steffen, „Manni“, wie er bei meinen Eltern hieß, Ehrenmitglied des Thalia, Hamburger aus zwei feinen alten Familien, schon sein Urgroßvater Mitglied der erbgesessenen Bürgerschaft, der Großvater in eigener Firma. Der Enkel hätte die Kaufmannstradition fortsetzen sollen. Manfred Steffen aber wurde unheilbar vom Theaterbazillus befallen, und schon nahm das Schicksal – aus der Sicht seiner Eltern: das Unglück - seinen Lauf. Ebenso erging es Boy Gobert, Sohn von Senator Ascan Klee Gobert, Intendant des Thalia. Der berühmteste Fall ist Heinrich Heine. Wie in Hamburg an Heine, Gobert und Steffen, so dachte man in Lübeck vielleicht an Thomas Mann oder an Jürgen Fehling – Bürgermeister-Sohn aus einer der Buddenbrook-Familien, großer Berliner Theaterregisseur in der Weimarer Zeit, Enkel Emanuel Geibels, ein großbürgerlicher Spross wie Manfred Steffen und Boy Gobert. Wie aber entdeckte Fehling seine Liebe zum Theater? Sein Neffe Christoph Fehling hat es erzählt, ich gebe ihn wieder: „Steigt der junge Jürgen Fehling mit einer blutjungen Lübecker Bürgerstochter in Streit´s Hotel am Jungfernstieg ab, wie sonst mit seinem Vater. Er verlangt ein Doppelzimmer. Der Portier erblasst, winkt einen Pagen herbei, ruft aber – kaum dass die drei im Lift verschwinden - in Lübeck an. „Herr Bürgermeister, Ihr Herr Sohn, was soll ich tun?“ „Werfen Sie ihn hinaus, aber sofort!“ befiehlt der Bürgermeister, und so geschieht´s. Jürgen Fehling aber und seine Liebste begaben sich an die Kirchenallee, erwarben Karten für alle Sitze einer Proszeniumsloge und verrichteten, als das Licht erlosch, dort, weswegen sie an die Elbe gekommen waren. Und so entdeckte Jürgen Fehling seine Liebe zum Theater.“ Kaufmann, Künstler, Konventionen!
Seit alters her spielen in Hamburg die Künste und Kultur eine besondere Rolle. Über Jahrhunderte mussten sich die Bürger selbst darum kümmern – kein höfisches Gepränge, kein Fürst, keine Schlösser, keine Kunstkammer. Kultur als Lust und Leistung einer bürgerlichen Gesellschaft setzt wirtschaftlichen Erfolg voraus, Leistungsfähigkeit und -bereitschaft der Bürger, Mitverantwortung für das Ganze. Ihr ausgeprägtes Mäzenatentum in unserer jahrhundertealten Stadtgeschichte weist die Haltung der „alten Hamburger Familien“ aus, die die Führung der Stadt vom 13. Jahrhundert bis 1919 unter sich ausmachten. "Wir haben keinen Adel, keine Patrizier, keine Sklaven, ja selbst nicht einmal Untertanen. Alle wirklichen Hamburger kennen und haben nur einen einzigen Stand, den Stand eines Bürgers. Bürger sind wir alle, nicht mehr und nicht weniger." So Johann Carl Daniel Curio 1803 - Ausdruck hanseatischen Bürgersinns, in den gediegenen Traditionen unseres Stadtstaats verankert. Die freien Stadtbürger mussten sich und ihre Stadt stets mit Wagemut, Geschäftssinn und Zusammenhalt behaupten. Niemand brachte etwas zuwege, außer sie selbst. Mit ihrem Geld, in der dritten Generation langsam hochanständiges altes Geld, war es ihnen überlassen, Bürgerstolz und Mäzenatentum zu leben oder nicht.
Ein Mäzen gibt, um Gutes zu tun, vielleicht auch, um seinen kulturellen Liebhabereien nachzugehen. Das unterscheidet ihn vom Sponsor. Sie kennen den Alfred Krupp zugeschriebenen Satz: Die erste Generation baut auf, die zweite baut aus, und die dritte studiert Kunstgeschichte. Jedenfalls ist Hamburg seit langem ein Mekka der Stifter und des Bürgersinns – mehr als 700 Jahre, nachdem diese Tradition begann; mehr als 330 Jahre nach der Gründung der Oper; fast 140 Jahre nach dem Bau der ersten Kunsthalle zu zwei Dritteln aus Spenden, über 100 Jahre nach der Stiftung der Musikhalle durch Carl Heinrich Laeisz. Edmund Siemers stiftete 1911 das Hauptgebäude der Universität, an das sich jetzt die Flügelbauten des Stifterehepaars Greve anschließen. Dass in Hamburg zum allerersten Mal keine Oper bei Hofe entstand, um Fürsten und Adel zu ergötzen, sondern ein Opernhaus für das Volk, ist niemandem zu verdanken als den Bürgern Hamburgs selbst. Das war 1678 - die älteste Bürgeroper Europas, das älteste stehende Opernhaus Deutschlands. Hamburger Kaufleute waren es auch, die 1822 den ersten deutschen Kunstverein gründeten. Beispiele aus der Hamburgischen Geschichte, die zeigen, wie wichtig Mäzenatentum in unserer Stadt seit alters her ist, gerade für die Künste. Und doch das Vorurteil: Pfeffersäcke.
Ohne mäzenatisches Engagement würde auf kulturellem Gebiet vieles nicht entstehen, manches nicht weitergehen. Jede mäzenatische Verantwortung für das Ganze sollte ganz hoch im Kurs stehen. Nach einer Phase starker Ich-Betonung wandelt sich das Lebensgefühl wieder: Immer mehr Menschen kommen zu der Einsicht, dass der Einsatz für das "Wir" sinnstiftender und erfüllender ist. Unsere Gesellschaft wäre ärmer, nicht allein auf dem Gebiet der Kultur, gäbe es nicht Menschen, die aus ihrem Lebenserfolg der Gesellschaft etwas zurückgeben möchten, freiwillig. Kultur dient der Entwicklung der Persönlichkeit, der Fähigkeit zur Empathie und der ästhetischen Bildung des Menschen, und gelegentlich hat man ja Anlass zu dem Eindruck, dass diese Art kultureller Bildung in unserer Gesellschaft viel zu kurz kommt, in Krisenzeiten noch mehr, wie man in den letzten Monaten lesen konnte. Gegen unbedachte politische Vorschläge haben bereits Max Brauer, Adolph Schönfelder, Herbert und Elsbeth Weichmann Position bezogen. Kultur muss gelegentlich verteidigt werden, wenn man gar nicht damit rechnet. Deshalb Rolf Liebermann: "Einerlei, ob die Leute am Schluss einer Vorstellung Bravo rufen oder Pfui, Hauptsache, sie äußern sich irgendwie - so lebt die Oper weiter." Für das Theater, meine Damen und Herren, gilt das genauso. Oper, Ballett, Schauspielhaus und Thalia erhalten erhebliche Zuschüsse aus dem Haushalt, ebenso wie zahlreiche Privattheater, darunter das Ohnsorg oder das Ernst-Deutsch-Theater, das größte Privattheater Deutschlands. Hamburg bietet eine unglaublich vielfältige Kulturlandschaft, allein wohl 40 Theater. Man darf nicht wollen, dass dieser Reichtum zerschlagen wird.
Aufgabe und Verpflichtung von Staat und Politik ist es, kulturelle Teilhabe für alle zu ermöglichen. Hilmar Hoffmann war es, der in den 70er Jahren die Forderung „Kultur für alle“ erhob. Kultur galt damals noch als eine Art gesellschaftlicher Luxus. Von Demoskopen gab es den sarkastischen Befund, FDP-Wähler - das seien „CDU-Wähler, die ins Theater gehen“. Seither hat sich das öffentliche Verständnis zugunsten der Kultur gewandelt. Hamburg – Stadt und Bürger – hat in diesen 50 Jahren Großes für die Künste zustandegebracht – durch bewunderungswürdige Mäzene wie Körber, Bucerius, Greve, Hartog, Schnabel, Schümann, Otto , um nur sie zu nennen. Und aus dem Haushalt. Die Erweiterung des Thalia-Theaters zum 150. Bestehen, die Modernisierung und Erweiterung des Schauspielhauses mit der unvergesslichen misantropischen Wiedereröffnung durch Niels Peter Rudolph, die Renovierung der Oper, das Ballettzentrum, die Neugestaltung der "Kunstinsel" mit der Galerie der Gegenwart, das Haus im Haus im Museum für Kunst und Gewerbe mit der Sammlung Beurmann, Kurt Körbers Deichtorhallen, und aktuell das künftige Wahrzeichen Hamburgs, die Elbphilharmonie, auch wenn Baustelle und Kosten dem Senat aus dem Ruder gelaufen sind – alles sehenswerte Früchte öffentlicher Kulturförderung und privaten Mäzenatentums.
Was wird in der Krise daraus? In Deutschland leistet der Staat die Grundfinanzierung des kulturellen Angebotes. Es zu fördern und Künstlern den Freiraum zu geben, den sie brauchen, ist eine wichtige Aufgabe der Politik - auch und gerade in unbeständigen Zeiten. Der Staat allein kann es nicht leisten. Liegt man aber richtig, wenn man darauf setzt, dass künftig mehr Mäzene Lücken füllen, die der Staat in Zukunft aufreißen könnte? Immer wieder hört man, was in den USA recht sei, müsse doch einem reichen Land wie Deutschland billig sein. In den USA liegt das Verhältnis von privater und staatlicher Kulturförderung bei etwa 90:10. In Deutschland ist es genau umgekehrt. Deshalb hat Kulturstaatsminister Bernd Neumann einmal vor Illusionen gewarnt: „Die schwerpunktmäßige Auslagerung der Kulturförderung auf den privaten Sektor und die starke Abhängigkeit der Kultureinrichtungen vom Sponsoring wie in den USA ist riskant.“ Weder sind die steuerlichen Rahmenbedingungen übertragbar, noch ist es in absehbarer Zukunft realistisch, große Kultureinrichtungen in private Finanzierung abzugeben, abzuschieben. Auf dem Rücken der Kultur darf der Unterschied in Denken und Tradition beider Gesellschaften nicht ausgetragen werden. Sie kennen das Zitat: “We should not ask what it costs to invest in culture. We should ask what it costs not to invest in culture!” (Charles Landry). Wir leben in einer Zeit der Umbrüche. Was wir brauchen, sind neue Ideen, kreative Phantasie und der Mut zu einer freiheitlichen solidarischen Zivilgesellschaft. Achten wir auf die Fundamente dieser Gesellschaft: staatsbürgerliche Gesinnung, Kultur und Mäzenatentum.


Dr. Henning Voscherau