Hans Christian Andersens Trip zwischen den Welten

Essay für das Programmheft von Benjamin von Blomberg

Hans Christian Andersen erzählt uns von seinem Leben, als sei es ein Märchen. Als sei es das Märchen einer wundersamen Verwandlung: vom hässlichen Entlein zum weißen, stolzen Schwan. Wer das Entlein war, davon erzählt er darin kaum. Seine Heimatstadt Odense in Dänemarks Provinz ist der Erwähnung eigentlich nur wert, weil eben er da 1805 geboren wird, die Mutter, da sie ihn gebar, der Vater, da er ihn zeugte – und sie beide ihn liebten. Sie wusch Wäsche, um für seinen Unterhalt zu sorgen, er, hand- und kunstfertig, machte Schuhe, zimmerte Betten aus Särgen, auch ein kleines Theater bastelte er, das der Sohn zum Spielen bekommen sollte. Und alles drehte sich nur um ihn: den hoch begabten, kleinen Jungen, der traum­tanzend durchs Leben ging, die Augen weit geöffnet, um von den Dingen, die er sah, erzählen und singen, um danach die Puppen tanzen lassen zu können. Die Welt, in die es das Entlein aber schließlich zog, war weit fort. So weit, wie die Flügel der Phan­tasie trugen.

Freilich kennt das Märchen auch das Widrige, Widerständige. Schmerzlich ist die Schwan-Werdung. Von Lehrern ist die Rede, die ihn willkürlich maßregelten, übervorteilen, ihm das Schreiben verboten; vom Ver­kanntwerden, als er, kaum 15-jährig in Kopenhagen angelangt, unbe­dingt ans Theater möchte. Als er vorspielt, vortanzt, vorsingt und alle über ihn lachen; es kennt die Schwermut. Am Ende seiner Schulzeit schreibt er: „Mutter, ich bin müde und ich sehne mich, zu schlafen an dem Herzen Dir“ – den Grusel aber kennt „das Märchen seines Lebens“ (so der Titel seiner Autobiographie) nicht. Keine Mütter, die saufen, wenn sie Wäsche waschen, nicht lieben, sondern vernachlässigen. Keine Väter, die verrückt werden über den Krieg, in den sie als Söldner ziehen. Keine unehelichen Stiefschwestern, totgeschwiegene und fort ge­scheuch­te, da um Geld sie bitten, krank vor Elend und Kummer. Keine fremden Männer, die aus und eingehen, in den Betten schlafen, in denen auch die Kinder schlafen. Keine Ängste, kein Größenwahn. Kein Skru­pel und fehlender Mut. Keine nicht zu kanalisierende Geilheit, kei­ne Hypochondrie, kein geltungssüchtiger Narzißmuss, nicht die Spur verletzten Stolzes. Widrig, widerständig ist sie schon die Welt – aber unüberwindbar? Nein. Am Ende des Märchens steht ein Ideal: der weiße, kein schwarzer Schwan. Und wir wissen heute, wie sie damals wussten: dieser Schwan ist selten. Er ist weiß und schön und stolz und frei!

Andersen inszeniert Andersen, und: die Welt schaut ihm dabei zu

Und Andersen wurde von Königen empfangen! Er war wohl der erste Popstar der Literatur­geschichte. Er reiste durch die Welt und sie empfing ihn. Sie feierte ihn, verehrte ihn – schließlich, am Ende seines Lebens, würde ganz Odense ihm zu Ehren in tausenden und abertausenden Lichtern aufgehen. Er hatte erreicht, was er wie nichts anderes mit größter Unbedingtheit erreichen wollte: berühmt zu sein; da er verstand, was hierzu von ihm gefordert war, zu betrügen. Die Welt mochte nicht wissen, wer er wirklich war. Sie wollte Geschichten hören. Also erzählte er Geschichten. Früh schon hatte er begonnen, autobiographische Skizzen zu er­stellen, zu entwerfen, wer er alles sein könnte. Wer er alles war, der diese Märchen schrieb, die plötzlich alle Welt verzückten.

Das hatte durchaus etwas Schizophrenes. Die Schizophrenie eines Menschen, der sich immerzu selbst betrachtet, und die Regungen des Selbst, die der Spie­gel zurückwirft, prüft, was da­von zur Veräußerung verwertbar sein könnte und was davon eben auch nicht. Und da gab es eini­ges. In Tagebüchern, aus Fremd­zeug­nissen schält sich immer wieder auch der an­dere An­dersen he­r­aus: das Selbst­be­zo­gene, Au­tistische, Dün­kel­hafte sei­nes Wesens. An­der­sens Ego war raum­greifend, „zu zweit ist er nie­mals ge­we­sen“ (H. Knef). Für die, denen er ge­wisser­ma­ßen nicht be­geg­nete, war der Um­gang mit ihm nicht immer leicht. Es heißt, Char­les Dickens habe, nach­dem An­dersen vier Wo­chen bei ihm und seiner Familie verbracht hatte, ein Zet­tel an das Schlüssel­brett ge­heftet, auf den mit roter Schrift ge­schrie­ben stand: Hans Christian An­der­sen weilte hier, für vier Wo­chen, uns kam es vor wie eine halbe Ewigkeit!

Ungelebtes Leben oder das Leben einer Idee

Tatsächlich enthielt das Leben sich Andersen vor. Er war ein Sonderling, ein Außen­seiter: ein Freak, den die Zeit duldete, da er Künstler war, der um die Freak-Anteile in sich wusste, diese auch kultivierte – dessen Raum aber, wie einst der eines Hofnarren, von der Etikette, dem Status oder der Tradition be­grenzt wurde. Andersen aber, der Heimat- und Familienlose, begehrte den gan­zen Raum, von dem er glaubte, dass alle ihn teilten außer ihm. Wenn die Welt ihn nicht duzte, wenn Edvard, der Sohn seines großen Förderers Jonas Collin, den er von Herzen liebte, dessen Bruder zu sein er sich wie sonst kaum etwas wünschte, ihn nicht duzte – dann war das, als risse das Seil, das ihn mit den anderen verband. Und bös war es schon, „wenn sich um einen die Seile lockerten und der Mensch ein Stück tiefer sank als die andern in den leeren Raum, gräßlich aber war es, wenn die Seile um einen rissen und der Mensch fiel. (F. Kafka)“ Und Andersen fiel. Auch, wenn das Seil vielleicht gar nicht immer gerissen war; schon ein bisschen zu wenig der Anerkennung, ein bisschen zu wenig der Liebe genügte, dass er empfand, dass er fiele. Er verbrannte sich vor seinem Publikum, aber dessen Applaus konnte nie ausreichend sein. Und die Anerkennung nie die richtige. Andersen litt daran, nicht für seine Dramen, die Romane, sondern für seine Märchen bewundert zu werden, verzweifelte, dass die Deutschen, nicht die Dänen ihn ho­fier­ten (die erst viel später); wie Pulcinella in einer seiner Erzählungen, bei dem das Publikum schon jubelte, wenn es ihn nur sah, so lustig, so eigenartig sah dieser aus – dabei erfüllte doch das Große und das Heroische dessen Seele! Niemand aber nahm es war.

Dazu kam: er war von Selbstzweifeln geplagt. Ängste peinigten ihn, Alpträume, der eigene Körper, seine Sexualität. Er liebte Männer wie Frauen, wenn sie fern blieben. Alltägliches erlebte er aus zweiter Hand, er berührte es kaum. Andersen blieb Beobachter auch hier. Er wusste, dass es eine Erfahrungswelt hinter seiner Phantasie gab, der er sich nicht überbrücken konnte. Der Mut, unaufgefordert in Salons zu platzen und Gedichte vorzutragen, selbst ersonnene, sie zu singen, sie zu stampfen und zu schnaufen, fehlte ihm nicht. Den Mut aber, sich wirklich zu befreien und all die tatsächlichen, imaginierten und selbst aufgestellten Spiegel zu zerbrechen, brachte er nicht auf.

Stattdessen ersonn er ein weiteres Märchen. Es hieß: von der Unschuld. Die Un­schuld wurde ihm zur Religion. Sich vom Schmutz des Lebens fernzuhalten, stili­sierte er zur Voraussetzung, um schreiben zu können. Er sah die Welt mit den Augen eines Kindes. Wie das Mädchen, das ihre Füße mit den roten Schuhen ab­hacken lässt, in denen es den Konventionen der Welt davon und in ihr eigenes Herz hin­ein­tanzte, um einzugehen ins Himmelreich der Reinheit, erlegt sich Andersen auch dies Exzerzitium auf: unberührt zu bleiben. Er verzichtet he­roisch. Und bleibt so Kind im Gemüt. Und muss so nicht erwachsen werden. Zumindest sieht es danach aus. Zumindest erzählt er es so.

Zwischenweltliches Versteckspiel: Das bin ich! Wer bin ich?

In der Literatur hingegen kann er jeder, kann er viele und alles auf einmal sein. Seine Gegenwart in den Märchen ist stets spürbar, er verlängert sich in sie hinein, die Welt und sich überwindend. Indem er sich im Schreiben und Vorlesen erspürt und doch auch versteckt. Er will erkannt sein und doch fürchtet er nichts mehr als das. Es ist wie ein stummer Schrei. Wie die Kleine Seejungfrau, die un­glücklich liebt. Die liebt, wie die Liebe geliebt werden muss, ihr Schicksal her­aus schreien will, dass der Prinz, dass die Welt doch erkenne, was sie bereit war, für ihn zu geben: ihre Schwanzflosse, ihre Stimme, schließlich ihr Leben – und doch eben keine Stimme dazu hat. Auch hier: Erlösung findet sie erst im Himmelreich.

Im „Schatten“ nun wird die Camouflage, werden die Selbstaufspaltungen zum Thema selbst. Er ist der phantastische Entwurf einer Selbsterprobung und -begegnung. Die Reise, auf die der Schatten den Gelehrten mitnimmt, ist eine Reise in die unendlichen Möglichkeiten der Frage: wer bin ich? Dass am Ende der Reise dem Gelehrten all seine Kraft und schließlich auch das Leben genommen wird, ist wiederum andersenhaft-typisch: mit dem Gelehrten verschwindet das Gute unerkannt aus der Welt. Am Ende des Kreuzwegs des Guten steht ein er­bärm­licher, unwürdiger Tod. Und zugleich ein sensationelles Requiem. Die Welt hat das Gute an sich und in sich unachtsam preisgegeben. Nun muss sie umso mehr danach streben.
Das aber ist ferne Zukunftsmusik. Der weiße Schwan ist tot. Der schwarze Schwan, sein Doppelgänger, lebt. Er triumphiert! Und erschließt so auch dem Ge­lehrten ein anderes, rauschhaftes, alles besitzendes, allmächtiges Leben. Und sei es nur in der Literatur: Auch das Nachleben, das seine Schatten bewirken, ist also gesichert. Auch Andersen lebt fort. So wie die ab­gehackten Füße mit den roten Schuhen noch immer fort tanzen, so wie Andersen, der den Traum, das Märchen Andersen leben wollte und gerade des­halb den Alptraum, das Gruselmärchen Andersen nicht loswurde, werden wir Andersen auch in uns nicht los.
Denn die Traurigkeit über die Abwesenheit des Lebendigen, die Angst, von den Menschen, von der Liebe unerkannt zu bleiben, aber auch die an­spruchsvolle Maßlosigkeit des Ich! Ich! Ich! kennen nicht nur Künstler – auch wenn ihr Verhältnis zum Leben oft besonders unheilvoll gerät. Und damit, je nach Blickwinkel: glücklicher- oder tragischerweise für die Kunst produktiver.


Benjamin von Blomberg