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Büchner contra Broadway

Starkes Stück. Und über allem das Netz. Unter allem das Netz. Das Netz, ausgespannt in der leeren Schwärze des Bühnenraums – senkrecht steil eine Gitterwand, an der Menschen hängen, so der Hauptmann als Gekreuzigter; leicht geneigt als Steilwand, an der Schauspieler wie Bergsteiger empor klettern oder halsbrecherisch in den Raum ragen wie ein vom Körper ausgestreckter Arm. Dabei immer deklamierend oder singend: Beinahe-Akrobatik auf dem Weg zum Tanztheater. Das Netz und die Stimmen. Die Stimmen und das Netz - einmal Boden oder Erde, einmal schräges Dach; einmal Wiese, einmal Trampolin, einmal Hängmatte und einmal Spinnennetz, in dem sich die Spieler verfangen und verheddern, mit ihren Gesten, mit ihren Worten, in ihrem Schicksal. Ob senkrecht stehend oder waagerecht lagernd, ob die Schauspieler vor oder hinter ihm, auf ihm oder unter ihm spielen, immer verkörpert das im riesigen Rahmen aufgespannte Netz eine durchlöcherte Fläche, ein durchlöchertes Sein, bodenlos, abgründig. „Jeder Mensch ist ein Abgrund“ sagt Woyzeck und das Netz, fast die einzige Requisite auf der Bühne, steht hierfür als starke Metapher. Beredtes Zeichen aus geknüpften Fallstricken, über die Menschen kriechen, stolpern, balancieren, auf dem sie über dem Abgrund tänzeln, in das sie fallen - kongenial zur Sprache Büchners, die ebenfall wie durchlöchert wirkt, ein alter Fetzen, der weder zur Verständigung taugt noch zur Verfertigung von anmutigen Bildern im Kopf des Betrachters. Wuchtige Sprachbrocken, wie in Holz geschnitzt, stehen die Sätze splittrig im Raum. „Was sagst Du? Nix!“

Dabei sind sie von einer existenziellen Schwere, als könne man jedes einzelne Wort mit der Hand fassen und wiegen. Tiefsinn oder Schwachsinn, die Grenzen sind durchlöchert wie das Netz auf, an, unter dem sich alles abspielt. „Woyzeck. Er sieht immer so verhetzt aus. … Wir gemeinen Leut, das hat keine Tugend.“ Plastisch geformt wie Kugeln von Gewicht, so rollen die Formulierungen von der Bühne in den Zuschauerraum. Zwischen Büchners Wortkunst, die lakonisch, spröde und kantig wirkt, wie expressionistische Holzschnitte, immer wieder die Songs von Tom Waits: fifty-fifty im Verhältnis zur gesprochenen Sprache. Manches Mal glaubte ich mich in Brechts und Weills Dreigroschenoper bei Peachum und Mackie Messer.

Eine seltsame aber wirksame Kontrastkoppelung, wenn die Inszenierung die Grenze zum sentimentalen Musical bisweilen streift und manchmal auch übertritt. Eingeklemmt zwischen vorderster Sitzreihe und Bühne spielt die Band, vom Dixieland bis zum Free Jazz. I got the blues /Schnitt/ Gerschwiniger Swing. Die Musik als Gefühlsvertiefer, manchmal wie Geschmacksverstärker, Kampf der Kulturen: Büchner contra Broadway.

Auch die Bilder, lakonisch und präzise inszeniert wie Büchners Sprache selbst, wechseln wie bei einer Holzschnittreihe in schneller Folge. Eindringlich, grell die einen und dann wieder lyrisch, in zarten Tönen gedruckt, die anderen. So das Eingangsbild, wo Woyzeck hinabsteigt auf die Erde, auf einer endlosen Strickleiter, nachdem der Aufstieg zur Sonne, zum Mond und zu den Sternen nichts gebracht hat – keine Erkenntnis, keine Erlösung, nichts. Und dann das Schlussbild, genial. Maries toter Körper gleitet durch das ein Ufer markierende Netz hinab auf den Grund des Sees. Durch das imaginierte Wasser schwebt in die Tiefe ganz langsam, ganz behutsam, der gemordete Leib, schlaff und schwer. Endlich ist Ruhe. Zu ihr schwebt laut, sich ein letztes Mal gegen das Schicksal aufbäumend, Woyzeck, ihr Mörder, um sich an sie zu schmiegen, auf dem Grund des Sees, vereint im Tod, erlöst die Beiden. Eine starke Inszenierung.

Hubertus Gaßner ist Direktor der Hamburger Kunsthalle


Hubertus Gaßner