Ödip
us, Tyran
n

"Unter Undenkbarem wandelnd …“

„Ödipus, Tyrann von Sophokles nach Hölderlin von Müller“ im Raum von Mark Lammert inszeniert von Dimiter Gotscheff am Hamburger Thalia-Theater¹

(1) Ödipus (…) nach Hölderlin von Müller

Als Thema des Sophokles bezeichnete Friedrich Hölderlin in seinem Kommentar zu dessen „Antigonä“ „des Menschen Verstand, als unter Undenkbarem wandelnd“. Eine merkwürdige Formulierung, die sich erst beim zweiten oder dritten Lesen erschließt: Inmitten der Epoche Hegels und der spekulativen Überwindung jener radikalen Krise von Subjekt und System, die mit Kant in das Denken gekommen war, formuliert hier jemand eine Selbstbegrenzung dessen, was dem Menschen möglich ist, was in seiner Macht steht. Dem korrespondiert der Beifall, den Hölderlin in seinem berühmten Brief an den Dichterfreund Böhlendorf dessen Entscheidung spendet, das Drama „epischer“ zu behandeln:

Das hat Dein guter Genius Dir eingegeben, wie mir dünkt, daß Du das Drama epischer behandelt hast. Es ist, im Ganzen, eine echte moderne Tragödie. Denn das ist das Tragische bei uns, daß wir ganz stille in irgendeinem Behälter eingepackt vom Reiche der Lebendigen hinweggehn, nicht daß wir in Flammen verzehrt die Flamme büßen, die wir nicht zu bändigen vermochten.

Hölderlins Denken von Endlichkeit, das sich hier im Verweis auf die menschliche Zeitlichkeit und Sterblichkeit artikuliert, begründet in diesem gleichermaßen poetologischen wie theatrologischen Text, daß der Dichter zu einem „wir“ zu kommen in der Lage ist, das sich vom hegelschen „wir“ der Aufhebung des Besonderen im Allgemeinen insofern unterscheidet, als die darin behauptete Gemeinsamkeit diejenige der geteilten Sterblichkeit und Mittelbarkeit ist. Dieses Denken bestimmt auch Hölderlins Blick auf den „Ödipus“, das Stück, dessen „Verständlichkeit“ ihm zufolge darauf beruht, „daß man die Szene ins Auge faßt, wo Oedipus den Orakelspruch zu unendlich deutet, zum nefas versucht wird.“ Er schreibt:

Nämlich der Orakelspruch heißt:

Geboten hat uns Phöbos klar, der König, Man soll des Landes Schmach, auf diesem Grund genährt, Verfolgen, nicht Unheilbares ernähren.

Das konnte heißen: Richtet, allgemein, ein streng und rein Gericht, haltet gute bürgerliche Ordnung. Oedipus aber spricht gleich darauf priesterlich:

Durch welche Reinigung, etc.

Und gehet ins besondere,

Und welchem Mann bedeutet er dies Schicksal?

Was dieser Anmerkung zufolge die Verfehlung des Oedipus ausmacht, ist nicht etwa, wie es andere Deutungen nahelegen, der Verstoß gegen göttliche Gesetze oder das Tabu des Inzests, sondern sein Vergessen der condition humaine, eben des Gebotes der Endlichkeit und Mittelbarkeit. Indem er „priesterlich“ spricht, maßt er sich eine Einsicht, eine Unterscheidung und letztlich einen Richterspruch an, der eine klare Grenze zieht zwischen dem, was zur Gemeinschaft gehört und dem, was sie verunreinigen würde - eine Entscheidung, die über das ihm vom menschlichen Verstand aus Verstandesgründen zu setzende, begrenzte menschliche Maß hinausgeht. Und seine Tragik wird letztlich darin bestehen, daß er - eben durch sein Ins-Besondere-Gehen, das zugleich ein Aussondern ist - eben jenen Ausschluß und jene Verdammung des Schuldigen ausspricht und damit zum Gesetz macht, der er selbst später unterliegen wird. Nicht also den Göttern fällt Ödipus Hölderlin zufolge zum Opfer, sondern der eigenen Anmaßung, im göttlichen Auftrag und mit göttlicher Autorität selektieren zu dürfen, zu reinigen, was irreduzibel unrein bleiben muß. Wie wenige andere hat Heiner Müller in seiner Ödipusbearbeitung sowie in dem sie begleitenden Kommentar die Aktualität dieser Hölderlinschen Lektüre begriffen und zum Thema erhoben: Hölderlin scheint ihm der Denker eines Kommunismus (avant la lettre) zu sein, der diesen radikal von Endlichkeit her denkt und insofern auch als eine Gesellschaftsform, die in allem auf die eigene Begrenztheit zu reflektieren hat und deshalb letztlich nicht anders denn als eine undarstellbare Gesellschaft gedacht werden kann; nicht einfach als kommende Gesellschaft, sondern als eine immer noch kommende Gesellschaft.
In seiner Deutung von Müllers noch kaum diskutierten, noch wenig gelesenen Äußerungen zu Sophokles hebt Michael Ostheimer hervor, daß Müller dabei zugleich eine philologische Entdeckung in der Lektüre des Sophokles gemacht habe: Aufgefallen sei ihm, daß der Ödipus jene Trennung von Theorie und Praxis zum Gegenstand erhebe, die ungefähr zeitgleich mit dem Stück in der griechischen Gesellschaft entstanden sei und in ihrer letzten Konsequenz zu jener Verselbständigung der abendländischen Vernunft geführt habe, an deren Ende die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen wie der Atombombe von Hiroshima stand. Wo Theorie nicht mehr auf die Praxis bezogen bleibt, der sie sich verdankt, und das Töten schließlich nur noch einen von all seinen Folgen abstrahierenden Knopfdruck (oder, jüngst in Afghanistan, einen Anruf bei den befreundeten Truppen) braucht, da verliert es das Bewußtsein der Übertretung der Sphäre der Mittelbarkeit und Endlichkeit und damit dessen, was im Tötungsakt unwiederbringlich zerstört wird. Es wird zum abstrakten, nur noch in nichtssagenden Zahlen sich ausdrückenden Verwaltungsvorgang. Seine Vorbereitung aber wird in jenem Sinne „süß“, wie es in einem vielzitierten Satz der Physiker Oppenheimer ausdrückte, als er davon sprach, daß die Entwicklung einer noch wirksameren Bombe in technischer Hinsicht „sweet“ sei. Müller zitiert in seiner Fassung des Ödipus den Satz, wenn er Ödipus sagen läßt: „denn süß ist wohnen / Wo der Gedanke wohnt, entfernt von allem“. Sein Ödipus ist der erste jener Techniker, die nicht länger nach den gesellschaftlichen Konsequenzen der Technik und ihrer Erfindungen fragten, die sie in einer von aller Praxis der Anwendung abgelösten Laborsituation erfanden. In seinem priesterlichen und zugleich richterlichen Reden manifestiert sich jene Logik, die Müller einmal auf die Formel vom „Terror, der einsetzt, wenn Praxis theoretisch wird“, brachte. In seinem Verdikt negiert er die besondere Situation zugunsten einer allgemeinen Regel, der er dann wiederum den besonderen Fall unterwirft. Tragischer Weise wird es sein eigener gewesen sein.

(2) „Raum greift Menschen“

Ein großer gelber, elliptisch geformter Ballon, dessen kugelförmiges Ende nach unten weist, hängt über den Köpfen der Thebaner, die in Dimiter Gottscheffs Inszenierung von Heiner Müllers Fassung des Sophoklesschen „Ödipus“ im von Mark Lammert eingerichteten Bühnenraum agieren. Er hängt zu Beginn, sich drehend an einer unsichtbaren Seilkonstruktion, in der linken Bühnenhälfte. Er wird später über die Bühne schweben, mal höher, mal tiefer, mal praller gefüllt, mal weniger prall. Eine große Pestbeule oder eine Keule, von der die Spielenden bedroht sind, ein Phallus oder ein Skrotum - was immer es letztlich sein mag, es ist in jedem Fall eine rätselhaft vieldeutige Skulptur, die wie das Gestalt gewordene Schicksal über den Köpfen der pestkranken Stadt und ihres verfluchten Königs hängt.
Die gelbe Skulptur ist auf den ersten Blick das einzige, was Mark Lammert dem Bühnenraum hinzufügt, der ansonsten in vollkommener Entblößung vor uns liegt, freigelegt bis auf die Brandmauern. Wir sehen die ungestalteten, von zahllosen technischen Operationen gezeichneten Wände und den verschlissen wirkenden schwarzen Bühnenboden. Außer dem gelben Farbfleck über den Köpfen bringt nur das blaue T-Shirt des Ödipus noch etwas Farbe in die Gestaltung der Bühne. Unter ihm bleibt an Hals und Ärmeln ein zweites, rosafarbenes T-Shirt sichtbar. Alle anderen, Chor und Mitspieler des Königs, sind in schwarz gekleidet. Der Chor steckt in Anzügen. Ödipus erscheint so von Beginn an als Außenseiter und Chamäleon, als einer, der herausfällt und dessen zwei T-Shirts auf seine zwei ineinander verschachtelte, gleichermaßen vom Orakel aus dem Takt gebrachte Leben verweisen.
Die Leere und das wenige, was in sie an visuellen Reizen eingefügt ist, führt dazu, daß die Inszenierung einen vor allem anderen den Raum betrachten läßt. Spätestens, wenn sich der eiserne Vorhang hebt, spricht zunächst einmal, alles andere bestimmend und einem unverwerflichen Los unterwerfend, der Raum. Ihm, der in vielen Teilen der gegenwärtigen Theaterpraxis verschwindet, weil die Theater ihn als gegeben akzeptieren und vergessen, und der in anderen Inszenierungen nolens volens mitspielt, weil man ihn bestimmen will - und dabei nicht selten auf die Grenzen der unveränderbaren Architektur stößt - gilt hier das erste Augenmerk und schließlich das letzte Wort: „Raum greift Menschen“.
Raumgreifend ist tatsächlich die Inszenierung an diesem Abend. Sie beginnt am äußersten Rand der Rampe, in für die ersten Reihen quälender Nähe zum Publikum. Sie breitet sich später bis auf den zweiten Rang aus, von dem eine aus dem Dunkel tönende Stimme die heillose Nachricht des Boten übermittelt. Und sie infiziert uns Zuschauer gleichsam mit dem Virus Thebens, wenn kurz vor dem Ende der Chor, die pestkranke Menge sich zu uns ins Publikum setzt. Er ist Teil von uns, ist es dort, in der griechischen Vorgeschichte unserer heutigen Demokratie, geworden. Seine Pest ist unsere. Zugleich führt diese Überschreitung der Rampe und die gleichzeitige Entleerung der Bühne von allem Zierrat dazu, daß der Raum des Spiels im Thalia-Theater, in dessen so ganz dem Paradigma des bürgerlichen Sprechtheaters verschriebener Architektur, an diesem Abend eine Reminiszenz an das griechische Amphitheater einschreibt, an dessen Spieler und Betrachter umfassendes Rund denken läßt. Die Pforte in seiner Mitte deutet dabei gleichsam die Skéné an. Umso mehr fällt ins Auge, wie häufig wir in diesem modernen, durch seine Guckkasten-Theatervorstellung geprägten Haus nichts oder zu wenig sehen. Nicht selten hindert die Ausweitung des Spielraums bis in die nur von einigen Plätzen aus sichtbaren Teile der Bühne zwei nebeneinander sitzende Betrachter daran, ein und dasselbe zu sehen. Spätestens, wenn wir die zwei ineinandergeblendeten Bühnenformen entdeckt haben, die zwei aufeinander aufbauenden und doch letztlich gänzlich unvereinbaren Dispositive abendländischen Theaters, die hier zugleich wahrzunehmen sind, fällt unser Blick in diesem Raum auf alles, was den Raum zum funktionalen macht. Wir begreifen den Raum als den von einer modernen Geschichte, die in Italien beginnt und über Frankreich nach Deutschland führt, verstellten, offenen griechischen Raum, als zurechtgemachtes Instrument, das eben in seinem Funktionieren zugleich uns funktionieren läßt. Wir nehmen das Theater auch als eine Art von Fabrik wahr. Eine Fabrik des Blickens.
Mark Lammerts minimalistische, doch in ihrem Minimalismus umso pointiertere Ausstattung, überhaupt die räumliche und szenische Einrichtung setzt an diesem Abend gewissermaßen das Paradigma der Inszenierung: Es ist eine Inszenierung, die sich nicht anbiedert beim Publikum, die ihm kein schnelles kulinarisches Vergnügen bereitet und kaum Krücken zum Verständnis reicht. Befremdet wie der vorgegebene Raum wird auch das vorgegebene Stück betrachtet, in einer Weise, die nicht zuletzt Müllers Akzentuierung, seine Unterstreichung der Gewalttätigkeit und Rohheit der griechischen Welt, auf die Bühne überträgt. „Ödipus“, die vielleicht bekannteste und häufig als Paradebeispiel der Gattung begriffene Tragödie, erscheint fremd, mitunter kaum nachvollziehbar. Doch gerade diese Fremdheit ist es, die umgekehrt erlaubt, das Stück überhaupt erst wieder zu hören und zu sehen, neu wahrzunehmen. Wie uns Lammerts Ausstattung eine poetische, das heißt: eine von Vieldeutigkeit, Ambivalenz und dabei auch von einer fremden Schönheit geprägte Erfahrung ermöglicht, so auch die Schauspielkunst der Darsteller und die Inszenierungskunst des Regisseurs.

(3) Vom Anfang zum Ende

Auch Dimiter Gotscheff hat es, um das zitierte Diktum Hölderlins aufzugreifen, sein guter Genius (oder wer auch immer) eingegeben, daß er das Drama episch behandelt: Bevor wir die Geschichte von Ödipus auf der Bühne sehen, erfahren wir sie in seiner Inszenierung im „Ödipuskommentar“ Heiner Müllers vor dem eisernen Vorhang. Erscheint das „Schicksal“ in Müllers Text als eine Folge von Schritten, deren erster, aufhaltsamer, den nächsten, unaufhaltsamen, nach sich zieht, so wird in Oda Thormeyers Deklamation des Kommentars deutlich, daß die Inszenierung diese eigenartige tragische Verstrickung nicht zuletzt in das Sprechen übersetzen wird. Müllers Text erscheint als eine Sprache, die nicht der Sprechenden gehört, sondern von ihr gleichsam im grellen weißen Licht aus- und in den Raum gestellt wird. Sie läßt uns so vor allem ein den Abend prägendes Verständnis des Textes erfahren, der die unheilvolle Handlung transportiert: Er gehört nicht den Sprechenden. Eher gehören sie ihm, werden von ihm bewegt. Der Text ist gleichsam ihr Schicksal.
Wenn es das Merkmal epischen Theaters ist, daß darin auf den Gang statt auf den Ausgang zu achten ist, so könnte die Inszenierung von Dimiter Gotscheff als eine geradezu beispielhaft epische bezeichnet werden. Denn wenn sich der Vorhang hebt, ist - in Müllers unnachahmlich lakonischem Kommentar - eigentlich schon alles gesagt worden. Und nun, kein Zweifel, wird unser Blick auf den Gang gelenkt. Zunächst auf denjenigen des Ödipus von Bernd Grawert. Im Hintergrund krabbelt, stakst, steht und fällt er mit gekreuzten Beinen. Sein von Verkrüppelung geprägter Gang kennzeichnet ihn von Beginn an als Gezeichneten: Ein Kindmann oder ein Mannkind, das sich erst in die richtige Position bringen muß und dessen Brutalität nicht zuletzt jene eines Kindes ist, das sich noch nicht kennt. Vor ihm sitzt mit Blick zu uns und offenen, weit gespreizten Beinen Jokaste (Karin Neuhäuser) auf einem Hocker. Es ist, als sollte uns ihre Mutter- und Täter- und seine Kinder- und Opferrolle zunächst auf diese Weise gewissermaßen in einer Monade gezeigt werden, bevor wir diesen Rollen in ihrer Entfaltung und mit ihrer Begründung in der zu Beginn der Sophoklesschen Tragödie noch unbekannten Geschichte allmählich im Spiel begegnen. Mann und Frau bzw. Sohn und Mutter werden beäugt von einem kaum sichtbaren Dritten, in diesem Fall von Bibiana Beglau, die Kreon und zugleich auch Tiresias und den Diener spielen, in sich dergestalt drei Rollen vereinen wird, denen gemein ist, daß sie Ödipus als Mandatare einer anderen - wie sich zeigen wird: höheren - Macht belauern und belagern und die in jedem Fall erkennen lassen, wie wenig souverän und wie sehr in der Tat unter Undenkbarem wandelnd dieser vermeintlich souveräne Tyrann tatsächlich ist. Ödipus, den die Tradition des Idealismus und die Psychoanalyse zum Inbegriff des Subjekts, des Bewußtseins und des Individuums erhoben hat, dieses tyrannische "Ich" ist nicht Herr in seinem Haus, ist vielmehr Erfüllungsgehilfe der ihm vorausgehenden Machtstruktur, in der er auftritt, dabei unübersehbar dezentriert durch seinen Schwellfuß.
Wenn Jokaste in der ersten Szene abgeht, dann tritt der Chor auf, eine schreiende, gequälte Masse, vielleicht pestkrank, in jedem Fall zitternd und bebend, ein Subproletariat, wie man aus seinem barfüßigen Auftreten vermutlich schließen darf, geführt von einem Chorführer (Patrycia Ziolkowska), doch beherrscht vom jeweiligen Souverän der Szene. Die sieben Schauspielschüler, die zu ihm vereint sind, stellen mal applaudierende Gefolgschaft, mal Mob, mal den sichtbar gemachten Ausdruck der Wirkung der Worte des Machtspieles dar, das sich Ödipus und seine drei - hier von einer Schauspielerin gegebenen -Gegenspieler liefern. Der Chor umgibt den blinden Seher, wenn dieser, einem Vogel gleich, auftritt, als Vogelschar. Er läßt sich einnehmen von den Worten des Ödipus und ist im Verlauf der Handlung in seinen Bewegungen sichtbar hin- und hergerissen zwischen dem Tyrann und seinem jeweiligen Antagonisten, er ist Schwung- und Bremsmasse, das Volk, ein weiterer unsouveräner, von unbekannten Kräften regierter Souverän, der die Wirkung des auf der Bühne gesagten vor Augen stellt wie Sand die unsichtbaren Schwingungen von Tönen. Er nimmt die Impulse der Reden auf der Bühne auf und drückt sie aus: schreit, spricht, plappert nach. Wenn ihm von Ödipus eingeheizt wird, verwandelt er sich in eine hetzerische Meute, im Umkreis des Tiresias werden die Choreuten zu Geiern. Wenn Heiner Müller einmal konstatierte, daß es „ein Grundproblem des deutschen Theaters sei, daß die Schauspieler nicht mit den Füßen sprechen. Der Text kommt meistens nur aus dem Kopf.“, so beschrieb er damit nicht das Theater Dimiter Gotscheffs. In ihm sprechen zunächst die Füße und eine von den Versfüßen dem normalen Gang der Rede entfremdete Sprache. Erst später, ungefähr im letzten Drittel der Tragödie sprechen auch die Köpfe. Dann wandelt sich die Inszenierung von der eines Dramas vor dem Drama zu der des Dramas seiner Heldin.
Denn die in ihrer Differenz zu den anderen bemerkenswerteste Schauspielerin des Abends ist Karin Neuhäuser, die zunächst die Jokaste und später, wenn diese sich nach der Erkenntnis des Frevels das Leben genommen hat, deren Magd spielt. Aus der am Anfang grob wirkenden Herrscherin wird später, unterm Eindruck des Schicksals die geängstigte, erschütterte Mutter und Frau, die das Unheil erfährt und am Ende nicht mehr kann. Wenn Karin Neuhäuser von ihrem Tod erzählt, dann bricht ihr Ton dabei in jeder Silbe mit der Künstlichkeit der bis dahin zu hörenden Sprache. Ausgenüchtert bis zum Exzeß, in brechtscher Weise das Pathos durch den Gestus des Privatisierens brechend, setzt sie mit ihrem Ton in dieser Inszenierung eine Zäsur. Es ist, als sehe man mit einem Mal statt dem in Erfüllungsgehilfen sich mechanisch bewegenden Räderwerk der Macht eine, die darin umkommen muß. Inmitten der plötzlich in ihrer Stilisiertheit und Artifizialität brutal erscheinenden Tiraden hört man hier einen Tonfall, der gerade in seiner Menschlichkeit, nein: seinem Menscheln als der künstlichste überhaupt an diesem Abend erscheint.
Wer die Inszenierung mehrfach gesehen hat, der wird feststellen, daß im Lauf der Vorstellungen gleichsam das ganze Ensemble dieses Abends von diesem unerwarteten, eigenartig fremd und fehl am Platz wirkenden Ton, von Karin Neuhäusers Poesie der Menschlichkeit, angesteckt worden ist. Ödipus verliert im Spiel mit ihr jene Künstlichkeit, die sein Spiel zunächst und über lange Strecken als gestisches erscheinen lassen, als zitiertes Sprechen und Spiel an der Grenze zum Tanz. Im Gespräch mit Jokaste wird aus diesem von seinen Worten bewegten Mann ein Mensch, der mit einem anderen Menschen spricht, später, wenn sein Glück jäh durch den Botenspruch beendet wird, verwandelt er sich von hier aus in ein humpelndes Wrack, am Ende gar zurück in jenes kindisch-tierisch-hündische Wesen, als das er zu Beginn in Erscheinung trat.

(4) „unter Undenkbarem wandelnd (…)“

Sophokles, Hölderlin, Heiner Müller - die drei Varianten des Ödipus, die im Titel des Abends auftauchen, sind in die Inszenierung von Gotscheff/Lammert gleichermaßen eingegangen und dort gewissermaßen aufgehoben: Die Inszenierung läßt das alte Stück als unauflösbar vielschichtiges und -deutiges Drama der Hybris, der Endlichkeit und der sich verabsolutierenden Theorie erkennbar werden. Im Durchgang durch die Varianten der Tragödie ist das Ensemble dieser denkwürdigen Inszenierung angekommen bei einem „Ödipus“, der die Varianten von Sophokles, Hölderlin und Heiner Müller aufhebt und doch nicht bei ihrer bloßen Reproduktion verharrt. Was Dimiter Gotscheff und Mark Lammert vielmehr zu sehen geben, ist „Ödipus“ als Drama der Tyrannei und des Überwachungsstaats, der Endlichkeit und ihrer Negation, vor allem aber des Fehlens von Souveränität. In allen auftretenden Personen, in deren Rede und ihrer Platzierung im Raum setzen sie in Szene, was es heißt, unter Undenkbarem zu wandeln. Unter „Undenkbarem wandelnd“ ist der Mensch nicht der Souverän seiner selbst, seiner Gesellschaft und seiner Geschichte, sondern vielmehr ein beständig mit der eigenen Endlichkeit konfrontiertes Wesen, mit einer Endlichkeit, die zunächst einmal als Einschränkung der eigenen Rationalität erfahren wird: Als Grenze der Vernunft und der Rationalität, die im Interesse der Vernunft zu respektieren ist und die erfahren wird als Einbruch des Körpers, der Vergangenheit, der Affekte und der Irrationalität von Massenprozessen. Diese unüberwindbare Schwellenerfahrung, die das Zeitalter der Vernunft, ja die Moderne seither, beständig durch Figuren wie diejenige der „Aufhebung“ zu überschreiten und ergo zu verdrängen versucht, wird in Gotscheff/Lammerts Inszenierung in der Tradition von Hölderlin und Müller nicht lediglich als Einschränkung, sondern zugleich als radikale Öffnung hin auf die Möglichkeit einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft begriffen, die freilich in diesem Stück nur modo negativo, in ihrer unübersehbaren Abwesenheit, aufscheint. Wenn der Mensch das Wesen ist, das als "unter Undenkbarem wandelnd" gedacht wird, dann ist damit die Absage an jede Form der vom Menschen eingenommenen göttlichen Haltung formuliert. Unter Undenkbarem wandelnd, sind die Menschen Gleiche, gleichermaßen begrenzt und definiert durch ihre unüberwindbare Endlichkeit, durch eine Singularität, die nicht die über- und unmenschliche eines Halbgottes, sondern vielmehr diejenige eines fehlbaren, niemals aus seinen Konflikten herauskommenden Wesens ist. Wo dagegen der jeweilige Mangel, der zugleich die jeweilige Singularität markiert, zum Verschwinden gebracht werden soll, da droht, wie man aus der Logik des „Ödipus“ formulieren könnte, die Katastrophe. Ein Ausweg ist innerhalb der Erzählung des Stücks nicht in Sicht.
Auf der Ebene der Inszenierung dagegen stellt die Arbeit von Gotscheff/Lammert eine Position buchstäblich in den Raum, die mehr ist als das Programm dieses Abends. Sie insistiert auf Theater als einem Raum der Geschichte, wobei sie Geschichte im Sinne des Schichtens begreift: In der Schichtung der Varianten von Sophokles, Hölderlin und Müller entdeckt sie die Urgeschichte der Katastrophen des 20. Jahrhunderts, bewahrt zugleich in ihrem kalten Blick auf deren Vorgeschichte die Utopie einer anderen Geschichte und dabei nicht zuletzt eine Alternative zu den im derzeitigen Stadttheater dominanten Tendenzen des von keinem Stoff mehr zu beeindruckenden Spaßtheaters auf der einen, des sich in seiner Künstlichkeit suhlenden Design-Theaters auf der anderen Seite. Wo Spaß- und Designtheater sich in der Indifferenz gegenüber Texten, Traditionen, Deutungen und letztlich noch gegenüber dem eigenen Ort in der Zeit und der Geschichte trifft, da insistiert die Arbeit von Gotscheff/Lammert in der Ausstellung des Textes, des Raumes, der Sprache, der Geschichte und letztlich des eigenen Standpunktes darin auf dem Theater als einem Ort, an dem das eigene In-der-Welt-Sein erfahren und erkundet werden kann - oder genauer: die eigene Weise, „unter Undenkbarem“ zu wandeln.  

Nikolaus Müller-Schöll ist Professor für Theaterforschung an der Universität Hamburg.

¹Der vorliegende Text ist die erste, noch unvollständige und unkorrigierte Version eines Beitrags zu einem von Artur Pelka und Stefan Tigges herausgegebenen Sammelband über das Gegenwartstheater nach 1945. Er darf, auch in Auszügen, nur nach Rücksprache mit dem Autor zitiert werden.


Nikolaus Müller-Schöll