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Das großmaschige Netz des Lebens

Wie hingeworfen, als seien sie einer wie der andere aus dem schwarzen (Bühnen)Himmel gefallen, liegen die Figuren bäuchlings, mit ausgestreckten Armen auf einem großmaschigen Netz aus Seilen und singen „Misery’s the river of the world“, einer wie der andere gestrandet an diesem Fluss, hilflos verfangen im großmaschigen Netz des Lebens. Noch singen sie einträchtig vom Elend, das sie teilen, bevor sie beginnen, einander das Leben zur Hölle zu machen. Aus demselben schwarzen Himmel fällt eine weiße Strickleiter, an der Woyzeck keuchend absteigt - für ihn hat diese Jakobsleiter nur eine Richtung – immer nach unten. Dass da oben in diesem fernen Himmel ohnehin so wenig zu holen ist wie auf der Erde, nämlich nichts, hat uns die Stimme der Großmutter aus dem Off wissen lassen. Fast tonlos erzählt sie das trostlose Märchen vom unbehausten Kind - noch bevor Woyzeck mit seinem ganz eignen Unglück die Probe aufs Exempel machen kann.

Es sind starke, vieldeutige, zutiefst beeindruckende Bilder, mit denen diese Inszenierung vom ersten Moment an signalisiert, dass sie auf mehr aus ist als auf das Sozialdrama, das erzählt vom ausgebeuteten und erniedrigten Soldaten Woyzeck. Sie zeigen, dass man hier entschlossen ist, auf vordergründige und allzu naheliegende Aktualisierungen zu verzichten und Büchners Text einen theatralen Raum zu öffnen, der Woyzeck und seinen Peinigern eine andere Art von Aufmerksamkeit zukommen lässt.
Hier soll nicht, wie sonst so gern, das gehetzte, getriebene, unartikulierte Opfertier ausgestellt werden, das bestenfalls unser Mitleid verdient.
In Jette Steckels Blick auf das Stück darf der von dunklen Ahnungen und Halluzinationen heimgesuchte Soldat Woyzeck damit rechnen, dass das Theater ihm eine Art von Aufmerksamkeit schenkt, die das Leben „draußen“ solchen wie ihm gewöhnlich vorenthält. Statt an unser so leicht zu habendes soziales Mitleid zu appellieren, will uns diese Inszenierung ein Gefühl dafür geben, „dass selbst der Geringste unter den Menschen so groß ist, dass das Leben noch viel zu kurz ist, um ihn lieben zu können“, wie Büchner den Prinzen in „Leonce und Lena “ sagen lässt.
Mit dieser Maxime hat Büchner das Theater revolutioniert. Zum ersten Mal hat er mit dem armen Soldaten und Mörder Woyzeck einen der Geringen ans Licht geholt, hat ihn vom Rand ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt und ihm die Würde eines Protagonisten verliehen, einer tragischen Figur. Und er hat ihm eine Sprache gegeben. Verworren ist diese Sprache, stammelnd, zerrissen von dunklen Ängsten und Ahnungen, von unheimlichen Visionen und düsteren Prophezeiungen. Und doch eine Sprache voller poetischer, hellsichtiger Bilder.

So fremd, so verloren Felix Knopps Woyzeck sich fühlt in der Welt, so inständig versucht er, sie und ihre undurchschaute Ordnung zu verstehen. Ständig muss er hören, er philosophiere ja schon wieder. „... du denkst zuviel, das zehrt; du siehst immer so verhetzt aus“, mahnt ihn der Hauptmann. Doch Woyzecks verzweifelte Grübeleien laufen ins Leere, sie reiben sich wund an der trostlosen Enge seines Lebens, in der sich einzurichten ihm nicht gelingen will. Er weiß, dass es für einen wie ihn keine Erlösung gibt: “unsereins ist doch einmal unselig in der und der andern Welt.“ „God’s away on business“ hatte der „aufgeklärte“ Doktor ohne Bedauern gesungen – er schien ihn nicht zu vermissen.
Von seinen derart gottvergessenen Peinigern, selbsternannten „Gutmenschen“ und Tugendwächtern wie dem Hauptmann, wissenschaftshörigen Fortschrittlern wie dem Arzt oder eitlen Potenzbrocken wie dem Tambourmajor erniedrigt, ausgenutzt und gedemütigt als einer, der „keine Moral“ und „keine Tugend“ hat und seiner triebhaften Natur willenlos ausgeliefert ist, flüchtet Woyzeck in Halluzinationen, die ihn martern und immer häufiger den Wahn streifen. „Es geht hinter mir, unter mir.... Hohl, hörst du? Alles hohl da unten! Die Freimaurer!“ oder: „Still, alles still, als wär die Welt tot.“ Ein hellhöriger Wahn ist es, der ihn umtreibt und ihn am Ende töten lässt, was er liebt.

Büchners radikal desillusionierter Blick auf die Welt „als einen ewigen Gewaltzustand“, jene heillose Ernüchterung, die sich in „Dantons Tod“ als philosophisch grundierter geschichtspessimistischer Diskurs artikuliert, von den ermüdeten Revolutionären mit aller sprachlichen Eloquenz vorgetragen, wird im „Woyzeck“ von einem der „Geringen“, einem vereinzelten Individuum körperlich, am eignen Leibe gleichsam erfahren, durchlitten und auf seine instinktive Weise artikuliert.
Zutiefst bewegend, wie Felix Knopp das Leibhafte von Woyzecks philosophischer Erfahrung, das Vegetative seines Denkens, das „Animalische“ seiner „Natur“ übersetzt in eine Körpersprache, die wir sofort verstehen, die wir lesen können als wär’s ein Stück von uns...
Spätestens jetzt aber ist von dem zu sprechen, was nicht nur Knopps Woyzeck sondern auch allen anderen Figuren bei ihrer „Übersetzungsarbeit“ ins Körperliche genial zuarbeitet: der Bühnenraum und in seinem Zentrum das überdimensionale Netz, auf, unter, an dem ein Großteil dessen sich abspielt, wovon im „Woyzeck“ erzählt wird. Je nachdem, wie die Figuren sich darauf, darunter und daran schwankend, tastend, kriechend und fallend bewegen, wechselt das Netz fast unmerklich seine Funktion und seine Bedeutung - samt den begleitenden Assoziationen: Man denkt an das viel beschworene soziale Netz, durch das die Figuren - hier buchstäblich - fallen, das sie auffängt oder eben nicht; es kann wie im ersten Bild das große Fangnetz sein, in dem sie wie Treibgut gestrandet zappeln; es kann der wankende Boden sein, auf dem sie sich unsicher bewegen und es lässt den Abgrund ahnen , in den sie durch die Risse im Boden schauen- „Es geht hinter mir, unter mir.... Hohl, hörst du? Alles hohl da unten! “
Wie ein im Schlachthaus am Haken hängendes Tier kann der durch „wissenschaftliche“ Versuche des Doktors gemarterte Woyzeck kopfunter am Netz baumeln und sich, weil er nicht auf Befehl pissen kann, rechtfertigen müssen für seine „tierische Natur“ und die Abwesenheit des freien Willens. Wie zwei plastische Comicfiguren ans senkrecht gestellte Netz geheftet können der Arzt und der Hauptmann ‚bodenlos’ ihre wahrlich abgehobenen, realitätsblinden, ja wahnhaften Selbstbeweihräucherungen austauschen - was Philipp Hochmair zu einem höchst komischen, frei schwebenden Kabinettstückchen animiert (zum Glück ist er angeseilt...).
In die Horizontale gestellt wird das tief hängende Netz wie von selbst zur Decke und lässt den leeren Raum darunter bedrückend eng aussehen. Diese Enge herrscht nicht allein in Maries Kammer - „unsereins hat nur ein Eckchen in der Welt..“ -, sie kennzeichnet auch die Szenen in den „öffentlichen“ Räumen (Straße, Wirtshaus, Kaserne...), in denen sich die Figuren wie von oben bedrängt unter dieser tief hängenden Decke bewegen.
Kurz: mit diesem grandiosen Bühneneinfall, einem simplen gerahmten Netz, das Raumelement und so gut wie einziges Requisit ist, gelingt es Jette Steckel, auf komplexe Weise sowohl von der dumpfen Enge als auch von dem schwankenden Grund, der Bodenlosigkeit von Woyzecks Welt und seinem Leiden an ihr zu erzählen. Es ist eine Welt, die die, die auf ihr zu gehen versuchen, nicht trägt und für Woyzeck nur eine Lektion bereithält: “Jeder Mensch ist ein Abgrund; es schwindelt einem, wenn man hinab sieht.“ Und als er seine geliebte Marie - „ich hab sonst nichts auf der Welt“- mit in diesen Abgrund hinabreißt, da geschieht das so unausweichlich, so beiläufig, so einverständig fast, als könnte es nicht anders sein.
„Everything goes to hell“ hatte Marie zusammen mit dem Tambourmajor gesungen und so auf ihre verzweifelte Weise zu ihrer und Woyzecks gemeinsamen Höllenfahrt beigetragen.

Ursula Keller ist Journalistin, Dramaturgin und Autorin. Von 1992 bis 2005 leitete sie das Literaturhaus Hamburg.


Ursula Keller