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Geschichten zum Nachdenken

Thalia im Zelt – Theater am Hafen. Die Hafencity spielt ihre Stärken in der blauen Stunde aus (Silhouetten und Wasser), die Lichter blinken vom Hafen gegenüber, im Zelt beginnt das Spiel. Die Bühne wie in einer Zirkusarena in der Mitte, ein stilisiertes Schiffsdeck, ein Nashornkopf an der Wand assoziiert den Bezug zu einer Kolonialzeit. Oder auch zu Fellinis Film „E la nave va“, in dem eine Kreuzfahrtgesellschaft durch serbische Bootsflüchtlinge aus ihrer Nabelschau gerissen wird. Die angsterfüllten Passagiere beschließen, die Flüchtlinge ihrem Schicksal zu überlassen.

Eine Geschichte, die sich heute noch jeden Tag z.B. im Mittelmeer aber auch anderswo auf der Welt ereignen könnte. Jedes Jahr sterben hunderte Flüchtlinge aus Afrika bei dem Versuch, ins gelobte Land Europa zu kommen. Am Strand der italienischen Insel Lampedusa etwa werden immer wieder Leichen von Ertrunkenen an Land gespült. Eine Angelegenheit für die Küstenwache, aber doch nicht für uns Europäer, die wir in der Festung leben.

Ein spannendes Thema also, und ein wichtiges dazu. Was bietet uns Schorsch Kamerun? Eine Wundertüte, in der alles drin ist, aber vieles nicht zusammenpasst. Da ist die Kreuzfahrtgesellschaft, die sich mit sich selbst langweilt. Da ist der Journalist, der den Conferencier gibt. Da ist die Musik, die ab und zu ska-folklorige Tupfer setzt. Szenen des Überdrusses im Kreuzfahrt-Universum werden kontrastiert mit Facetten der „harten Welt da draußen“, wenn etwa ein Matrose ohne Papiere für die Beamten der Einwanderungsbehörde gar nicht mehr existiert, also kein Mensch mehr ist. Und dann kommen die Heizer aus dem Unterdeck, die den Kahn am Laufen halten, nach oben und mischen sich unter die feinen Leute.

Da könnte es jetzt krachen und zu Konfrontationen kommen, aber aus der Reibung entsteht keine Hitze und der (Stücke-)Dampfer kommt nicht in Fahrt. Die Szenen sind nicht verbunden, nichts baut aufeinander auf – auch nicht im Kontrast. In der Rückschau ergibt sich ebenfalls kein Gesamtbild, das sich aus vielen Facetten zusammensetzen würde – so hätte es vielleicht wirken sollen? Es gelingt dem Stück jedenfalls nicht, mich entweder zu einer Emotion oder zu einer Reflexion zu bewegen. Zu einer Emotion wie Empörung oder Mitleid mit dem Schicksal der „sans papiers“. Zu einer Reflexion etwa über das Verhalten der Kreuzfahrtgesellschaft als Metapher für unsere dekadente Gesellschaft, die dem Untergang geweiht ist („Vor uns die Sintflut“).

Das Stück bleibt blass. Daran ändert auch der Auftritt von Nadja Tiller nichts. (Der Gerechtigkeit halber muss man hinzufügen, dass das Ensemble nach der Premiere noch einmal Extraschichten einlegte und dem Stück wohl mehr Struktur gegeben hat). Zudem wird das Stück aus der Perspektive der Europäer erzählt. Dem Überdruss der Bohème wird breiter Raum gewidmet, die Flüchtlinge treten nur im Chor auf, Individualität ist ihnen verwehrt. Aber vielleicht bin ich ja auch verdorben. Ich habe mich eine Zeitlang sehr intensiv mit der Situation von Flüchtlingen in Deutschland auseinandergesetzt und höre bis heute von Geschichten, die von der anderen Seite berichten, der der Flüchtlinge. Sie haben einen Namen, ein Alter und eine Geschichte, die meist dramatischer ist als alles, was wir jemals erleben werden. Zum Glück. Von einer will ich berichten:

Arian, ein afghanisches Mädchen, flieht mit ihrer Familie vor zehn Jahren nach Europa. Die Familie ist durch das politische Engagement des Vaters gegen die Taliban unter Druck geraten. 12 Personen, vom Onkel über die Cousine bis zum Kleinkind, machen sich auf die Flucht. Monate sind sie unterwegs. Über Tadschikistan gelangen sie nach Moskau, wo sie lange auf eine Gelegenheit zur Weiterfahrt warten müssen. Sie müssen hungern, werden betrogen und bestohlen, von der Polizei erwischt. Der Vater wird für einige Wochen von der Familie getrennt. Streit bricht in der Gruppe über den weiteren Fluchtweg aus, die ganze Mühe, das ganze Risiko scheinen umsonst.

Schließlich erreicht die Familie Deutschland und wird, da sie sich in Hamburg den Behörden stellt, auf der „Bibi Altona“ untergebracht, dem Schiff für die Erstunterbringung von Flüchtlingen. Nach Monaten auf dem Schiff fasst Arians Familie allmählich Fuß in Deutschland. Mit kleinen Jobs halten sich die Eltern über Wasser, die Kinder kommen in die Schule. Trotzdem ist die Familie ständig von Abschiebung bedroht, da sie nur unter einer so genannten Duldung in Hamburg leben dürfen. Es dauert sieben Jahre, bis die Behörden Arians Familie ein Bleiberecht zugestehen. Heute ist Arian zwanzig und geht auf ein Gymnasium.

Ein paar Monate ist sie sehr glücklich: Sie heiratet einen Mann, Afghane wie sie. Er lebt ebenfalls schon zehn Jahre in Deutschland, ist aber nach wie vor von Abschiebung bedroht. Gerade als Arian Abitur machen will, wird der Druck der Abschiebungsandrohung auf den jungen Mann so stark, dass er einen Selbstmordversuch begeht. (Selbstmorde unter Geduldeten oder auch Abschiebehäftlingen kommen immer wieder vor. Vor wenigen Monaten haben sich ein Georgier und eine Indonesierin in der Abschiebehaft in Hamburg erhängt). Arian entdeckt ihren Mann rechtzeitig, er kann gerettet werden. Anschließend verbringt er sechs Monate in der Psychiatrie. Inzwischen gilt er als so stabil, dass er entlassen wurde. Jetzt hat er einen Asylantrag gestellt. Vielleicht verhilft ihm das zu einem Aufenthaltsrecht in Deutschland und dazu, mit seiner Frau zusammenzuleben. So wie es aussieht, werden Arian und ihr Mann auf absehbare Zeit Flüchtlinge bleiben. Die deutschen Behörden wollen es so.

Über solch eine Geschichte muss ich immer wieder nachdenken.

Michael Richter ist Dokumentarfilmregisseur und Autor und lebt in Hamburg. Für seinen Film "Abschiebung im Morgengrauen" erhielt er 2006 den Grimme-Preis.


Michael Richter