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rnst ist das L
eben (Bunbury)

Von Seescheiden und anderen Männerträumen

 

Lasziv windet sich ein Mann zum viel zu niedrig eingestellten Mikrofon hinab. Was er da hinein spricht, bestätigt seine Körpersprache, provokative Anspielungen wechseln mit anzüglichen Bonmots. Weniger passend dagegen die Beleuchtung: Grelles Arbeitslicht strahlt dem Publikum gnadenlos entgegen, gleich zu Beginn ist es gefragt, direkt und höchst persönlich, angesprochen durch den unzweideutigen Augenkontakt des Schauspielers und dessen zweideutige Fragen. „Ist bei einem Ständer wirklich die Höhe, also die Länge entscheidend?“ Dass der Mikrofonständer gemeint ist, erschließt sich erst mit minimaler Verzögerung, als er dessen Höhe für seine Körpergröße passgenau und mundgerecht verändert.

Unbehagen stellt sich im Publikum ein in diesen ersten Minuten, in denen André Szymanski als Algernon Moncrieff den Dialog sucht – fast ertappt fühlen sich alle, die im Dunkel des Zuschauerraums lieber ungesehen untertauchen wollen. Gleichzeitig gaukelt der Alleinunterhalter Partystimmung vor, befördert die Zuschauer per small-talk zu geladenen Gästen, raucht, trinkt, witzelt und flirtet so lange mit ihnen, bis sein Freund John Worthing sich zu genau diesem Zweck zur Verfügung stellt – Sebastian Rudolphs Auftritt erlöst das Publikum aus der Überraschungs-Party-Situation und entlässt es ins anonyme Dunkel. Das ist der Moment, in dem die Stoßrichtung der Aufführung klar wird: Eine homoerotisch aufgeladene Atmosphäre zwischen den beiden Protagonisten ist unmittelbar spür-, nahezu greifbar. Und die wird im Verlauf des zweieinhalbstündigen Abends unregelmäßig genährt durch vertrauliche Gesten, verbale Andeutungen und gezielt gesetzten Körperkontakt. Doch auch der Gesprächsfaden mit dem Publikum wird immer wieder unvermittelt aufgenommen. „Sitzen Sie gut? Ich weiß, dass Sie nicht gut sitzen!“ Unverhohlene Häme von oben herab: Die Zuschauer müssen auf Barhockern nicht unähnlichen, im Boden verankerten Drehstühlen zu ebener Erde Platz nehmen, während sich die Spieler auf zwei Podesten erhöht präsentieren. Für „Ernst ist das Leben (Bunbury)“ taucht das Hamburger Thalia Theater seine Zweigstelle in der Gaußstraße in dunkles Lila, die beiden Bühnenpodeste an den Enden des bespielbaren Raumes simulieren Algernon Moncrieffs Stadtwohnung sowie das Landhaus von John Worthing: Eine mannshohe, drehbare Diskokugel symbolisiert städtisches Leben auf der einen Seite, ein riesiger, ebenfalls begehbarer Golfball beherrscht die Countryside gegenüber. Die einzige Verbindung zwischen den beiden entgegengesetzten Welten bildet ein Laufsteg durch die Raummitte, der das Publikum in zwei Hälften teilt– und die Drehstühle ermöglichen jedem, sich wahlweise dem Geschehen rechts oder links zuzuwenden. Die Bühne von Jo Schramm macht somit die einzeln sitzenden Zuschauer zu Zaungästen des ländlichen Anwesens oder zu Voyeuren im urbanen Umfeld. Wenige Auserwählte in den laufstegnahen Reihen müssen gelegentlich eine beratende Funktion übernehmen, sofern die Akteure sie in einen kurzen, intimen Dialog verwickeln.

Doch damit nicht genug der Publikumsbeschäftigung. Regisseurin Anna Bergmann besetzte alle Rollen mit Männern. Unter Verzicht auf die beiden Bediensteten aus dem englischen Original bleiben jenseits der zwei Introduktions-Dandys noch deren Bräute Gwendolen und Cecily, die Mutter der einen (Lady Bracknell) sowie die Gouvernante der anderen (Miss Prism) und schließlich noch der Dorf-Geistliche Dr. Chasuble. Und sobald der erste Mann in seiner Frauenrolle auftritt, reagiert das Publikum gut hörbar: Hans Kremer als herbe, herrische Lady Bracknell erntet ähnlich viele Lacher wie Gwendolen, „ihre“ Tochter, gespielt von Daniel Lommatzsch. Ob nun aus Gründen der Verblüffung, des Peinlich-berührt-Seins oder des erotischen Kitzels – Männer in Frauenkleidern evozieren (immer noch oder immer wieder) ein verlegenes Kichern oder ein lautes Lachen. Gwendolen im rosafarbenen, an Rokoko-Mode angelehnten, Outfit ergeht es da nicht anders als ihrer „Freundin“ Cecily, die im großkarierten Kleid die Sportlichere von beiden gibt und von Jörg Pohl verkörpert wird. Matthias Leja verwandelt sich in die Tugendwächterin Miss Prism, die vom Konflikt zwischen ihrem pädagogischen Auftrag Cecily gegenüber und der Leidenschaft für den Pastor geschüttelt wird; den landliebenden Heiligen, gespielt von Julian Greis, kann sie letzten Endes vom zölibatären Weg abbringen. Keiner der vier Rockträger gerät in die Nähe von Tuntigkeit. Stattdessen sensibilisiert das Spiel mit der geschlechtlichen Identität die Wahrnehmung – Vexierbildern vergleichbar, schlägt die Zuordnung männlich / weiblich im Auge des Betrachters ständig um.

Anna Bergmanns Deutung hätte Oscar Wilde vermutlich gefallen. 1895, im Jahr der Uraufführung, war eine gleichgeschlechtliche Liebe (nicht nur) im britischen Königreich völlig außerhalb des Vorstellbaren. Im englischen Original durfte die Männer-Vereinigung nur als Verbrüderung stattfinden: In der Schlussszene stellt sich heraus, dass John Worthing, genannt Jack, und Algernon Moncrieff, kurz Algy, tatsächlich verwandt sind – und das nicht nur im Geiste. Dass sie sich aber im Grunde wollen, steht für Anna Bergmann unzweifelhaft fest, und sie hätte sich ein schwules Happy End durchaus denken können, um den Traum Oscar Wildes auf einer Bühnenwirklichkeit im übernächsten Jahrhundert wahr werden zu lassen. Sie blieb im Finale indes werkgetreu bei der heterosexuellen Paarbildung der Figuren in dreifacher Ausgabe: Gwendolen – John, Cecily – Algeron, Miss Prism – Dr. Chasuble. Nur durch die männliche Besetzung in „Ernst ist das Leben (Bunbury)“ triumphiert das lustbetonte Dandytum in einer frauenfreien Zone – und verkündet, was Oscar Wilde der Welt mitteilen wollte und was noch im 21. Jahrhundert in einigen Staaten der Welt mit der Todesstrafe geahndet wird.

 

Spiel im Ernst

„The Importance of Being Earnest“ ist als geschriebener Titel eindeutig, Oscar Wilde meint mit „Earnest“ die Ernsthaftigkeit. Gesprochen gibt er sowohl im Deutschen wie im Englischen Anlass zur Mehrdeutigkeit, steht in erster Linie für Seriosität, aber auch für eine das Spiel verderbende, verbissene Ernsthaftigkeit. Ist es (lebens)wichtig, ein Mann mit Namen Ernst zu sein? Sofern die Frauen beschlossen haben, nur einen solchen zwecks Fortpflanzung zu ehelichen, wird es tatsächlich bedeutend. Folglich bleibt den beiden Lebemännern namens John und Algernon nur die Möglichkeit, sich den Schlüssel-Namen „Ernst“ per Zweittaufe im heiratsfähigen Alter Ende zwanzig zuzulegen. Beide Bräute, Gwendolen und Cecily, knüpfen diese konkrete Bedingung an ihr mündlich gegebenes Heiratsversprechen. Ihre Partnerwahl wird somit von etwas so Äußerlichem wie einem Vornamen bestimmt, denn der signalisiert im Ernstfall einen Ehemann, der weder leichtsinnig noch dem Spiel verfallen ist. Diese Maxime wird um jeden Preis und wider besseres Wissen mit weiblicher Beharrlichkeit aufrecht erhalten – die beiden Lebemänner hingegen strafen genau dieses Image mit jedem einzelnen Dialog Lügen und „bunburysieren“ stattdessen: Ein fiktiver, kränkelnder Freund namens Bunbury liefert das notwendige Alibi für Abwesenheiten, ein Übriges erledigen die wechselnden Identitäten, die Mann jeweils innerhalb des Stadt- oder eben des Landlebens annehmen kann.

Das Motiv für diese Art testosterongesteuerter Inkognito-Abenteuer – das menschliche Sexualleben – deutete Oscar Wilde in seiner Komödie nur an. „The Importance of Being Earnest“ hielt er übrigens selbst für sein bestes Stück, und tatsächlich weisen ihn ausgeklügelte Wortspielereien und Bonmots gerade hier als Liebhaber der Sprache aus. Die im Thalia Theater verwendete deutsche Fassung übersetzte Karin Rausch, Elfriede Jelinek bearbeitete diese Übersetzung. Sie benutzt die Sprache nicht dazu, sich direkt verständlich zu machen, aber sie verschleiert auch nicht wirklich. Sie jongliert mit der Sprache. Das endet im schlechtesten Fall in einer vorhersehbaren, verbalen Zirkusnummer, in den besten Momenten erzeugt sie Staunen und verblüfft durch trickreiche Wortwahl. Fast immer wirkt sie leichtgängig und funktioniert innerhalb des Stückes bestens. So wie der „Doppellader“, der auf die zweifache Identität eines Lügenbruders verweist und so für die doppelte Chance sorgt, es treiben zu können, denn „geladen“ sei er doch immer. Während die zukünftigen Bräute darüber spekulieren, wer von ihnen sich bereits hat „nageln lassen“, unterscheidet die wissende Gouvernante zwischen einer bewussten und einer bewusstlosen Reisetasche. Elfriede Jelinek dichtet Oscar Wilde konsequent weiter, treibt seine eher dezenten Wortspiele auf die Spitze und führt vieles, was er nur andeuten konnte, drastisch, aber folgerichtig fort. Anna Bergmann erweitert diese Sprachwelt zusätzlich um Texte des Briten Sebastian Horsley, eines „vergnügungssüchtigen Taugenichts“ des Jahrgangs 1962, der mit seinen Memoiren „Dandy in der Unterwelt“ Aufsehen erregte. Horsley beschreibt darin ein biologisches Phänomen, das sich bestens als Metapher für die beiden heiratswilligen Mädchen eignet: „Die juvenile Seescheide schwimmt auf der Suche nach einem Felsen, den sie zu ihrer neuen Heimstatt machen kann, durchs Meer. Wenn sie schließlich einen solchen gefunden hat, dockt sie an und beginnt unverzüglich, das eigene Gehirn zu verdauen. Sie braucht jetzt keines mehr. Sie ist glückselig zu Hause.“ Männer als Felsen. Und Frauen als Seescheiden.

 

Ernst oder Spiel

Antagonismen dieser Art fordern zu einer Stellungnahme philosophischer Natur geradezu heraus: Ist das Leben ein Spiel, das mit Leichtigkeit und Lust angegangen werden will? Oder braucht es den nötigen Ernst, um im Leben bestehen zu können? „Ernst ist das Leben“ behauptet die deutsche Übersetzung relativ frei nach Oscar Wilde und mit klarer Distanz zum englischen Titel. Nicht nur die Handlung, sondern erst recht die Jelinek’sche Sprache führt diese Behauptung ad absurdum. Doch vor allem ist es Anna Berganns Regie, die einen Kosmos entwirft, der vor Spiellust mitunter birst. Die Teezeremonie in der Stadtwohnung beispielsweise beginnt mit dem englischen Original-Text, macht zunächst das britische Traditions-Ritual lächerlich, um dann lustvoll und großflächig die Fassade fragwürdiger Konventionen bröckeln und schließlich einstürzen zu lassen: Die wohlbehütete Tochter Gwendolen, deren Verheiratung ein Geschäft ist, das von der Mutter mit Menschen verachtendem Ehrgeiz betrieben wird, entpuppt sich als lüsternes Mädchen mit frivolen Redensarten – und stellt damit beinahe ihren zukünftigen Gatten in den Schatten. Auf dem Land geht es bald ebenso wenig unschuldig zu: Cecily, dazu verdammt, deutsche Grammatik und anderen staubtrockenen Stoff zu exerzieren, sehnt sich nach deutlich weniger Trockenheit in ihrem Leben – und dabei denkt sie weniger an das Blumengießen, zu dem sie zwanghaft Zuflucht nimmt, sondern mehr an den als gründlich verdorben beleumundeten „Bruder“ ihres Vormunds; der springt unerwartet erst in den Garten, dann in den Pool und endlich auch Cecily an. Anna Bergmann gönnt dem Publikum das Amüsement aus vollem Herzen, doch hinter all dem Spaß, den das Spielen und das Zusehen fraglos macht, lässt sie andere Ebenen durchscheinen: Kritik am Konformismus und dem angepassten, weiblichen Rollenverständnis, den die „Seescheiden“ zu Markte tragen, wenn sie glauben, man müsse nur den richtigen Mann heiraten und alles andere käme danach wie von selbst. Und die Kehrseite der sogenannten Sicherheit, die so erstrebenswert erscheint, indes ohne Unfreiheit nicht zu haben ist – egal, ob es um den Männertraum oder um Traummänner geht.

Diese ambivalente Stimmung zwischen Spiel und Ernst unterstreicht die musikalische Begleitung in idealer Weise. Die Schauspieler singen live bekannte Lieder von Elvis Presley, Marilyn Monroe, Rocko Schamoni und anderen. Ihre unperfekte Sangeskunst und die Songauswahl findet ein gut ausbalanciertes Maß zwischen der gezielt gesetzten Emotionalität, die das Publikum auf direktem Weg erreicht, und einer übersteigerten, ironisch gebrochenen Stimmung, die Zweifel erwecken, wenn sich weibliche und männliche Dandys ansingen: „...and I will love you ’til the end of time!“


Dagmar Ellen Fischer