Was passiert denn eigentlich, wenn man in seinem Privatleben die Welt der gesellschaftlichen Gesetze gegen diese Welt des Spiels und des Scheins austauscht? Das machen wir doch die ganze Zeit, oder?

Es ist nicht, wie es scheint. Spätestens mit Texten wie „Postscriptum über die Kontrollgesellschaften“ von Gilles Deleuze (1990) und Richard Sennetts „Der flexible Mensch“ (1998) beginnt die Reflexion über einen neuen Typus des heutigen Großstädters: Ein Unternehmer seiner selbst, der flexibel arbeitet und die erbrachte Leistung aus eigenem Interesse ständig kontrolliert. Er gehört zur „kreativen Klasse“, zur „digitalen Bohème“ oder ähnlich romantisierend beschriebenen Gesellschaftssegmenten, die ein von Institutionen unabhängiges Quasikünstlerleben mit MacBook Pro und individueller Biografie suggerieren. Doch hierfür müssen, so Diedrich Diederichsen, diese „Sexyness-Virtuosen“ ständiges „Eigenblutdoping“ betreiben, damit sie auch wirklich ganz und gar sie selbst werden und im „Survival of the Cutest“ auch eine Chance zu haben, ihre Individualität gewinnbringend auf dem Markt zu platzieren. Und diese Arbeit am Selbst wird niemals fertig.

Helene Hegemanns Anfang 2010 erschienener Debutroman „Axolotl Roadkill“ wird dann zum Ausdruck der großen Sehnsucht nach einem alternativen Lebensmodell. Denn die Hauptfigur Mifti weigert sich, auf diesem Biografiemarkt zu funktionieren: Sie sucht die Flucht aus der „Duldungsstarre“ des „Alles geht weiter“ und bricht mit dem Prinzip der Selbst-Identität. Mifti betreibt Wohlstandsverwahrlosung mit Stil, nimmt Drogen und reflektiert dabei auch noch jeden Schritt. Helene Hegemann macht dies zum Spiel mit der Authentizität, wie es Kunst und Theater, aber auch Showmaster wie Harald Schmidt oder David Letterman seit jeher betreiben.

Mit dem Roman wurde die damals 17-jährige Autorin zum Fetisch vieler deutlich älterer Feuilletonisten der Republik, die glaubten, endlich einen authentischen Einblick in den heutigen Jugendzeitgeist zu gewinnen. Gleichzeitig konnten sie diese Auflehnung aus 68er Erfahrung überlegen einordnen, nach dem Motto: „Am Anfang der Bürgerlichkeit steht der Abschied von der Bürgerlichkeit“ (wieder Diederichsen). Der sogenannte Plagiatsskandal brachte dann den Coitus interruptus, große Empörung und die angeekelte Abwendung vieler vom Ex-Lustobjekt. Denn die Autorin hatte das Genre des „Authentizitätspornos“ (letztes Mal Diederichsen) à la Airen, von dessen Blog Strobo einige Textpassagen inspiriert sind, nur als Abflugort für die Einbildungskraft einer Alice im Wunderland genutzt, die sich in eine Welt mit eigenen Regeln flieht.

Eine Welt des Spiels und des Scheins, in der nach Schiller die unbegrenzte Freiheit der Ästhetik den Mensch ganz Mensch sein lässt. In der man ebenso Mann wie Frau sein kann und in der eine Liebesgeschichte mit Atreju aus "Die Unendliche Geschichte" gleich viel Wert hat wie die mit einem leibhaftigen Menschen. So beantwortet Helene Hegemann scheinbar mühelos die Frage nach der Übertragung der Welt des Spiels und des Scheins in die wirkliche Welt im unterhaltsamen Spiel mit dem Schein.

Tarun Kade


Tarun Kade
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