Zwischen Elite, Kunst und Quote

Ein Essay von Joachim Lux In leicht gekürzter Form zuerst veröffentlicht in "Theaterheute" März 2010

„Der Demos“, sagt der renommierte Soziologe Herfried Münkler, „ist aus einem Politikpartizipanten in einen staunenden Fernsehzuschauer verwandelt worden.“ In ein für Populismus jedweder Art anfälliges Stimmvieh. Aus dem Volk ist eine Masse geworden, die sich lobbyistisch für Partikularinteressen zusammenfindet, ohne noch über ein Gemeinsames zu verfügen. So entsteht gewissermaßen ein neuer Tribalismus, ein Tribalismus der Gleichgesinnten mit einer Oligarchie von Stammesfürsten. Das ehemalige Ganze zerfliegt in seine Teile und begünstigt so die Herrschaft abstrakter globaler Größen – so in etwa.
Was heißt das aufs Theater bezogen? Tatsache ist zunächst einmal: Der Demos und der aus ihm abgeleitete Staat bezahlt das Theater, stützt es mit Subventionen, obwohl es nicht den Interessen des gesamten Volks, sondern nur denen einer Sondergemeinschaft entspricht. Spricht irgendetwas für diesen empörend anmutenden Befund? Gibt es Reformbedarf?
Ein kurzer Blick zurück: Das Stadttheater (aber nicht jedwedes Theater) ist schon von seiner Genese her eine partikulare Angelegenheit, nämlich eine der bourgeoisen Klasse. Sie hat es erfunden, sie wollte eine erste Form der Öffentlichkeit schaffen, einen öffentlichen Akt der Selbstvergewisserung der eigenen gesellschaftlichen Schicht, verbunden mit der Hoffnung, dass diese ästhetischen und inhaltlichen Maximen auf die Nation übertragbar sein könnten. In diesem Sinne hat z. B. Lessing, unterstützt von finanzkräftigen Bürgern, in Hamburg sein Nationaltheater begründet und andere folgten, ohne je nationalistisch zu sein. Der Begriff meinte die Nation als Vereinigung all ihrer Glieder. Heute noch gibt es in Hamburg ein „Deutsches Schauspielhaus“, in Berlin ein (von Künstlern (!) begründetes) „Deutsches Theater“ und in Österreich wurde im Rahmen der josephinischen Aufklärung (also von oben) ein Theater begründet, das fortan nur noch „teutsche“ Sing- und später Schauspiele anstatt italienischen Schund aufführen wollte. Das ist der Ursprung des Burgtheaters, seiner Zweckbestimmung und seinem Anspruch nach bis heute „Nationaltheater“.


Theater, ein Sonderinteressenfall
Zu bestimmten (und durchaus unterschiedlichen) historischen Zeitpunkten waren dies in positivem Sinne revolutionäre Prozesse, sie gaben sich ihrer Intention nach der Illusion hin, man könne in der Kulturöffentlichkeit den Sprung vom Bourgeois zum Citoyen, zum „Deutschen“ schaffen. Natürlich aber verbarg sich dahinter in Wahrheit der enthusiastische Hegemonialanspruch der bürgerlichen Klasse, die ihre Ethik und Ästhetik allgemeinverbindlich machen wollte. Also lebten neben diesen neuen Tendenzen subversive Volkstheatermomente fort, auch die billige, flache Unterhaltung, schließlich wurden so genannte „Volkstheater“ und „Volksbühnen“ begründet, die ähnlich bauernschlau wie das Bürgertum die Partikularinteressen einer kleinbürgerlich sozialdemokratischen Schicht als Interessen des großen ganzen Volkskörpers auslobten. Man könnte den soziologisch motivierten Streifzug durch die Theatergeschichte fortsetzen, vom erstmaligen Auftreten des Bürgers auf der Bühne sprechen, der den Adel anklagt („Emilia Galotti“, „Kabale und Liebe“), von der öffentlich dargestellten Misshandlung des kleinen Mannes durch den Bourgeois („Woyzeck“), von Max Reinhardts Entdeckung der Masse als Kategorie sowohl auf der Bühne (mit 2000 Mitwirkenden) als auch im Publikum (für 5000 Zuschauer), von Brechts sprachlichem Retrolook mit volkstümlichen Kalendersprüchen und Bibelluthersprache, von materialistischen Ästhetiken, die die vierte Wand durchbrechen, um den Diskurs mit der Realität (des Publikums) zu suchen, von idealistischen Ästhetiken, die die Autonomie des Kunstwerks gegen den Schmutz der Wirklichkeit behaupten etc. Unterm Strich also war das Theater in Deutschland seit der Aufklärung immer ein Institut von schichtspezifischen Sonderinteressen – mit zwei, drei Ausnahmephasen, in denen das Große Ganze über die Partikularinteressen obsiegte. Hierzu muss man nicht tief in die Historie hinabsteigen, es reicht ein Blick in die jüngere Nachkriegsgegenwart: Im Westen hatte das Theater in den 50er Jahren tatsächlich die Funktion, einer geschundenen Nation der Täter Orientierung zu geben. In den 60erJahren war es tatsächlich Kristallisationspunkt einer revoltierenden Öffentlichkeit. Und im Osten war es in der Dekade vor dem Mauerfall tatsächlich eine Ersatzöffentlichkeit mit einem von allen lesbaren Geheimcode…
Und nun ist da das arme, alte „Stadttheater heute“ mit seinem Wissen, dass es bourgeois ist und seinem Wunsch, den Citoyen, also die Stadtgemeinschaft als Ganzes zu erreichen. Denn es will öffentlich wahrnehmbare Relevanz behaupten, aber sehr ungern nur „Kulturversorger“ für die unterfränkische Metropolregion sein, sondern vielleicht auch Kunstproduzent – ein weiterer heikler Punkt…
Und das Schlimmste: Der böse Bildungsbürger, gegen den man immer so lustig kämpfen konnte, es gibt ihn fast nicht mehr. Teils hat das Theater ihn vertrieben, vor allem aber hat er sich selbst freiwillig in Luft aufgelöst, ist gar nicht mehr der Meinung, man müsse unbedingt „Faust“ oder „Mutter Courage“ gesehen haben, sondern eher den neusten Tatort mit einer figürlich ingeniösen Newcomerkommissarin. Abgelöst worden ist er durch den curricular verordneten „Räuber“-Besuch lärmender Schülerhorden, die sich gegen den Gottvater des Zentralabiturs nicht wehren können. Der Intendant dankt die Zuschauerbilanzen lesend dem Zentralabitur für die Steigerung der Einnahmen, während die türkischen Putzfrauen am nächsten Morgen die Kaugummis unter den Sitzen entfernen– na Prost Mahlzeit! Zwischenbilanz: Abschaffen!


Die Subvention, der antipopulistische Schutzwall
Doch die Gegenargumente gegen kurzschlüssige Kulturfeindlichkeit liefert die Wirklichkeit selbst: In Hamburg hat ein Wirtschaftswissenschaftler unlängst vorgeschlagen, man solle seitens der Stadt Hamburg an die Bevölkerung unentgeltliche Gutscheine austeilen, die zum Besuch der Theater berechtigen. So würden diejenigen Theater gefördert, nach denen die größte Nachfrage besteht – eine besonders bauernschlaue Kombination von Markt und Subvention.
Ich habe ziemlich polemisch darauf reagiert, denn hier wird die Kultur unter dem Deckmantel von „Mehr Demokratie wagen“ den Gesetzen des Marktes ausgeliefert. Denn die Subvention errichtet einen antipopulistischen „Schutzwall“, ausnahmsweise nicht über der Finanzindustrie, sondern über Dingen, die es schwer haben: über Musik, Literatur, Theater und anderem mehr. Und über Dingen, von denen ein einstmals gefundener gesellschaftlicher Konsens behauptet, dass sie als Organe ästhetischer und ethischer Bildung des Menschen wertvoll sind. Deshalb sind Theater kein Markt wie jeder andere. Und auch Bibliotheken, Kindergärten, Straßen und Schwimmbäder – also der gesamte Komplex öffentlicher Leistungen – sind keine Märkte wie die anderen. Der alles entscheidende Unterschied: Die Referenz des Theaters ist nicht die Nachfrage nach Gütern, sondern das Angebot von Gütern. Diese ökonomische und ethische Definition findet ihr Analogon im guten alten Grundgesetz und damit in der gesellschaftlichen Verfasstheit der Bundesrepublik Deutschland. Man ist nicht schlecht beraten, wenn man sich hieran orientiert anstatt an windigen Reformvorschlägen. Aus diesem Geiste nämlich leiten sich die öffentlichen Leistungen jedweder Art, also auch das deutsche Theater- und Kultursubventionssystem ab. Dieser Geist aber ist nicht der einer direkten Demokratie, sondern einer repräsentativen Demokratie. Das Grundgesetz hat, nach einem zuviel an direkter Demokratie in Weimar, die Gefahren des Populismus wahrgenommen und ausgebremst. Wodurch? Pointiert formuliert: durch die Einführung bestimmter obrigkeitsstaatlicher Elemente, zu denen auf ökonomischer Seite auch das Subventionswesen gehört. Verschärft wird dieser obrigkeitsstaatliche Aspekt zusätzlich dadurch, dass über das Grundgesetz vom Volk bekanntermaßen noch nie abgestimmt worden ist, und es außer bei der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten auch nie ein größeres Bedürfnis danach gab. Das Grundgesetz, das aus diesem Grunde ja auch nicht als Verfassung bezeichnet werden kann, bricht den direkten politischen Volkswillen mehrfach, er kann nicht unmittelbar Wirklichkeit werden. Zu starker Personenkult, der Sieg dumpfbackiger Augenblicksstimmungen etc. ist daher nicht unmittelbar möglich. Die Sicherheitsmaßnahmen unseres Systems vertrauen dem Demos, verhindern aber, dass die vox populi politisch ungebremst bleibt, sie vertrauen dem Markt, binden ihn aber an soziale Grundsätze zurück, sie sind ethisch liberal, aber nicht haltungslos. So wird jeder ins Netz zurück gezogen. Was passiert, wenn sich bestimmte Schichten, z.B. Eliten, zu sehr von der Gesamtgesellschaft lösen können, haben wir in der Finanzkrise gerade erlebt: Sie treiben die Gesellschaft in den Ruin.


Der Nachfrage-Faktor
Die Grundidee für die vielen kommunalen und staatlichen Theater ist ähnlich und sucht zu Elitäres wie zu Populistisches gleichermaßen zu verhindern: Nicht die Nachfrage bestimmt das Angebot, sondern das Angebot sucht nach Nachfrage. Platt gesagt: Direkte Demokratie führt zu „König der Löwen“, repräsentative Demokratie ebnet den Weg zu Goethes „Faust“ oder zur Aufführung eines begabten Nachwuchsautors. Denn die staatlichen Zuwendungen erfolgen dem Sinn nach genau nicht, um das ohnehin Marktgängige zu fördern, sondern um die sogenannte Hochkultur zu stützen, aber auch um das Randständige, Experimentelle und Seltsame, das Avantgardistische und Neuartige überhaupt zu ermöglichen. Trotzdem hat man einen gewissen nachfrageorientierten Marktanteil in das System eingebaut, um zu vermeiden, daß irgendwelche durchgeknallten Künstler völlig am Publikum vorbei agieren. Dieser Anteil ist unterschiedlich hoch, am Thalia Theater in Hamburg ist er mit Abstand am höchsten, nämlich um die 27% und soll unverhohlen darauf hinweisen, dass Theater ohne Publikum so ähnlich ist wie Sex ohne Partner.
Auf vielen Theatern lastet dieser Druck, der durch die allerorten grassierenden Subventionskürzungen noch erhöht wird. Dies führt entweder zu Preiserhöhungen, die den neben dem kulturellen zweiten wesentlichen Auftrag des Theaters, nämlich seinen sozialen, tendenziell aushebeln, oder es führt zu einer Anpassung des Programms ans Populäre, was im Übermaß wiederum dem Kulturauftrag widerspricht. Im schlimmsten Fall passiert beides. Der zufällige Blick in den Monatsleporello eines deutschen Schauspielhauses, an dem über Jahrzehnte das beste Theater Deutschlands gemacht wurde, zeigt, wozu das mittlerweile führt: Im Februar gab es in dieser namenlos bleiben sollenden Stadt im Großen Haus ein Phantasiemärchen, ein gerade landauf-landab gespieltes US-Familienmelodram, einen Abend über die erste und berühmteste Popband der Welt, das Weihnachtsmärchen, ein französisches Ehe-Boulevardstück und die Dramatisierung eines Zwanziger Jahre Unterhaltungsromans. Andernorts sieht es ähnlich aus, man sollte also nicht die Nase rümpfen. Tun aber die lieben Freunde von der Kritikerfront trotzdem. Und auch nicht nur zu Unrecht. Denn sie spüren natürlich, dass es hier längst kein organischer künstlerischer Stilwillen ist, der offensiv volkstümliches Theater behaupten will, sondern erzwungener Opportunismus gegenüber den Verhältnissen. Das ist bitter, denn gerade sogenannte Risikopositionen bringen manchmal den künstlerischen Erfolg – man kann sie sich nur kaum mehr leisten. Auf der einen Seite steht also der Zwang zum Populären, auf der anderen der Kunstanspruch. Wie bei Schopenhauers Stachelschweinen geht es also um eine subventionierte Äquidistanz: Kunst und Publikum sollen sich aneinander wärmen, aber auch so, dass man sich nicht zu nahe kommen muss. Sonst sticht es.


Gesucht: Die Agora
Immer wieder versucht das Theater beides, das Populäre und das Künstlerische, zusammenzubekommen. In der Theatergeschichte waren das die griechischen Tragödienspiele, Figuren wie Shakespeare, Moliere oder Brecht, Regisseure wie Max Reinhardt, Jerome Savary oder auch Peter Zadek. Immer öfter muss ich in letzter Zeit an seine Träume und Erfolge mit einem modernen Volkstheater denken, an seine Aufführungen „Kleiner Mann, was nun“ oder „Ghetto“. Aber auch heute gibt es mit der Hereinholung des Pop, mit den Boulevardkomödien von Rene Pollesch u.a. ähnliche Tendenzen.
Das Theater muss vermutlich versuchen, sich viel mehr noch als Agora des jeweiligen städtischen Gemeinwesens zu positionieren, als Kulturzentrum seiner Bürger mit allem, was dazugehört. Von Kulturclubs über Diskussionsveranstaltungen und Partizipationsmöglichkeiten. Wir am Thalia Theater haben letzteres gemacht, indem wir an einem Abend symbolisch die Bühne an diejenigen zurückgegeben haben, denen sie gehört: an die Bürger. Jeder konnte drei Minuten lang Hamlets berühmten Monolog „Sein oder Nichtsein“ als Lied, Gedicht, Pantomime, Strip, auf Plattdeutsch, chinesisch oder englisch präsentieren. Die Leute waren begeistert, nur die Presse nicht, die eine Inszenierung erwartete und nicht den sich selbst überlassenen Fluss von witzigen, schrägen, peinlichen und begabten Darbietungen. Sie hat Kunst erwartet und nicht bekommen, das Rezensentenauge war beleidigt. Zurecht? Ich weiß es nicht. Wir müssen einen Weg finden, denn natürlich hat Herfried Münkler recht: die Partizipation von allen an allem tötet Demokratie: Das geht von den nachmittäglichen „Warum ich mich von meinem Mann so gerne schlagen lasse“- Sendungen bis zum Internet, das – ursprünglich mal mit Hoffnungen auf Demokratisierung qua Partizipation belegt – in ein Medium hirnverblödeten Gequassels zu verkommen droht. Die sogenannten Communities: ein anonymer Marktplatz, wo jeder jeden beleidigen, bashen und mobben kann, ohne für sein Geschreibsel einstehen zu müssen… Das ist ein extrem weites Feld und hängt auch mit der Frage zusammen, was und ob etwas kosten darf. Während im Internet immer mehr dazu übergehen, ihre Internetportale kostenpflichtig zu machen, plädieren im Theater manche für kostenlosen Eintritt? Wieso eigentlich? Warum soll Arbeit nichts kosten? Warum soll eine Dienstleistung umsonst sein? Qualität kostet und muss auch kosten. Das gilt für Printmedien, aber z.B. auch für die Musikbranche. Mittlerweile kann sich fast jeder alles herunterladen mit der Folge, dass die kreativen Teile der Musikbranche am Abgrund taumeln. Der hemmungslose Sieg der Konsumenten frisst diejenigen auf, die die Konsumartikel herstellen. Zeitungsredaktionen werden verkleinert und schlechter, und die „User“ übernehmen die Macht. Vermeintliche Demokratie als Konkurs der Qualität. Denn um die geht es auch! Um Qualität, um Kunst, auch um Elite, im Sinne einer ästhetisch differenzierten Formulierung, die nicht zum Gratispreis in jedes Hirn passt. Ich bin – dies mal in Richtung Leipzig – der Überzeugung, dass die Abschaffung der Theaterpreise und die Maxime „Freier Eintritt für alle“ den Demos n i c h t ins Theater treibt. Das ist eine Chimäre, jede Fußballkarte kostet mehr.
In Wahrheit sind es doch immer wieder unsere Ästhetiken, unsere Erzählweisen, die Leute schrecken, weil sie sie nicht verstehen. Das wäre die wahre Debatte – eine Diskussion, die übrigens auf hohem Niveau schon einmal geführt worden und unter dem Stichwort „Expressionismusdebatte“ bekannt geworden ist: Avantgarde mit avancierten Ästhetiken versus „Volkstümlichkeit“. Wir haben in diesen Tagen am Thalia Theater einen Test auf all diese Mutmaßungen, die das Theater irgendwo zwischen Kunst, Quote und Elite verankern, durchgeführt und im Rahmen unseres Festivals „Um alles in der Welt – Lessingtage 2010“ gefragt: „Was ist Kultur uns wert?“ – ein Versuch, das Verhältnis von Preis und Kulturleistung an unsere Kunden, das Theaterpublikum, zurückzubinden und das Ergebnis in einem Publikumsgipfel zu diskutieren. Die Idee: jeder zahlt soviel er will, zwischen 0 € und ad libitum. Der Arme, der Schnorrer und der Schnupperer kriegen also für 0 € auch noch eine im Preis enthaltene Nahverkehrskarte obendrauf. Die Erfahrungen in Kürze: Schnorrer gab es nicht. Die meisten orientierten sich an den sonst üblichen Preisen, einige zahlten mehr, wie z.B. eine Schulklasse, die per Gruppenrabatt normalerweise nur 5,50,- zahlen müsste, sich aber mit dem Solidarprinzip auseinandersetzend beschloss, erheblich mehr zu zahlen. Das Bewusstsein dafür, dass etwas etwas kosten darf und auch soll, ist also ganz gut entwickelt. Selbst die von uns veröffentlichte Tatsache, dass das Thalia Theater die mit Abstand höchsten Preise in Deutschland hat, hat das Publikum nicht geschockt, zumal es auf der anderen Seite ein großes Instrumentarium sozialer Preise bereithält. Alle waren am Schluss zufrieden: Das Theater über die Einnahmen, die sogar höher lagen als sonst im Schnitt, und das Publikum, das bis spät in die Nacht diskutierte und über die basisdemokratische Preisbestimmung möglicherweise eine intensivere Bindung ans Theater erfuhr. Diese Erfahrung ist für das Theater sehr stabilisierend und entspricht letztlich den positiven Erfahrungen, die auch in der freien Wirtschaft mit Pricing-Modellen gemacht wurden. Aber es gab auch eine andere bedenkenswerte Erfahrung: Von knapp 1000 verfügbaren Plätzen blieben ca. 250 leer. Es bestand in der Zufallssituation dieses Abends keine ausreichende Nachfrage nach dem Klassiker „Nathan der Weise“ – auch nicht für Null-Euro. Es macht also weit mehr Sinn, Brot und Milch zu verschenken als Theater, auch das eine Erfahrung. Polemisch zugespitzt: möglicherweise haben sich an diesem Abend 250 Besucher entschieden, eine Komödie oder einen Liederabend in einem Boulevardtheater anzusehen und haben dafür leicht und locker 30 € oder mehr bezahlt… Das Theater bleibt also das Angebot für eine Partikulargesellschaft und nicht für die Gesellschaft als Ganze, die es dennoch finanziert. Und auch finanzieren muss: Denn die Besucher haben gut gezahlt, aber nur auf der Basis gleich bleibender Subvention. Müsste das Theater ohne Subventionen ausschließlich von Besuchern finanziert werden, gäbe es in Hamburg nicht mehr die Möglichkeit, einen Shakespeare, Moliere oder Lessing zu sehen. Damit sind wir wieder beim gesellschaftlichen Grundkonsens, der eben dies als „Wert“ behauptet. In Bezug auf das Thalia Theater kostet der Konsens die Bevölkerung pro Kopf 10 € jährlich, also eine Pizza oder 3 Cent pro Tag… Trotzdem bleibt die Schere, wie niedrig auch immer der Beitrag der Gesamtgesellschaft ist, zwischen Demos und einer an Kultur interessierten Partikulargesellschaft bestehen, - ja über die bevorstehende Subventionskürzung mit daraus folgenden Preiserhöhungen entlastet sich die Bevölkerung sogar zugunsten der Spezialgesellschaft kulturinteressierter Bürger.


Demokratie alter Schule
Man sieht: irgendeinen Tod müssen wir sterben. Die Geschichte künstlerischer Medien hat uns – bevor wir allzu viel Hoffnung in uns nähren – gelehrt, dass künstlerischer Anspruch und Volksnähe immer nur in seltenen Perioden zusammenzubekommen waren. Meist in Zeiten der Genese oder der Grunderneuerung der Gattung, wie in der Antike oder zu Shakespeares Zeiten. Das gilt für das Theater ebenso wie für den Film, der als Stummfilm wahre Volksklassiker hervorgebracht hat, selbst wenn auch dort schon früh die Trennung in den volkstümlichen Charlie Chaplin und den intellektuelleren Buster Keaton spürbar war. Selbst in der Kinderzeit des jüngsten Mediums, des Fernsehens, ist das zu beobachten gewesen: Am Anfang standen die gesamte Bevölkerung versammelnde Samstagabendshows und Krimistraßenfeger, heute haben wir unzählige Spezialkanäle. Stets also folgte die Ausdifferenzierung.
Ich glaube dennoch an die Zukunft des Mediums Theater, glaube nicht, dass es ein Dinosaurier ist, der von der Diversifizierung unserer gesellschaftlichen Realität zermalmt wird – jedenfalls wenn es sich in den zentralen gesellschaftlichen Fragen der Gegenwart positioniert und einmischt. Es wird sich mit der rasenden Veränderung unserer Gesellschaften verändern, andere Ethnien aufnehmen, die demographische Entwicklung berücksichtigen, dem Bedürfnis nach kultureller Selbstvergewisserung folgen, die Sehnsucht nach künstlerischem Ausdruck und ästhetisch vermittelter Welterfahrung stillen und sich gegen die widerwärtigen Exzesse einer Demokratie wenden, in der die Maxime „Alles ist dadurch, dass es es gibt, berechtigt und also gut.“ zu einer vorherrschenden Realität geworden ist. Es wird weiter die vage Balance zwischen Elite und Publikumsnähe suchen: zwischen einer ausdifferenzierten kleinen Bevölkerungsgruppe, die ein Vergnügen hat, sich mit den Codes künstlerischer Weltbeschreibung auseinanderzusetzen und der Nähe zum Citoyen, zum Stadt- und Staatsganzen – etwas anderes weiß ich nicht. Ich halte das für möglich. Und das ist ein hoher Anspruch. Wenn’s gelingt, ist das Demokratie alter Schule, und nicht Postdemokratie.


Joachim Lux